Gamification: »Du auch hier?«
Digitalisierung: »Ich bin so müde.«
Für alle, die sich in den letzten Jahren auch nur am Rande mit digitalen Technologien beschäftigt haben, besteht spätestens seit der Pandemie kein Mangel an Gelegenheiten, sich zu einem Vorgang zu äußern, in den weite Teile der Welt involviert sein sollen. Gemeint ist Digitalisierung. Was ist mit diesem Begriff gemeint, der so unterschiedliche Lebensbereiche wie Kultur, Bildung, oder auch Verwaltung berührt?
Ursprünglich bezeichnete Digitalisierung den Transfer von Inhalten von älteren analogen Medien in neuere digitale Formate. Im Verlauf des letzten Jahrzehnts hat der Begriff jedoch eine enorme Ausweitung erfahren, und meint nun nicht mehr nur die Übertragung von Medien, sondern die Transformation ganzer gesellschaftlicher Bereiche. »Analoge« Abläufe, Infrastrukturen und Prozesse sollen so verändert werden, dass sie »digital« werden, also von nun an möglichst unter Einbeziehung von vernetzten Computern stattfinden.
Warum? Zuweilen wird angeführt, dass Dinge »nach« der Digitalisierung effizienter, schneller, flexibler, partizipativer, spielerischer oder transparenter werden und insgesamt einfach besser laufen. In der Pandemie kam noch das reduzierte Infektionsrisiko dazu und die Möglichkeit, mit weniger Reisekosten (und den damit verbundenen Emissionen) verteilt auf der Welt zu interagieren.
Ich vermute aber, dass sich oftmals hinter dieser Vielfalt von (sich teilweise widersprechenden) Motivationen eigentlich eine andere, grundlegendere, Hoffnung verbirgt. Nämlich die Hoffnung, einer scheinbar unaufhaltsam auf uns zurollenden Transformation durch eine einzige, klar definierte Kraftanstrengung zu begegnen – bei der noch dazu alles beim Alten bleiben kann. Wenn wir nur diesen Schalter finden würden, mit dem wir die Digitalisierung in unserem Bereich aktivieren könnten, könnten wir das erhalten, was wir haben. Ich denke, wer von Digitalisierung spricht, äußert meist eine im Grunde konservative Weltsicht. Digitalisierung ist gerade keine »Innovation«, sondern die Hoffnung, dass uns Innovation verschont bleibt, wenn wir uns »korrekt« anpassen.
Als Game-Designer und Festivalmacher, der mit Spielen primär im Kunst- und Kulturbereich arbeitet, habe ich eine ähnliche Dynamik schon mal an anderer Stelle erlebt. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass anhand von Spielen oft Dinge verhandelt werden, die später noch einmal in allgemeinerer Form relevant werden.
So schwappte etwa zu Beginn der 2010er Jahre der Begriff »Gamification« aus den USA nach Deutschland. »Mach’ ein Spiel daraus« galt damals als innovative Lösung. Alles – vom Erste-Hilfe-Kurs bis zur Steuererklärung – sollte besser werden, wenn man nur Bonus-Punkte verdienen und von Level zu Level aufsteigen konnte.
Zwar wollte kein*e Spiele-Designer*in, der*die etwas auf sich hielt, etwas mit Gamification zu tun haben, und der Game-Designer und Spielforscher Ian Bogost hat mit seinem rant »Gamification is Bullshit« schon 2011 beschrieben, dass hinter Gamification oft pures Marketing steckt. Trotzdem fasste der Begriff auf deutschen Konferenzen und zuweilen sogar an Universitäten und im Kulturbetrieb Fuß.
Denn die Leute, die Gamification vertraten, interessierten sich trotz ihrer angeblichen Faszination für Games eigentlich nicht für Spielkultur. Vielmehr ging es um die oberflächliche Applikation von psychosozialen Techniken wie Belohnugssysteme und Wettbewerbslogiken, um existierende Prozesse zu optimieren. Die Hoffnung: Wenn sich dass, was wir ohnehin machen, wie ein Spiel anfühlen würde, müssten wir uns nicht mehr Fragen, ob das, was wir tun, das richtige ist.
Gamification und Digitalisierung gehen also von einem ähnlichen Unbehagen aus – dass wir nicht mehr zeitgemäß sind, und etwas tun müssen, um wieder aktuell zu erscheinen. Und dass wir dieses Problem lösen können, indem wir unsere als veraltet erlebte Logik in eine neue – die des Spiels, oder die des Digitalen – übersetzen können. Das Problem ist nur, das sowohl das Spiel, als auch digitale Technologie eigene Logiken, Traditionen, Zwänge und Erfahrungsmodi mitbringen, die sich einer solchen Übersetzung verweigern.
Was aber ist die Alternative? Wie soll es mit »der Kultur« weitergehen, wenn sie auf »Digitalisierung« verzichten würde? Und wie können wir hier von spielerischen Formen im Kulturbetrieb lernen, die – statt dem Versprechen von Gamification zu folgen – aus einem genuinen Interesse an Spiel entstehen?
Hier sind zumindest ein paar Vorschläge:
1. Kunst statt Technik. Den Einsatz von digitaler Technologie im Kulturbereich zu gestalten, ist keine technische, sondern eine künstlerisch-kreative Herausforderung.
2. Nicht einmal, sondern fortlaufend. Statt von einem einmaligen Digitalisieriungs-Vorgang auszugehen, sollten wir uns daran gewöhnen, dass sich digitale Technologien und die damit assoziierten Nutzungsgewohnheiten permanent verändern, und – genau wie nicht-digitale Verfahren, Techniken und Praktiken – fortlaufender Pflege, Befragung und Weiterentwicklung bedürfen. Die Arbeit mit digitaler Technologie ist ein langfristiges Vorhaben und eine fortlaufende, explorative Bewegung. Genau gleich verhält es sich mit spielerischen oder partizipativen Ansätzen und Kulturinstitutionen. Wir sollten aufhören davon auszugehen, dass man hier mit einmaligen Projekten etwas erreichen kann.
3. Kein Ersatz, sondern Addition. Wenn wir in der Kultur mit digitaler Technologie arbeiten wollen, sollten uns für das genuin »neue« an digitalen Technologien interessieren. Statt uns nur dafür zu interessieren, wie existierende Vorgänge digitalisiert werden können, sollten wir sensibel dafür werden, an welchen Stellen digitale Technologie spezifisch neue Erfahrungen hervorrufen und Möglichkeiten eröffnen kann – gerade auch jenseits von Bildschirmen. Die Einbeziehung von digitaler Technologie ist kein Ersatz, sondern eine Addition. Das heißt aber auch: Prozesse werden nicht einfacher, wenn man digitale Technik ins Spiel bringt.
4. Nichts ist automatisch inklusive. Wir sollten aufhören anzunehmen, dass der Einsatz von digitalen Mitteln automatische zu bestimmten Effekten führt. Weder digitale Technik noch spielerische Formate erklären sich «von selbst« und brauchen keine Vermittlung. Partizipation entsteht nicht automatisch, wenn eine Chat-Funktion im Live-Stream aktiviert wird. Stattdessen sollten wir uns fragen, was wir genau wollen, wenn wir von Digitalisierung sprechen. Geht es darum, etwas aus der Ferne mitzuverfolgen? Oder geht es um mehr Spiel, Interaktion oder Partizipation?
5. Den Wert von neuen, unbekannte Konstellationen erkennen. Statt von einer Übertragung von »analog« in »digital« auszugehen, sollten wir uns die Zeit nehmen, um auszuprobieren, was wir mit neuen Kombinationen aus verschiedenen »analogen« und »digitalen« Mitteln machen können. Wie sich neue Kombinationen aus alten und neuen Medien auswirken und anfühlen, lässt sich aber nicht vorhersehen. Wie auch? Genau wie bei der Entwicklung von neuen Spielen bedarf es eines experimentellen Vorgehens – mit Raum zum Scheitern, Mut zur Einbeziehung von Test-Nutzenden, Bereitschaft den Kurs zu wechseln und Offenheit für Überraschungen.
Schon klar, all diese Vorschläge sind nicht einfach umzusetzen. Aber ich persönlich freue mich schon darauf, wenn Digitalisierung nicht mehr in aller Munde ist, und wir sie gemeinsam mit Gamification in ihrer Bar einschlafen lassen können. Vielleicht können wir dann ja mit der eigentlichen Arbeit beginnen.
Dieser Text basiert auf einem Impuls-Beitrag für die AG »Das (digitale) Publikum« – beim Bundesforum des Bündnisses für Freie Darstellende Künste, im September 2021.
Sebastian Quack arbeitet als Künstler, Game-Designer und Kurator an der Schnittstelle von Spiel, Partizipation und urbaner Politik. Er ist Direktor des Now Play This Festival für experimentelles Game-Design am Somerset House in London, ist Gründungsmitglied des Netzwerks Invisible Playground, leitet Trust in Play, European School of Urban Game Design, und ist Mitbegründer von Drift Club, einer Plattform für zufällige musikalische Spaziergänge. Im Projekt Offene Welten entwickelt er gemeinsam mit Museen Tools für digital unterstützte Erfahrungen im Stadtraum. Regelmäßig unterrichtet er Kunst und Design und berät Organisationen, die spielerisch mit der Welt um sie herum in Kontakt kommen wollen. Quack lebt und arbeitet in Berlin.