Treffen sich Digitalisierung und Gamification in einer Bar

2. Juni 2022

Gamification: »Du auch hier?«

Digitalisierung: »Ich bin so müde.«

Für alle, die sich in den letzten Jahren auch nur am Rande mit digitalen Technologien beschäftigt haben, besteht spätestens seit der Pandemie kein Mangel an Gelegenheiten, sich zu einem Vorgang zu äußern, in den weite Teile der Welt involviert sein sollen. Gemeint ist Digitalisierung. Was ist mit diesem Begriff gemeint, der so unterschiedliche Lebensbereiche wie Kultur, Bildung, oder auch Verwaltung berührt?

Ursprünglich bezeichnete Digitalisierung den Transfer von Inhalten von älteren analogen Medien in neuere digitale Formate. Im Verlauf des letzten Jahrzehnts hat der Begriff jedoch eine enorme Ausweitung erfahren, und meint nun nicht mehr nur die Übertragung von Medien, sondern die Transformation ganzer gesellschaftlicher Bereiche. »Analoge« Abläufe, Infrastrukturen und Prozesse sollen so verändert werden, dass sie »digital« werden, also von nun an möglichst unter Einbeziehung von vernetzten Computern stattfinden.

Warum? Zuweilen wird angeführt, dass Dinge »nach« der Digitalisierung effizienter, schneller, flexibler, partizipativer, spielerischer oder transparenter werden und insgesamt einfach besser laufen. In der Pandemie kam noch das reduzierte Infektionsrisiko dazu und die Möglichkeit, mit weniger Reisekosten (und den damit verbundenen Emissionen) verteilt auf der Welt zu interagieren.

Ich vermute aber, dass sich oftmals hinter dieser Vielfalt von (sich teilweise widersprechenden) Motivationen eigentlich eine andere, grundlegendere, Hoffnung verbirgt. Nämlich die Hoffnung, einer scheinbar unaufhaltsam auf uns zurollenden Transformation durch eine einzige, klar definierte Kraftanstrengung zu begegnen – bei der noch dazu alles beim Alten bleiben kann. Wenn wir nur diesen Schalter finden würden, mit dem wir die Digitalisierung in unserem Bereich aktivieren könnten, könnten wir das erhalten, was wir haben. Ich denke, wer von Digitalisierung spricht, äußert meist eine im Grunde konservative Weltsicht. Digitalisierung ist gerade keine »Innovation«, sondern die Hoffnung, dass uns Innovation verschont bleibt, wenn wir uns »korrekt« anpassen.

Als Game-Designer und Festivalmacher, der mit Spielen primär im Kunst- und Kulturbereich arbeitet, habe ich eine ähnliche Dynamik schon mal an anderer Stelle erlebt. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass anhand von Spielen oft Dinge verhandelt werden, die später noch einmal in allgemeinerer Form relevant werden.

So schwappte etwa zu Beginn der 2010er Jahre der Begriff »Gamification« aus den USA nach Deutschland. »Mach’ ein Spiel daraus« galt damals als innovative Lösung. Alles – vom Erste-Hilfe-Kurs bis zur Steuererklärung – sollte besser werden, wenn man nur Bonus-Punkte verdienen und von Level zu Level aufsteigen konnte.

Zwar wollte kein*e Spiele-Designer*in, der*die etwas auf sich hielt, etwas mit Gamification zu tun haben, und der Game-Designer und Spielforscher Ian Bogost hat mit seinem rant »Gamification is Bullshit« schon 2011 beschrieben, dass hinter Gamification oft pures Marketing steckt. Trotzdem fasste der Begriff auf deutschen Konferenzen und zuweilen sogar an Universitäten und im Kulturbetrieb Fuß.

Denn die Leute, die Gamification vertraten, interessierten sich trotz ihrer angeblichen Faszination für Games eigentlich nicht für Spielkultur. Vielmehr ging es um die oberflächliche Applikation von psychosozialen Techniken wie Belohnugssysteme und Wettbewerbslogiken, um existierende Prozesse zu optimieren. Die Hoffnung: Wenn sich dass, was wir ohnehin machen, wie ein Spiel anfühlen würde, müssten wir uns nicht mehr Fragen, ob das, was wir tun, das richtige ist.

Gamification und Digitalisierung gehen also von einem ähnlichen Unbehagen aus – dass wir nicht mehr zeitgemäß sind, und etwas tun müssen, um wieder aktuell zu erscheinen. Und dass wir dieses Problem lösen können, indem wir unsere als veraltet erlebte Logik in eine neue – die des Spiels, oder die des Digitalen – übersetzen können. Das Problem ist nur, das sowohl das Spiel, als auch digitale Technologie eigene Logiken, Traditionen, Zwänge und Erfahrungsmodi mitbringen, die sich einer solchen Übersetzung verweigern.

Was aber ist die Alternative? Wie soll es mit »der Kultur« weitergehen, wenn sie auf »Digitalisierung« verzichten würde? Und wie können wir hier von spielerischen Formen im Kulturbetrieb lernen, die – statt dem Versprechen von Gamification zu folgen – aus einem genuinen Interesse an Spiel entstehen?

Hier sind zumindest ein paar Vorschläge:

1. Kunst statt Technik. Den Einsatz von digitaler Technologie im Kulturbereich zu gestalten, ist keine technische, sondern eine künstlerisch-kreative Herausforderung.

2. Nicht einmal, sondern fortlaufend. Statt von einem einmaligen Digitalisieriungs-Vorgang auszugehen, sollten wir uns daran gewöhnen, dass sich digitale Technologien und die damit assoziierten Nutzungsgewohnheiten permanent verändern, und – genau wie nicht-digitale Verfahren, Techniken und Praktiken – fortlaufender Pflege, Befragung und Weiterentwicklung bedürfen. Die Arbeit mit digitaler Technologie ist ein langfristiges Vorhaben und eine fortlaufende, explorative Bewegung. Genau gleich verhält es sich mit spielerischen oder partizipativen Ansätzen und Kulturinstitutionen. Wir sollten aufhören davon auszugehen, dass man hier mit einmaligen Projekten etwas erreichen kann.

3. Kein Ersatz, sondern Addition. Wenn wir in der Kultur mit digitaler Technologie arbeiten wollen, sollten uns für das genuin »neue« an digitalen Technologien interessieren. Statt uns nur dafür zu interessieren, wie existierende Vorgänge digitalisiert werden können, sollten wir sensibel dafür werden, an welchen Stellen digitale Technologie spezifisch neue Erfahrungen hervorrufen und Möglichkeiten eröffnen kann – gerade auch jenseits von Bildschirmen. Die Einbeziehung von digitaler Technologie ist kein Ersatz, sondern eine Addition. Das heißt aber auch: Prozesse werden nicht einfacher, wenn man digitale Technik ins Spiel bringt.

4. Nichts ist automatisch inklusive. Wir sollten aufhören anzunehmen, dass der Einsatz von digitalen Mitteln automatische zu bestimmten Effekten führt. Weder digitale Technik noch spielerische Formate erklären sich «von selbst« und brauchen keine Vermittlung. Partizipation entsteht nicht automatisch, wenn eine Chat-Funktion im Live-Stream aktiviert wird. Stattdessen sollten wir uns fragen, was wir genau wollen, wenn wir von Digitalisierung sprechen. Geht es darum, etwas aus der Ferne mitzuverfolgen? Oder geht es um mehr Spiel, Interaktion oder Partizipation?

5. Den Wert von neuen, unbekannte Konstellationen erkennen. Statt von einer Übertragung von »analog« in »digital« auszugehen, sollten wir uns die Zeit nehmen, um auszuprobieren, was wir mit neuen Kombinationen aus verschiedenen »analogen« und »digitalen« Mitteln machen können. Wie sich neue Kombinationen aus alten und neuen Medien auswirken und anfühlen, lässt sich aber nicht vorhersehen. Wie auch? Genau wie bei der Entwicklung von neuen Spielen bedarf es eines experimentellen Vorgehens – mit Raum zum Scheitern, Mut zur Einbeziehung von Test-Nutzenden, Bereitschaft den Kurs zu wechseln und Offenheit für Überraschungen.

Schon klar, all diese Vorschläge sind nicht einfach umzusetzen. Aber ich persönlich freue mich schon darauf, wenn Digitalisierung nicht mehr in aller Munde ist, und wir sie gemeinsam mit Gamification in ihrer Bar einschlafen lassen können. Vielleicht können wir dann ja mit der eigentlichen Arbeit beginnen.


Dieser Text basiert auf einem Impuls-Beitrag für die AG »Das (digitale) Publikum« – beim Bundesforum des Bündnisses für Freie Darstellende Künste, im September 2021.

Sebastian Quack arbeitet als Künstler, Game-Designer und Kurator an der Schnittstelle von Spiel, Partizipation und urbaner Politik. Er ist Direktor des Now Play This Festival für experimentelles Game-Design am Somerset House in London, ist Gründungsmitglied des Netzwerks Invisible Playground, leitet Trust in Play, European School of Urban Game Design, und ist Mitbegründer von Drift Club, einer Plattform für zufällige musikalische Spaziergänge. Im Projekt Offene Welten entwickelt er gemeinsam mit Museen Tools für digital unterstützte Erfahrungen im Stadtraum. Regelmäßig unterrichtet er Kunst und Design und berät Organisationen, die spielerisch mit der Welt um sie herum in Kontakt kommen wollen. Quack lebt und arbeitet in Berlin.

Transition: Etablierung einer nachhaltigen Transformationskultur durch Kollaboration

14. März 2022

Die Krisen der Gegenwart haben die strukturellen und inhaltlichen Defizite des Kultursektors bei der Bearbeitung der großen Transformationsbewegungen schonungslos offengelegt. Es wird immer spürbarer, dass Kulturinstitutionen zwar über ein enormes gesellschaftliches Innovationspotenzial verfügen, dieses aber kaum genutzt wird, da sich ihre Strukturen als erstaunlich wenig anpassungsfähig an komplexe gesellschaftliche Veränderungen erweisen. Kultureinrichtungen scheinen häufig willens, aber schlicht nicht fähig, in angemessener Form und Geschwindigkeit auf Herausforderungen zu reagieren, geschweige denn selbst zu Treiberinnen für Innovationen zu werden, um zukunftsfähig wie anschlussfähig zu bleiben.

Mit Blick auf den Diskurs der #neueRelevanz müssen wir uns als Kulturbetriebe fragen lassen, warum Künstler*innen durch die Mittel der künstlerischen Praxis permanent laborhaft agieren und die Suche nach Neuem ihr Handeln bestimmt, wohingegen der kulturelle Überbau – die Verwaltung und Ermöglichung der kreativen Arbeit – in Strukturen beharrt und nicht in der Lage ist, diese wertvolle Ressource für sich zu nutzen.

Die mutige und entschlossene Erneuerung interner Strukturen hin zu kollaborativen und ko-produzierenden Organisations- und Arbeitsformen ist aus unserer Sicht die notwendige Voraussetzung, Potenziale auf allen Seiten zu aktivieren und einen relevanten gesellschaftlichen Beitrag zu einer ernst gemeinten Kultur der Nachhaltigkeit und einem starken öffentlichen Gemeinwesen zu leisten.

Insbesondere eine kommunale Kulturverwaltung wie das Kulturforum Witten AöR verfügt in der Fläche über ein besonderes Potenzial: Sie ist Trägerin von öffentlichen Kultureinrichtungen wie dem Märkischen Museum, dem Stadtarchiv, der Bibliothek und der Musikschule, zugleich Organisatorin von multiplen Schnittstellenposition zwischen Kulturschaffenden, regionalen Institutionen und stadtgesellschaftlichen und -politischen Akteur*innen – gebündelt in der Funktion eines Kulturbüros – und Betreiberin der vielfältig bespielten Veranstaltungsstätten Saalbau und Haus Witten, die zunehmend für bürgerschaftliche Initiativen und lokale Künstler*innen geöffnet werden. An vielen Stellen gleichzeitig können hier Ökosysteme vitalisiert werden, die gesellschaftliche Innovation hervorbringen und damit flächendeckend einen Beitrag in Sachen Nachhaltigkeit, Digitalität und Diversität leisten.

An dieser Stelle möchten wir eine Zwischenbilanz insbesondere der Arbeitsfelder Nachhaltigkeit und Digitalität, der »Twin Transition«[1], die seit gut einem Jahr innerhalb unseres Betriebs als Querschnittsaufgaben bearbeitet werden, ziehen. Welchen Beitrag zum allgemeinen Diskurs der Relevanz von Kultureinrichtungen können wir anbieten?

Das »Wittener Modell«: Über Möglichkeitsräume gemeinsam Zukunftsfähigkeit (er)lernen

In Witten erproben wir seit 2019 wie Kollaboration als Organisationsform uns dabei helfen kann, innovationsfördernde Strukturen zu etablieren. Angelehnt an Mark Terkessidis’ Verständnis verstehen wir Kollaboration als eine breite Anschlussfähigkeit hinsichtlich einer sich permanent ändernden Umwelt.[2] Diese Anschlussfähigkeit gilt es als eigenständige Routine zu internalisieren. Als Handlungslogik ermöglicht Kollaboration neue Akteurskonstellationen und die Erschließung neuer Wissensbestände. Im Gegensatz zur Kooperation, die weiterhin auf Basis bestehender Routinen und Rollen funktioniert, können so völlig neue Handlungskontexte und Produktionslogiken entstehen. Sie befähigen uns, mit Blick auf Pluralität und Komplexität der VUKA-Welt[3] agil und responsiv gesellschaftliche Herausforderungen und Problemlagen zu adressieren und als transformative Kraft aktiv eine gemeinwohlorientierte Gesellschaft mitzugestalten.

Zukunftsfähigkeit evoziert den Gedanken »von vorne« zu denken. Weg von bestehenden Systemlogiken und Pfadabhängigkeiten hin zu Potenzialen und Möglichkeitsräumen. Die Kulturwissenschaftlerin und Nachhaltigkeitsforscherin Hildegard Kurt bezeichnet das als die Fähigkeit »von vorne auf das Jetzt zu blicken« und damit wieder zu lernen, die Zukunft zu gestalten.[4] Dies erfordert allerdings einen »system reset« und wir als Kulturorganisationen müssen uns fragen, wie wir mit Blick auf die beschriebenen Herausforderungen unser System Kultur von der Zukunft her im Jetzt gestalten wollen und welchen aktiven Beitrag wir für die Gesellschaft leisten. Gerade weil Kultur ihre Kraft insbesondere vor Ort entfaltet, wird die große Frage insbesondere kommunal geprägter Strukturen sein, wie wir die Kulturakteur*innen in der Fläche befähigen von der Zukunft her zu denken und sowohl ihre Arbeit als auch ihre Organisationen dahingehend auszurichten.

Veränderung im organisationalen Handeln am Beispiel des Kultursommers

Kollaborative Arbeitskontexte ermöglichen dabei den Mitarbeiter*innen im Betrieb projektbasiert abseits der bestehenden Routinen, Hierarchien und Pfadabhängigkeiten ihre Expertisen und Leidenschaften in offenen Denkprozessen einzubringen und so neue Herangehensweisen und Denkmuster zu erproben. Diese experimentellen Suchbewegungen im Sinne eines Open-Innovation-Ansatzes erlauben Innovation im Kleinen. Entscheidende Gelingensbedingung ist hierbei die Etablierung ambidextrischer Beibootstrukturen[5]. Konkrete Erfahrungen konnten wir im Frühjahr und Sommer 2021 sammeln. Mithilfe einer szenografischen Intervention auf dem Saalbau-Vorplatz (»Saalbau_Neubau«) haben wir einen Ort geschaffen, der so vieles gleichzeitig sein konnte: Verweilort, Multifunktionsspielfläche und Plattform für Bürger*innen, die als Mitdenkende, Experimentierende und Beratende ernst genommen wurden. Der Saalbau wurde so mit beschränkten Mitteln temporär zu einem Gemeinschaftsort – ganz im Sinne der »urban commons« – der nun die langfristige und nachhaltige Transformation des Ortes erst möglich machte.

Im Verlauf des Kultursommers entstanden Pop-up-Ausstellungen in offenen Containern mit Schulklassen, Präsentationen des Stadtarchivs und des Kulturbüros bis hin zu Workshops mit Kindern und Jugendlichen, Urbane Produktionen, theaterpädaogische Formate und Tangotanz. In nur vier Wochen wurde mit dem Kultursommer Witten von und mit rund 150 Akteur*innen ein Open-Air-Festival geplant und umgesetzt, dass Bewohner*innen eine analoge Form der Teilhabe ermöglichte und gleichzeitig Künstler*innen endlich die Möglichkeit gab, ihre Leidenschaft wieder analog zu präsentieren.

Im Sommer 2021 konnten wir (endlich) Geschwindigkeit aufnehmen und zugleich der Selbstbehauptung Taten folgen lassen. Diese nun für alle sichtbaren Ergebnisse – im Sinne eines Prototypings – sind für uns das entscheidende Argument, die Kultur (und mit ihr das künstlerische Denken, die künstlerische Methode) als wichtige Nachhaltigkeitsdimension ernst zu nehmen. Als konkrete Maßnahme, die aus dem Team heraus entwickelt wurde, diente das Labor »Kultursommer« und die damit verbundene Öffnung, den Vorplatz als Ort inklusiver zu denken – nicht zuletzt unter dem Aspekt der sozialen Nachhaltigkeit – und half dabei, uns vom konkreten Beispiel aus von außen nach »innen« vorzuarbeiten.

Möglichkeitsraum 1: Digitallabor als Ort der Verhandlung von Digitalität

Möglich geworden durch eine beträchtliche Anschubfinanzierung zweier Förderungen (Beisheim Stiftung[6] und Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen) entstand im Herbst 2021 im Innern des Saalbaus ein Digitallabor mit integriertem Content-Studio. Die zunächst dringend benötigten technischen Anschaffungen wurden von vornherein nach nachhaltigen Kriterien modular geplant und beschafft und stehen künftig zur selbständigen Nutzung und möglichst betreuungsarm den Mitarbeitenden ebenso wie Ko-Produzierenden (der Stadtgesellschaft, der freien Szene etc.) zur Verfügung. Flankiert wird die Einrichtung von einem umfangreichen Capacity Building für alle Beteiligten, gesteuert und moderiert durch die Personalstelle für Digitale Transformation.

Das Digitallabor ist konkreter Ort des Lernens und Produzierens sowie zugleich Möglichkeitsraum – konzipiert als modular nutzbares Studio für Kulturakteur*innen in Zeiten der Digitalität. Ob für Kunst-Podcasts, den nächsten Livestream bei Twitch oder ein VR-Projekt im Stadtraum: mit Methoden der Kollaboration und Ko-Produktion entsteht hier erste neue Formatierungen für die Region und ihre Communities.

Unsere Mission trägt: Derzeit planen und entwickeln wir, möglich geworden durch das Förderprojekt »dive in« der Kulturstiftung des Bundes, unsere erste Spielzeit der zukünftigen Digitalen Sparte des Saalbaus. »Der Raum zwischen 0 und 1« lautet ihr Arbeitstitel und er ist sprechend: Kleinere und größere Hybridformate, die die Möglichkeiten und Visionen des Digitalen mit dem Potenzial des analogen Ortes unter künstlerischen Vorzeiten zusammenbringen, werden Wirklichkeit. Die Anpassungsfähigkeit an ihr Publikum und die permanente Wandlungsfähigkeit ist ihnen durch die Wahl der künstlerischen Mittel, den digitalen Medien, immanent.

Relevante Indikatoren für die Wirksamkeitsmessung des Digitallabors:

  • Investive Förderungen WLAN-Infrastruktur und digitale Ertüchtigung / Inklusion
  • Initiale Projektförderungen für stationäres und mobiles technisches Equipment Digitallabor und digitale Programmierung
  • Ergänzende Projektförderung für einführendes Capacity Building (10 Workshops für ca. 50 feste und freie Mitarbeitende) als Prototyp für ein fortlaufendes Learning & Development Programm
  • nachhaltige Qualifizierung von technischem Personal sowie Einrichtung und Besetzung einer neuen Ausbildungsstelle IT Systemadministrator (gemeinsam mit Stadt Witten)
  • Prototyping von 4 hybriden Formaten mit dem Ziel der Realisierung von insgesamt 32 einzelnen Veranstaltungen und Entwicklung von ca. 10 ko-produzierten Projekten
  • Inbetriebnahme eines »Studio to go« zur Nutzung durch die einzelnen Institute für Zwecke der kulturellen/digitalen Bildung
  • Betriebskonzept für die interne Nutzung und perspektivisch Öffnung für kollaborative Projekte und (teil-)kommerzielle Nutzung in Ergänzung zum Vermietgeschäft.

Möglichkeitsraum 2: Saalbau als Ort der sozial-ökologischen Transformation

Die sozial-ökologische Nachhaltigkeit braucht hingegen ein anderes Narrativ als die allgegenwärtige Projektlogik, die auch vor der digitalen Programmatik nicht Halt macht. Hier muss es gleichermaßen um eine strukturelle Verankerungung von Wissen und Prozessen in allen Instituten des Kulturforums gehen. Das Ziel muss sein, nachhaltiges Handeln in allen Instituten zum »neuen Normal« werden zu lassen und unsere internen wie externen Innovationspotenziale zu aktivieren.

Der beschriebene kollaborative Ansatz erlaubt genau das – den Aufbau resilienter Strukturen, die stabil, aber nicht statisch sind und es so allen Mitarbeiter*innen erlauben in ihrem eigenen Entscheidungsspielraum ökologisch nachhaltig zu agieren. Ganz im Sinne der Transformation muss die Umstellung auf einen ökologischen Betrieb als fundamentaler und vor allem dauerhafter Wandel verstanden werden und nicht als ein Projekt, dass für die nächsten ein bis fünf Jahre auf der Agenda steht und dann wieder verschwindet.

Rekurrierend auf das bereits erlernte Handlungswissen durch die digitale Transformation, die sich schon jetzt von Experiment und Protoyping in eine Phase der Verstetigung verschiebt, gehen wir auch die Querschnittsaufgabe Nachhaltigkeit kollaborativ an und wollen methodisch von den Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre profitieren.

Für die Umsetzung eines solchen Vorhabens braucht es einen gleichzeitig strukturierten sowie iterativen Prozess, der die gegebenen finanziellen und personellen Ressourcen berücksichtigt und gesamtheitlich rahmt.

Innerhalb dieses fortlaufenden strategischen Prozesses haben wir uns daher mit Blick auf eine breite Anschlussfähigkeit schon frühzeitig dazu entschieden, das Kulturforum nach der »obersten« Rahmung der Sustainable Development Goals (SDGs) der UN Charta 2030 auszurichten. Die Nachhaltigkeitsziele »hochwertige Bildung« (UN SDG 4), »nachhaltige Städte und Gemeinden« (UN SDG 11) und »Maßnahmen zum Klimaschutz« (UN DSG 13) bieten aus unserer Sicht den nötigen Freiraum und sind gleichzeitig konkret genug, als dass jede*r Mitarbeiter*in sie in das eigene Tun integrieren kann. Mit den Mitteln des Capacity Buildings wollen wir diese Transformation im ganzen Betrieb verankern und umsetzen.

Entscheidend für diese Umstrukturierung ist die Erhebung und das Verständnis von Daten, die im ersten Schritt den Status des Kulturforums in Bezug auf z.B. den Ausstoß von CO2 ermitteln. Diesen Weg sind wir schon im letzten Jahr gegangen und nehmen an dem Pilotprojekt des Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit teil, in dem die Klimabilanzierung speziell für Kulturbetriebe erprobt wird[7]. Es geht sowohl um die Umsetzung von kleinen Maßnahmen, wie der Einführung einer Gelben Tonne zur sachgerechten Mülltrennung, als auch den Wunsch einer energetischen Sanierung aller Gebäude des Kulturforums.

Einmal angeregt entstehen weitere Visionen, die die ökologische mit der kulturellen Perspektive der Nachhaltigkeit verschränken: Vom klimaresilienten Beet zum Stadtwald mit Aufenthaltsqualität, von der einzelnen Künstler*innen-Residenz zu der Skizzierung eines nachhaltigen Ökodorfs aus Tiny Häusern.

Relevante Projekte in Bezug auf die sozial-ökologische Nachhaltigkeit:

  • naturnahe Gestaltung der Beete auf dem Vorplatz vom Saalbau
  • Umgestaltung des Foyers im Saalbau mit deutlich mehr Pflanzen (Raumklima) und Erschließung neuer Räume als Club mit bereits vorhandenen Materialien
  • Neueinrichtung/Ausstattung von Räumen nach nachhaltigen Kriterien, auch unter der Berücksichtigung ästhetischer wie funktionaler Voraussetzungen (Studioatmosphäre und Setting im Digitallabor: Akustikwand aus nachwachsenden Materialien, Möbel aus recyceltem Material)
  • Zusammenarbeit mit der Stadt Witten zum Ausbau der Grünflächen im Sinne der Grünen Infrastruktur durch Fördergelder zu erreichen
  • Formulierte Zukunftsprojekte: PV-Anlage, Regenwasser Managementsystem, LED Beleuchtung, Ökostrom
  • Nachhaltigkeitskriterien bei der Vergabe und Beschaffung berücksichtigen
  • Umweltmanagementsysteme (Ökoprofit, GWÖ, EMAS etc.).

Ende in Sicht?

Trotz erster sichtbarer Ergebnisse und eines erkennbaren Wandels müssen wir selbstkritisch festhalten, dass wir – wie so oft im Kultursektor –  in vielen Bereichen über die Behauptung noch nicht hinausgekommen sind und einen messbaren Impact schuldig bleiben: Hier müssen wir nun noch stärker in die Mühen der Ebene einsteigen. Existierende Routinen, eine hohe Arbeitsbelastung und in Teilen auch (personal-) rechtliche Rahmenbedingungen erschweren die Etablierung neuer Arbeits- und Handlungskontexte.  Zudem mangelt es uns trotz der bereits getroffenen Maßnahmen flächendeckend noch an erforderlichen Kompetenzen und Ressourcen, um unsere Transformationsanstrengungen wirksam zu katalysieren. Da der Handlungsspielraum der Stadt Witten als haushaltsschwache Kommune extrem beschränkt ist und die finanziellen Folgen der Pandemie ihr Übriges leisten werden, sind wir abhängig von Förderfolien, die uns eine Erneuerung unserer Infrastrukturen (baulich, inhaltlich und personell) ermöglichen.

Unsere konkreten Forderungen:

  • Förderkulissen auf die Erneuerung von Infrastrukturen ausrichten
  • Qualifizierung des Sektors über konkrete Personal- und Potenzialentwicklungsprogramme fördern
  • Transferstrukturen über Transformationsagent*innen in den Einrichtungen und übergreifenden Transferstellen aufbauen.

Autor*innen

Randi Günnemann, Alissa Krusch, Jasmin Vogel vom Kulturforum Witten. Das Kulturforum Witten, Anstalt des öffentlichen Rechts, ist 2006 aus dem damaligen Kulturamt der Stadt Witten hervorgegangen und steht dabei heute archätypisch für die kommunale kulturelle Infrastruktur einer Mittelstadt in einer zwar urbanen, aber doch strukturschwachen Region und kann als Blauspause für ein vollkommen neues Verständnis der kulturellen Daseinsvorsorge und der dahinterstehenden Organisationsstrukturen stehen. Mit unserem Ansatz überprüfen wir, daher, wie Kommunen in ihrer Daseinsvorsorge aus dem ressourcenintensiven Wachstumsnarrativ aussteigen und über eine Reorganisation der Verwaltungsstrukturen neue Wege sowie einen kulturellen und digitalen Wandel hin zu einer nachhaltigen Stadtgesellschaft beschreiten können.


[1] Die Europäische Kommission formuliert den Zusammenhang der Transformationsthemen z.B. als »Europe must leverage the potential of digital transformation, which is a key enabler for reaching the Green Deal objectives.«, Vgl. https://events.euractiv.com/event/info/the-twin-transition-how-can-green-growth-and-digital-transformation-go-hand-in-hand-to-drive-europes-recovery [Aufgerufen am 25.1.2022].

[2] Mark Terkessidis hält mit Blick auf Innovation fest: »Nicht der Wettbewerb zwischen Individuen oder Organisationen lässt Neues entstehen, sondern deren Offenheit und Anschlussfähigkeit«. (Mark Terkessidis Kollaboration, Berlin 2015, S. 119.).

[3] Anm.: VUCA ist ein Akronym und setzt sich aus Volatility (Volatilität), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) sowie Ambiguity (Ambiguität) zusammen. Nach Hoffmann »meint [VUCA] dabei die Unbeständigkeit und gleichzeitige Unberechenbarkeit des Organisationsumfeldes bei hoher Veränderungsgeschwindigkeit« (Erwin Hoffmann Systemisches Arbeiten für Kulturmanager: Praxis Kulturmanagement, Wiesbaden 2019: Springer Fachmedien Wiesbaden (essentials), doi: 10.1007/978-3-658-23733-2.S. 7).

[4] Vgl. Hildegard Kurt Von der Zukunft her gestalten. Eine kleine Reflexion in 3 Sequenzen, in: Kulturpolitische Gesellschaft (Hrsg): Zeit für Zukunft. Inspirationen für eine klimagerechte Kulturpolitik, Bonn 2020, S. 48f.

[5] Die Methode der organisationalen Ambidextrie befähigt die Organisation parallel zum Alltagsgeschäft mit neuen Arbeitsformen zu experimentieren. Grundvoraussetzung ist dabei eine Umverteilung und Priorisierung der jeweiligen alltäglichen Arbeitsaufgaben, um so die notwendigen Räume und Ressourcen zu schaffen. (Vgl. Henning Mohr und Diana Modaressi-Tehrani Museen der Zukunft. Trends und Herausforderungen eines innovationsorientierten Kulturmanagements, in: Henning Mohr und Diana Modarressi-Tehrani (Hrsg..): Museen der Zukunft. Trends und Herausforderungen eines innovationsorientierten Kulturmanagements. S. 18ff.

[6] Förderprogramm »kulturstark«: https://www.beisheim-stiftung.com/de/de/projekte/kulturstark [Aufgerufen am 25.1.2022].

[7] Weitere Informationen zum Netzwerk, u.a. https://aktionsnetzwerk-nachhaltigkeit.de/projekte/pilotprojekt-klimabilanzen-in-nrw/ [Aufgerufen am 06.03.2022].

#Do-it-ourselves – Institutionen machen als künstlerische Praxis

1. März 2022

Wer soll Ihrer Meinung nach ein Theater leiten: ein violetter Oktopus oder ein weißes Pferd? Am Ende dieses Textes finden Sie eine Antwort. Möglicherweise.

2021 ging in den deutschsprachigen Theatern immer mal wieder eine Türe auf, aus der ein Mensch aus den Tiefen des Betriebs in die Öffentlichkeit trat, manchmal vielstimmig orchestriert von einem »Skandal«: Zum Beispiel ein Intendant mit schwerwiegenden Vorwürfen von Machtmissbrauch und sexueller Belästigung im Gepäck, oder ein Schauspieler, der für sich beschlossen hatte, nicht mehr in einem strukturell rassistischen System Stadttheater funktionieren zu wollen. Manchmal öffnete sich diese Back Door auch bloß, um sich gleich wieder zu schließen, nachdem die theaterinteressierte Öffentlichkeit einen kurzen Blick auf das Innenleben des Betriebs werfen konnte, in dem Stimmen laut und nachdrücklich auf Machtmissbrauch, disfunktionale Kommunikation und mangelnden Schutz von Integrität der Mitarbeitenden hingewiesen hatten. Wir reden vom Ex-Volksbühnen-Intendanten Klaus Dörr, vom Schauspieler Ron Iyamu, von der Ikone des postmigrantischen Theaters und Intendantin des Gorki Theaters Shermin Langhoff. Und mit ihnen von Vorfällen in Berlin, Düsseldorf oder Karlsruhe. 

Die so genannten »Skandale« haben vor allem etwas geschafft: zu verschleiern, dass eigentlich niemand von ihnen überrascht war. Sie zeigen in der Analyse vor allem eines: einen unüberwindbaren Graben zwischen einer Leitung und den Mitarbeitenden, die sich zusammenschliessen, um Missstände in der Führung und Etablierung einer Betriebskultur aufzuzeigen. Durch die Türen ausgeschleudert werden Einzelpersonen; entweder, weil sie in der Leitung nicht mehr tragbar sind (wie Dörr), oder weil sie als Arbeitnehmer*innen beschließen, nicht mehr Teil solcher Strukturen sein zu wollen (wie Iyamu). Doch während Künstler*innen, Theatermitarbeitende, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen seit Jahren Reformbedarf und Transformationsdringlichkeit des deutschsprachigen Stadttheaters aufzeigen, bleibt dieses wider besseren Wissens eine zum Verzweifeln zähe Institution; weiß, bürgerlich und männlich dominiert.

Wenn »der Fisch vom Kopf her stinkt«, wie im Theater so oft und gerne gesagt wird, macht es dann Sinn, die Transformation auch von der Spitze des Organigramms aus zu denken? Neue Intendanzmodelle lassen das vermuten. Größere und kleinere Häuser treten mit Co-Leitungen an, die insbesondere in der Schweiz, dem Land, das ebenfalls von einer 7-köpfigen Exekutive geführt wird, kulturpolitisch mit grossem Elan installiert werden: das Neumarkt Zürich wird seit 2019 von einem weiblichen Dreier-Direktorium geleitet, auch das Theaterhaus Gessnerallee ist mit einer weiblichen Dreier-Leitung gestartet, dasselbe hat das Schlachthaus Bern ab Sommer 2022 vor. Das Schauspielhaus Zürich operiert seit 2019 mit einer männlichen Doppelspitze, und die Leitung Schauspiel vom Theater Basel liegt seit 2020 in den Händen eines Vierer-Direktoriums, das seinem Schauspiel-Ensemble erweiterte Kompetenzen in der Programmation und bei künstlerischen Entscheidungen einräumt. 

Mehr als Symbolpolitik?

Doch sind Co-Leitungen mehr als bloße Symbolpolitik und effizientere Arbeitsteilung bei dem immensen Workload, der für eine Theaterdirektion anfällt? Wie verändern sich die Strukturen tatsächlich und erwirken Transparenz, reale Diversifizierung auf allen Ebenen des Betriebs und eine ausgeglichenere Verteilung von Entscheidungsgewalt? 

Hier lohnt es sich, den Blick im Organigramm nach unten zu richten und den Bewegungsmelder einzuschalten. Wer die kollektive Agency von Mitarbeitenden mitschneiden möchte, braucht Seismografen und Taschenlampe, denn viele institutionstransformierende Initiativen, Projekte und Verbindungen laufen unter dem Radar einer Leitung. Es lohnt sich, genau hinzuschauen: Wie arbeiten Kolleg*innen an der Transformation ihrer Organisation mit: kollaborativ, eigeninitiativ, informell, anti-patriarchal, diskriminierungskritisch, queer, partikular, konspirativ, feiernd, elaborierend, aktivistisch, empathisch, verbindend, progressiv…? 

Vielleicht hilft es hier auch, in einem schnellen Gedankentest den Begriff des (männlichen, weißen) »Intendanten«, der sich auf ungeklärte Weise aus französischen und deutschen Militär- und Verwaltungszusammenhängen in den Bereich der Kunst geschmuggelt hat und in erster Linie Durchsetzung und Direktive meint (und im absolutistischen Frankreich sogar »Steuereintreiber«), mit dem Begriff der »Autor*in« zu ersetzen. Autor*innen einer Institution sind diejenigen Akteur*innen, die diese schaffen, schöpfen, gestalten – und damit zu Urheber*innen eines produktiven Zusammenhangs werden.

Wenn wir nämlich eine Institution nicht als eine in Stein gemeißelte Struktur, sondern als eine von diversen Akteur*innen betriebene stetige Praxis begreifen, lässt sich die Frage nach ihrer Autor*innenschaft stellen: Wer betreibt diese instituierende Praxis, wer ist also der*die Produzent*in der Institution, wer arbeitet an ihrer Veränderbarkeit, wer gestaltet sie mit welchen künstlerisch-kritischen Intentionen? Was, wenn die diversen Akteur*innen eines Theaters die Institution genauso als Werk-in-progress begreifen wie eine Inszenierung oder ihre künstlerische Theaterpraxis generell? Wenn »Theater machen« und »Institutionen machen« keine getrennten Angelegenheiten sind, sondern zum gleichen Tätigkeitsfeld gehören: der Gestaltung eines künstlerischen Produktionszusammenhangs? Hier wird es Zeit für ein, frei nach Leslie A. Fiedler, »cross the borders, close the gaps«.

Ein Theater produziert nicht nur Werke für ein Publikum, sondern auch Kommunikationsstrukturen und Verhältnisse des sich-gegenseitig-aufeinander-Beziehens, des sich-Zeigens, sich-ausgesetzt-Seins, die als politisch zu begreifen sind, weil sie auf die Lebensbedingungen, Fertigkeiten, Potentiale und die psychische Disposition der Mitarbeitenden einer Organisation zurückwirken. In diesem Sinne wird der Betrieb zu einem binnenpolitischen Raum, in dem sich diejenigen bewegen und ihn gestalten, die sich als seine »Autor*innen« begreifen, zu einem »Raum mit Öffentlichkeitsstruktur« (Paolo Virno), der beansprucht, was früher dem Feld der Politik vorbehalten war: das Verhandeln der Bedingungen der Zusammenarbeit und des betrieblichen Zusammenlebens. 

»Institutionelle Autor*innen« agieren innerhalb einer Organisation als Doppelagent*innen: Sie sind meist als ausgebildete professionelle Theaterschaffende aus den Bereichen Schauspiel, Regie, Dramaturgie oder Kulturmanagement angestellt – gleichzeitig übernehmen sie informell häufig institutionstransformative Aufgaben. Damit gemeint sind Tätigkeiten, die nicht nur einen kritischen Diskurs über die Verfasstheit einer Institution etablieren und aufrechterhalten, sondern auch in der Verschränkung von strukturellen Maßnahmen und künstlerischen Praxen institutionelle Veränderungen prozessieren. Für diese Tätigkeiten gibt es bis anhin weder Berufsbezeichnungen und noch finanzierte Positionen, sie bewegen sich fluide zwischen künstlerischer und organisatorischer Praxis und sind in einem traditionellen Organigramm nicht lokalisierbar. Trotzdem finden in Theatern gegenwärtig zahlreiche kollaborative, institutionstransformierende Prozesse statt, die diverse Themen, Ziele und Ausprägungsformen haben. 

Ein Beispiel: Schauspielhaus Zürich 

Fokus Schauspielhaus Zürich: Dort zeigen sich zurzeit verschiedene Formen einer möglichen »institutionellen Autor*innenschaft«. Mit der Intendanz von Stemann/von Blomberg hat 2019 am Schauspielhaus Zürich das Projekt eines Theaters begonnen, das Diskriminierungen jeglicher Art entgegenarbeiten und geschützte Räume für künstlerische Entfaltung jenseits traditioneller Machtverhältnisse schaffen möchte. Ein solches Projekt, das die Betriebskultur und -struktur von Grund auf mit neuen Prämissen unterlegt und ideell durchdringt, ist langfristig angelegt und muss auf vielen Ebenen stattfinden. 

Einige der transformativen Ziele des Hauses bedürfen direktiver struktureller Massnahmen: Die Zugänglichkeit für alle Körper zu Positionen, Strukturen und Räumen der Institution kann zum Beispiel top down über eine diskriminierungssensible Einstellungs- und Lohnpolitik, eine fest angestellte Diversitätsagentin, Anpassungen in der Infrastruktur, neue Standards in der Kommunikation und weitere Strategien, die Ungleichheiten aller Art auffangen, vorangetrieben werden. Institutionelle Autor*innen interessiert hingegen, wie diskriminierungssensible Strategien von den Mitarbeitenden selbst initiiert, praktiziert und vergrössert werden und bottom up in eine Institution hineinwachsen können. 

Alle hier skizzierten Vorstöße, Projekte und Versuche am Schauspielhaus zeichnet aus, dass sie eigeninitiativ und informell sind, sie entstehen jenseits der offiziell vereinbarten Aufgaben der Mitarbeitenden im Betrieb und außerhalb von Sitzungsstrukturen. Sie sind oft abteilungsübergreifend und kollaborativ organisiert. Einige der Bewegungen diffundieren noch nicht in die Gesamtstruktur des Hauses, erobern sich aber ständig mehr Raum. Ein paar Beispiele: 

*Eine Kostümassistentin treibt die Dekolonisierung des Kostümfundus voran und durchforstet die Kostümteile nach tradierten kolonialen, rassifizierten Stereotypen, katalogisiert Bleibendes und entsorgt Überkommenes. 

*Die fünf festangestellten Produktionassistent*innen haben ein Manifest verfasst, in dem sie nicht nur ihre Aufgaben neu definieren und ihre Grenzen markieren, sondern sich auch von der traditionellen Rolle als Dienstleistende der Regie verabschieden. Das Manifest ist für Probenprozesse am Haus mittlerweile bindend. 

*Produktionen mit sensiblen Themen, die sich um Intimität, Sex, Machtmissbrauch und Körperbilder drehen oder auf der Zusammenarbeit mit nicht-professionellen Spieler*innen basieren, erhalten nun auf Initiative der Dramaturgie eine Begleitung durch diskriminierungssensible Coaches und/oder eine*n Intimacy Coordinator, die*der verantwortlich ist für die Schaffung eines diskriminierungsarmen Probenraums. So werden Produktionen nicht nur körpersensitiv begleitet, sondern auch der hausinterne Diskurs über die Themen Safer Spaces und Consent, Verletzlichkeit und Vertrauen abteilungsübergreifend vertieft. 

*Eine Gruppe von Dramaturg*innen, Assistent*innen und Ensemblemitgliedern erarbeitet zur Zeit eine »Praxis der Fürsorge«, ein kollaboratives Projekt, das sich zum Ziel setzt, für die Mitarbeitenden des Hauses ein Bündel von Strategien zu entwickeln, die einen bewussten und sorgsamen Umgang mit unterschiedlichen Körpern, anti-diskriminatorisches Sprechen und machsensitives Handeln im Betrieb nachhaltig verankern. Sie fragen, wie Praktiken der Fürsorge alle Körper mitdenken und ihrer Verletzlichkeit und Gefährdung durch Krankheit, Erschöpfung und Diskriminierung gerecht werden können; wie sich ein sorgsames Sprechen in Arbeitssituationen – zum Beispiel in Proben, Sitzungen, im Austausch mit dem Publikum – an einem Haus etablieren kann. Wie aktiv ein Selbst-Bewusstsein für das eigene Handeln, die eigenen Grenzen, das eigene Sprechen und das der anderen entwickelt und in Proben- und Arbeitssituationen Consent hergestellt und abgelehnt wird. Wie Mitarbeitende eine gegenseitige Sorgfaltspflicht wahrnehmen können. Das Team bietet Räume für Erfahrungsaustausch und gemeinsames Lernen und entwickelt ein regelmässiges Angebot an Übungen, Trainings und Tools für den Berufsalltag.

Fazit

In all diesen Projekten wird eine »institutionelle Autor*innenschaft« sichtbar, die ein Theater als Organisation als veränderbar begreift und im Rückgriff auf tradierte Strukturen kritisch beleuchtet und transformiert. So wirken die Initiativen auf Produktions- und Kommunikationsstrukturen ein, denken Repräsentationspolitiken mit – und prägen eine neue Kultur des Produzierens und Zusammenarbeitens am Theater. Der Begriff der »institutionellen Autor*innenschaft« eröffnet demnach ein neues Terrain innerhalb der Institution (und der konkreten Organisation), den es auszuloten gilt. Mit ihm treten die Mitarbeitenden eines Theaters auf neue Weise in die Sichtbarkeit. Indem sie Handlungsmacht auf institutioneller Ebene erlangen, Prozesse initiieren und gestalten und ihre Potentiale besser ausschöpfen können, verändern sich ihr Status und ihre Handlungsfähigkeit in einer Organisation und damit traditionelle Berufsbilder. Das Bündel dieser institutionstransformierenden Prozesse steht für ein emanzipatorisches Theater, das es, wie alles am Theater, kollaborativ zu erproben und nachhaltig in der entlohnten Arbeitszeit zu verankern gilt. 

Und weil es wichtig ist, steht es am Ende: Ohne Geld und ohne Zeit gibt es keine institutionstransformierenden und emanzipatorischen Vorgänge – egal, auf welcher Ebene eines Betriebs sie stattfinden. Nur wenn Praxen des Instituierens, wie auch immer sie aussehen und wo auch immer sie stattfinden, Teil der Berufsbilder am Theater und anerkannter Teil vertraglich vereinbarter Aufgaben werden, kann »institutionelle Autor*innenschaft« tradierbares Wissen generieren und nachhaltig wirksam und sichtbar sein. 
Darum ist dieser Text ein Plädoyer für den Oktopus statt für das weiße Pferd, auf dem ein meist männlicher Ritter-Intendant die Zügel straff in der Hand hält. Für den Oktopus, bei dem der eine Arm vielleicht nicht weiß, was der andere macht, einen violetten Oktopus, wie er seit Antritt der neuen Leitung als Maskottchen in der Zürcher Gessnerallee lebt. Und damit ein Plädoyer für eine Institution, die in ihrem Kopf Platz für neun Gehirne hat und viele Arme braucht, um mit der Wirklichkeit ihrer Mitarbeitenden in Berührung zu kommen. Theater ist ein wildes Tier mit mehr als einem pulsierenden Herzen.

Autorin

Foto: Perspektiven SDDB

Fadrina Arpagaus, geboren in Zürich, studierte Germanistik und Philosophie in Zürich und Berlin und schloss mit einem Master of Arts ab. Sie war als Dramaturgin u.a. am Theater Basel, am Theater Neumarkt Zürich und am Konzert Theater Bern engagiert und leitete mehrere Jahre das Programm der Zürcher Kulturinstitution »Karl der Grosse«.

Seit der Spielzeit 2019/20 ist Fadrina Arpagaus Teil des Dramaturgie-Teams am Schauspielhaus Zürich. Sie ist zudem Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste und co-leitet den »Dramenprozessor«, das Schweizer Förderprogramm für junge Dramatiker*innen.

Kollaboration als Arbeitsweise: Zwischen Selbstoptimierung und Strukturwandel

21. Februar 2022

Die Schlagwörter ›Kollaboration‹ und ›Agilität‹ werden, wie das Beispiel der Kulturpolitischen Gesellschaft selbst hervorragend verdeutlicht, in Kulturmanagement und -politik zunehmend als Wege aus den veralteten Strukturen des Kulturbetriebs angepriesen. Trotz der zunehmenden und oftmals synonymen Begriffsverwendung fehlt es in der Praxis an konkreten Handlungsweisen und Orientierungsmodellen. Vielmehr bleibt es bei vielversprechenden Hymnen wie beispielsweiser dieser:

»Gerade der Aspekt der Kollaboration ist eine entscheidende Voraussetzung für mögliche Veränderungen im Kulturbereich, da in derartig organisierten Arbeitskontexten unterschiedliche Expertisen – auch außerhalb der Organisation – in den Produktionsprozess integriert werden und in der Regel auch Personen beteiligt werden, deren Ansprüche, Denkweisen oder Fähigkeiten in der Kulturarbeit noch zu wenig repräsentiert sind.«

Es scheint, als wären die Transformationsvorstellungen längst klar formuliert, als wären zukunftsfähige Unternehmen längst nicht mehr linear und hierarchisch strukturiert, sondern netzwerkartig organisiert. Als würden interne Strukturen in hybriden Arbeitsgruppen immer wieder neu beleuchtet, Abläufe hinterfragt und optimiert, neue Produkte aus der Zusammenführung unterschiedlicher Zuständigkeitsfelder und Wissensformen entwickelt. Insbesondere die Digitalisierung ist dabei eine große Hilfe und ermöglicht dezentrale Zusammenarbeit, Selbstorganisation und häufigere Korrekturschleifen. Aber ist das wirklich so?

Der folgende Beitrag möchte den Herausforderungen des strukturellen Umbaus im Kulturbetrieb nachgehen und handlungsorientiert Probleme aufzeigen. Grundannahme ist, dass viel zu lange die Trennung in Theorie und Praxis auf der einen Seite und die Vermischung von Inhalt und Struktur auf der anderen Seite aufrechterhalten wurde – statt konzeptuelle Ansätze auf ihre Umsetzbarkeit zu befragen. Wie lässt sich diese vielgeforderte Neugestaltung praktisch umsetzen? Und welche Idee von Kollaboration als Begriff und als Arbeitsweise werden dabei imaginiert?

Dem Folgend, möchte ich mich vor allem auf bereits vorhandene Ansätze und Thesen des Blogs beziehen, um offenzulegen, dass sie einerseits viele wichtige Standpunkte offerieren, andererseits aber stärker aufeinander Bezug nehmen sollten, um nicht repetitiv, sondern transformativ zu wirken. Wir alle kennen mittlerweile die Parolen und Utopien eines zukünftigen Kulturbetriebes. Doch wie diese umzusetzen sind, ist bisher unklar und führt schnell zu Resignation oder Gesprächsversandung. Klar: Alte Hierarchien sollen zugunsten von einem solidarischen miteinander endlich über Bord geworfen werden – doch wie funktioniert das? Der folgende Beitrag baut auf Erkenntnissen vorheriger Beitragenden auf und skizziert Herausforderungen und Ansätze kollaborativer Arbeit.

Agilität durch Kollaboration

Bleiben wir zunächst im vertrauten Umfeld der theoretischen Erörterung, so fällt auf, dass die Begriffe ›Kollaboration‹ und ›Agilität‹ mit sehr unterschiedlichen Beigeschmäckern zu kämpfen haben. Obwohl sie eigentlich dieselbe Problematik von unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Beide Begriffe beschreiben eine Abwendung von tradierten Arbeitsmodellen, wobei ›Agilität‹ eher auf der strukturellen Ebene und im Managementjargon benutzt wird und ›Kollaboration‹ als eine alternative Form des Zusammenarbeitens verstanden werden kann.  Darüber hinaus stammen beide Konzepte aus der Zeit des Umbruchs von fordistischen zu postforstischen Arbeitsverhältnissen. Unter zeitgenössischen Informations- und Wissensregimen sind sie zu Imperativen immaterieller Arbeit herangenwachsen und damit für kulturelle Arbeitsfelder interessant geworden.

Während ›Agilität‹ im neoliberalen Image dabei eher im konkreten Projektmanagement auftaucht und mit Prekarisierung und Überforderung von Arbeiter*innen durch Top-Down Belehrungen verbunden wird, werden ›Kollaborationen‹ zunehmend als neue Form der solidarischen und hierarchiefreien Zusammenarbeit angepriesen. Da der Begriff  ›Kollaboration‹ von älteren Generationen vor allem im Kontext des Zweiten Weltkrieges als Zusammenarbeit mit dem Feind verstanden und nach wie vor durch den Duden entsprechend definiert ist, liegt die Vermutung nahe, dass im deutschsprachigen Kontext häufig von ›Kooperation‹ gesprochen wurde, selbst wenn kollaboratives Arbeiten gemeint war. Im englischsprachigen Raum – somit auch in der deutschen Start-up -und Kunstszene – hat sich spätestens seit den 2000er Jahren ›collaboration‹ als Mantra der projektbasierten Arbeit etabliert.

Im Kulturbereich scheint sich eine immer breiter werdende Gruppe von Akteur*innen dem Begriff der ›Kollaboration‹ unter einem allgemeinen Transformationswillen anzunähern, was jedoch vor allem zu inflationärer Schlagwortverwendung denn zu konkreter Bedeutungszuschreibung und Praxisanwendung führt. In aktuellen Debatten versprechen Kollaborationen die Flexibilität und Individualisierung von Arbeitsrealitäten auf der einen, neue Stabilität und Zusammenhalt in Kontext von unsicheren Strukturen und neoliberalen Leistungsdruck auf der anderen Seite.

Doch welche Wirkungen können in der Realität eingelöst und welcher Rahmen muss für erfolgreiche Kollaborationen geschaffen werden? Nicht überspielt werden sollte die Tatsache, dass auch kollaborative Arbeitsweisen schnell in Selbstausbeutung und Prekarisierung abrutschen können, basieren sie doch auf einem hohen Maß an Selbstorganisation und Verantwortung aller Akteur*innen.

Während strukturkritische Autor*innen wie Tara McDowell von prekären, post-beruflichen Bedingungen im Kulturbereich sprechen und damit insbesondere jüngere Generationen meinen, für die ein Vierjahresvertrag Sesshaftigkeit bedeutet, sind ein Gros der Stellen in deutschen mittelgroßen Kulturinstitutionen noch immer unbefristet besetzt.  Folglich kann die selbstbestimmte Freiheit einer kollaborativen Organisationsstruktur innerhalb eines institutionellen Transformationsprozesses  für Mitarbeiter*innen, die jahrzehntelang nach dem Top-Down-Prinzip gearbeitet haben, zu Verunsicherung führen – stützt sie sich schließlich auf dem Ansatz des lebenslangen Lernens auf und hinterfragt damit stets erlernte Expertisen zugunsten neuer Erkenntnisse und Anpassungen von rostigen Strukturen.

Das bedeutet auch, dass Mitarbeiter*innen und Führungspersonen ihre Stärken, Schwächen und Interessen kennen und kommunizieren müssen, und sich nicht mehr auf Routine verlassen können. Das mag zunächst mehr Arbeit, vor allem mehr Kommunikation, mit sich bringen, eine Transformation lässt sich jedoch nur durch aktive Umstrukturierung von Praktiken und Abläufen und nicht nur durch inhaltlich-programmatische Progression umsetzen.

Neue Erkenntnisse durch Querverbindungen

Ein schönes Beispiel aus der Praxis stellt das kollaborative Projekt »Öffne die Blackbox der Archäologie! Museum als CoLabor« von dem Museum für Archäologie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in Herne, dem LWL-Römermuseum in Haltern am See und dem Deutschen Bergbau-Museum in Bochum dar. Auf der Seite des Hauptförderers, der Kulturstiftung des Bundes, wird das Vorhaben folgendermaßen beschrieben.

»Nach einem Open Call der drei Museen wurde im Frühjahr 2021 dafür ein Beirat gegründet, der in diesem Fall nicht aus Fachleuten, sondern aus fast 100 Menschen verschiedener Hintergründe und Generationen besteht. […] Die Partner orientieren sich an Methoden des agilen Managements wie z. B. Design Thinking und arbeiten kollaborativ, prozessorientiert und co-kreativ im Sinne einer Kultur der Digitalität

Konkret hat sich hierfür eine übergreifende Projektsteuerungsgruppe der Museen gebildet, die gemeinsam mit einem Beirat aus engagierten Bürger*innen in regelmäßigen, moderierten Workshops zusammenkommt und mit Hilfe eines externen Coachings spielerisch neue Konzepte und Arbeitsweisen entwickelt. Kollaboration wird hier somit zunächst in einem Pilotprojekt mit zusätzlicher Hilfestellungen erprobt. Interne Strukturen werden nicht direkt auf den Kopf gestellt, sondern es wird gemeinsam mit dem gemischten Team aus Museumsmitarbeiter*innen und Bürger*innen überprüft, welche Methoden für die musealen Struktur im internen Team anwendbar sind und welche in experimentellen Projekten verortet bleiben sollten. Gerade das Arbeiten mit freiwillig partizipierenden Mitarbeiter*innen, die einige Stunden ihrer Arbeitszeit in kollaborative Ansätze investieren möchten und aus Interesse agieren, scheint eine sinnvolle Vorgehensweise, um Überforderung und hierarchische Festsetzung von unsicheren Angestellten zu vermeiden.

Von der Theorie in die Praxis – und zurück

Neben globalen Vernetzungsbewegungen und der akademisch-theoretischen Auseinandersetzung bedarf es zudem Transformationsprozessen auf lokaler und regionaler Ebene: Innerhalb der Institutionen sollten Arbeitsprozesse nach Interessen und Fähigkeiten anstatt nach künstlerischen Disziplinen und Hierarchien fokussiert werden. Denn Strukturen und Zuständigkeiten lassen sich immer dann am leichtesten verändern, wenn sich alle Beteiligten weiterhin mitgenommen fühlen, wenn Flexibilisierung nicht Verunsicherung bedeutet, sondern Lernprozesse in bekannte Abläufe integriert und honoriert werden.

Kollaboration kann dann als Arbeitsweise interessant sein, wenn sie gezielt eingesetzt und nicht nur als Synonym für verschiedenste Formen der Zusammenarbeit benutzt wird. Hierzu könnten etwa die von Anke von Heyl angeschnittenen »iterativen Prozesse« fruchtbar sein. In diesen werden Abläufe und Feedbackschleifen so oft wiederholt und angepasst, bis sie den intern zuvor definierten Zielvorstellungen des Teams entsprechen. Würde man Kulturorganisationen zu dieser Optimierung von Abläufen zudem eine außenstehende, vermittelnde Person langfristig zur Seite stellen, könnten Verschiebungen unaufdringlich, im alltäglichen Arbeitsablauf ohne Neustrukturierung von außen oder ständige Selbstevaluation herbeigeführt werden. Es könnte dann um die Aktualisierung von Strukturen und Beziehungen statt um die selbstoptimierende Prüfung des individuellen Leistungsvermögens der Arbeitenden gehen, wie es von kritischen Akteur*innen wie Ulrich Bröckling prognostiziert wurde. 

Wird dieses Vorhaben noch mit Zeit für die Teilnahme an regelmäßigen internen Gesprächsformaten und Workshops – etwa zu digitalen Organisationstools wie Trello oder Slack und kollaborativer Erkenntnisgenerierung – unterstützt, könnten sich veränderte Arbeitspraktiken auch nachhaltiger festsetzen, als es aktuell der Fall ist. Denn bedingt durch den Umstand, dass eine Vielzahl von Veränderungsversuchen in Projektförderstrukturen an den vorhandenen zeitlichen und finanziellen Mitteln scheitern, führen Transformationsforderungen oftmals zu Pauschallösungen und Überlastung der einzelnen Akteur*innen, statt zu einer langfristigen Verschiebung innerhalb der spezifischen Strukturen.   

Qualifizierte Coachingansätze und Modellarbeit

Ein Grundsatz von Kollaboration ist, nicht bekanntes Wissen zu reproduzieren, sondern durch Querverbindungen und assoziatives Denken neue Erkenntnisse zu generieren, die auf unterschiedlichsten Wissensformen und Fähigkeiten aufbauen. Gerade deshalb scheint es umso wichtiger, Erkenntnisse von Plattformen wie dieser zu nutzen, zu vertiefen und in der Praxis modellhaft zu erproben, anstatt sich innerhalb eines kleinen Fachkreises gegenseitig zu bestärken und dieselben großen Begriffe und Ansätze zu proklamieren. Ein Vorschlag wäre daher, eine Modellentwicklung für konkrete Transformationsarbeit an Kulturinstitutionen auszuschreiben und zu finanzieren. Ein erster Schritt wäre verschiedenen Stimmen und Ansätze in einem gemeinsamen Think Tank zusammenzuführen und diesen Austausch in einen praxisnahen Projektentwurf umzuwandeln, mit und an dem gearbeitet und praxeologisch geforscht werden kann.

Denn auch wenn Modelle und Leitfäden allein nicht ausreichen werden, könnten so dennoch vorhandene Ansätze wie infrastrukturelle Förderungen und begleitendes Mentoring auf ihre Umsetzbarkeit erprobt werden. Kollaboration und Flexibilisierung sollte somit nicht nur als Aufgabe gestellt werden, sondern in übergreifenden Arbeitsgruppen von Forschung, Kulturinstitutionen und kulturpolitischen Entscheidungsträger*innen vorgelebt werden. Schließlich könnten daraus auch qualifizierte Coachingansätze oder Fortbildungsmodelle entstehen, die zeitweise weitaus effektiver ansetzen könnten als progressive Verschriftlichungen oder sich um sich selbst kreisende Diskussionen.

Autorin

Foto: Sandra Stein

Paulina Seyfried ist freie Kunstwissenschaftlerin und Kulturarbeiterin. Sie arbeitet freiberuflich für verschiedene Kunstvereine und Künstler*innen im organisatorischen wie kuratorischen Bereich. Zudem gibt sie regelmäßig Workshops in Projektmanagement und individuellen Fördermöglichkeiten.

Sie absolvierte ihren Bachelor der Kunst- und Bildgeschichte an der Humboldt Universität zu Berlin und ihren Master an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Schnittstelle von Institutionskritik, Infrastrukturen und kollaborativen Arbeitsweisen in der Kunstwelt. 2021 hat sie das Recherche- und Arbeitsstipendium Bildende Kunst der Stadt Köln erhalten.

Cross-Innovation, Interdisziplinäre Zusammenarbeit, Ko-Kreation – eine Einladung zur Vertiefung

14. Februar 2022

Wenn sich eines im Förderprogramm LINK der Stiftung Niedersachsen abgezeichnet hat, dann ist es die wachsende Notwendigkeit von interdisziplinärer Zusammenarbeit. Digitalität lässt tradierte Kultursparten und die Trennung zwischen Fachabteilungen zunehmend verschwimmen. Eine übergreifende Zusammenarbeit in neuen Teams und der Blick über den Tellerrand werden immer wichtiger.

Begonnen haben wir 2018 indem wir jede Kultursparte einzeln in den Fokus genommen und nach aktuellen Projekten und zukünftigen Möglichkeiten der Anwendung von Künstlicher Intelligenz geschaut haben. Als Testballon luden wir gezielt Informatiker*innen und Kulturschaffende mehrerer Sparten aus Hannover ein, die teils konträren Denk- und Arbeitsweisen kennenzulernen und gemeinsam Projektideen zu entwickeln. Die so angestoßenen Prozesse der Entwicklung einer gemeinsamen Sprache, der Bereitschaft, die eigene Komfortzone zu verlassen und sich auf ungewohnte und teils unbequeme Vorgehensweisen einzulassen, legten den Grundstein für die zwei langfristig erfolgreichen künstlerischen Pilotprojekte von Philipp Henkel, Florian Kluger, Farhad Ilaghi Hosseini und Patrick Glandorf, die im Oktober 2021 (pandemiebedingt verspätet) in der Galerie Bohai unter dem Titel »AKUSTISCHE KI – ZWEI HAPPENINGS« in Hannover vorgestellt wurden. Die Ergebnisse hätten nicht fachintern und ohne die interdisziplinären Impulse von außen erreicht werden können.

Innovation durch Kunst und Technologie

Bei der Betrachtung von Kultur-, Forschungseinrichtungen und Unternehmen fällt auf, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen einer großen Mehrheit und einigen wenigen Leuchtturmprojekten wie dem europäischen Knowledge Innovation Center gibt, die ganz im Sinne von Cross-Innovation den Austausch und die interdisziplinäre Zusammenarbeit stärken. Die Erkenntnisse zum Nutzen dieser Formate sind also nicht neu, nur leider weder in Wirtschaft, Wissenschaft oder Kultur flächendeckend bekannt.

Im Perspektiv-Papier der Bundesregierung Kulturen im digitalen Wandel wird u.a. neben dem Thema Personalentwicklung für möglichst breit aufgestellte Teams auch das Thema Vernetzung durch Plattformen, Verbundstrukturen und Kompetenznetzwerke angesprochen. Das Impulspapier der DFG »Digitaler Wandel in den Wissenschaften« betont ebenfalls die Bedeutung des fachlichen und interdisziplinären Austauschs als »entscheidend für die Bewertung der Entwicklung, die Chancennutzung und die Bewältigung der Herausforderungen

Ähnliche Ziele verfolgt das europäische STARTS-Programm: »S+T+ARTS is a platform that aims to link technology and artistic practice more closely. It is implemented by European policy to promote innovations that also benefit the art world. It supports collaboration between artists, scientists, engineers and researchers to develop more creative, inclusive and sustainable technologies, and focuses on people and projects that help address the social, environmental and economic challenges with which the European continent is confronted.« Seit 2016 wurden so u.a. Künstler*innen-Stipendien in Technologie-Unternehmen und Forschungseinrichtungen finanziert und ein Austausch und eine Kollaboration ermöglicht.

Tradierte Vorgehensweise vs. Künstlerische Experimente

Das Denken und Arbeiten in Netzwerken und Teams ist also keine Modeerscheinung, sondern die erprobte Grundlage kreativen Schaffens, die die Entwicklung von Innovationen fördert. Es gibt eklatante Unterschiede zwischen naturwissenschaftlichen Lösungsfindungsprozessen im weitesten Sinne einerseits, die auf Wissen und Erfahrung basieren und eine logische Kombination feststehender Zutaten umfassen, und kreativen Schaffensprozessen andererseits, die durch Impulse von Außen angestoßen werden und häufig eine Abwendung oder zumindest eine Neuordnung von bisherigen Vorgehensweisen beinhalten. Künstlerische Forschung beispielsweise versucht alle Elemente des Prozesses zu hinterfragen und neue Lösungswege z.B. durch Experimente herbeizuführen.

In kreativen Branchen und in manchen Start-ups finden wir Beispiele für diese kreativen Schaffensprozesse: Hier werden durch ein ergebnisoffenes, experimentelles Vorgehen agile Strukturen etabliert: Zentral dafür ist ein freier strukturierter Arbeitsprozess, der auf branchenfremde Expert*innen und disziplinenübergreifende Kommunikation zurückgreift und Scheitern erlaubt.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch die amerikanische Psychologin Alison Gopnik: Sie untersuchte 2016 kreative Lösungsfindungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. In ihrer Testreihe zeigte sich deutlich, dass Kinder eine Vielzahl von kreativen Lösungswegen versuchten, während Erwachsene sich auf pragmatische, einfache Lösungen konzentrierten. Gopnik schlussfolgert, dass wachsendes Vorwissen und sicherlich auch der emotionale Erwartungsdruck, schnell zu einer guten Lösung zu kommen, Erwachsene in ihrer Kreativität massiv einschränkt. Ohne Vorwissen und in einer stressfreien Umgebung könnten auch Erwachsene wieder lernen kreativ zu sein.

Über die eigene Branche hinaus

Jede Branche hat ihre gedanklichen Grundpfeiler. Strukturen, Umstände, Erwartungen, an denen einfach nicht gerüttelt wird. Branchenfremde haben den Vorteil, dass sie in diesem Sinne nicht vorgeprägt sind und scheinbar irrationale Vorschläge äußern können, die zu großartigen Ergebnissen führen können. Ihr Mangel an Fachwissen wird hier ein Bonus: Sie können scheinbar naive Fragen stellen und damit Prozesse kritisch beleuchten.

Ein frischer Blick ohne die berufsbedingten Scheuklappen ist für nahezu alle Aufgabenbereiche wertvoll. Um diese Entwicklungspotentiale auszuschöpfen, muss die Kommunikation mit Akteur*innen benachbarter Sparten und Branchen strukturiert angegangen werden: Es braucht die Bereitschaft, Fragen und Herausforderungen mit branchenfremden Personen zu teilen und dabei die eigene, fachliche Überlegenheit abzulegen. Darüber hinaus müssen Unternehmensvorstände, Kulturträger*innen und Förder*innen Experimente und deren Evaluierung ermöglichen – auch ein Scheitern ist eine produktive Erfahrung und birgt wertvolles Wissen, das systematisch analysiert und festgehalten werden soll. Ähnlich wie in der Natur die Biodiversität ein hohes Gut darstellt, benötigen Teams eine heterogene Zusammensetzung – was nicht bedeutet, dass die Zusammenarbeit immer harmonisch und konfliktfrei abläuft.

Wie lässt sich nun die Dynamik heterogener Teams nutzen?

  1. Durch die Begegnung auf Augenhöhe trotz fachlicher Unterschiede.
  2. Durch die Bereitschaft in die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache und ein Teambuilding zu investieren.
  3. Durch die Bereitschaft, die eigene Komfortzone zu verlassen.
  4. Durch die Überzeugung, Spannungen im Team als Chance nutzen zu können.
  5. Indem der gemeinsame Rahmen (mögliche Ziele, Zeitumfang, Form der Zusammenarbeit, …) festgelegt wird.

Kreative Kollaborationen

Eine Vielzahl von Kreativitätstechniken orientiert sich an  künstlerischen Denk- und Arbeitsweisen von Künstler*innen um gezielt Emotionen, scheinbar spontane und willkürliche Impulse sowie Ideen zu fördern. Und es ist kein Zufall, dass diese Techniken immer populärer werden: Das Denken in tradierten Strukturen und die Orientierung an Vorwissen kann den riesigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr gerecht werden. Da wir im Kulturbereich ähnlich wie Wissenschaft und Wirtschaft auch abhängig von einer Weiterentwicklung unserer Inhalte, Strukturen, Zielgruppen sind, ist es an der Zeit, unsere Stärken zu kombinieren und einen intensiven und offenen Austausch als Basis für interdisziplinäre Kooperationen zu beginnen.

Die Erforschung und Anwendung von Künstlicher Intelligenz (in der Kultur) zielt nicht primär auf den Ersatz von menschlichen Künstler*innen durch Technik, sondern fokussiert die Kollaboration als vielfältiges Werkzeug. Es geht um den LINK zwischen Mensch und Maschine, die Verbindung zwischen unterschiedlichen Kultursparten und scheinbar gegensätzlichen Branchen. Das Ziel ist die Bündelung von Netzwerkpotenzialen und dem gemeinsamen Lernen voneinander. Denn: Die Zukunft gehört nicht den Starken oder Mutigen – sondern den Kommunikativen.

Autorin

Foto: Katrin Ribbe

Dr. Tabea Golgath ist Referentin für Museen und Kunst und koordiniert seit 2018 das Förderprogramm LINK – KI und Kultur der Stiftung Niedersachsen. Sie promovierte zu nachhaltigen Vermittlungsmethoden in Geschichtsmuseen und führte seit 2007 kontinuierlich Lehraufträge am Historischen Seminar und dem Zentrum für Lehrerbildung der Leibniz Universität Hannover und am Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Universität Basel durch. Sie engagiert sich für die Erschließung von KI-Anwendungen in der Kultur und die zukunfts- und nutzerorientierte Weiterentwicklung von Kultureinrichtungen durch Interdisziplinarität, Agilität und Digitalität.