Kulturelle Infrastruktur im Zeichen von Corona

2. Dezember 2020
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Zur Stillstellung der Kultur bei forciertem Betrieb
Staat und Gesellschaft, Institutionen und Systeme befinden sich in einem Ausnahmezustand. Die Auswirkungen der Pandemie auf die kulturelle Infrastruktur sind noch gar nicht vollends abzusehen, doch ist jetzt schon klar, dass wir unwiederbringlichen Verlusten ins Auge sehen müssen. Der einfache Satz: »In jeder Krise stecken auch Chancen«, erweist sich meist als richtig, doch bei allen Chancen, die die coronabedingte Digitalisierung für die weitere Entwicklung etwa auch mit Blick auf die Klimakrise mit sich bringt, müssen wir uns fragen, welche gesellschaftlichen Wirkungen das »Stillstellen der Kultur bei forcierten Betrieb« hat. Erinnert sei zunächst an eine von der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« entwickelte grundlegende Idee und Denkfigur: Der Kulturstaat Deutschland basiert auf der »kulturellen Infrastruktur«. Deren Erhalt und Vitalität gehört zum Kern staatlicher Verantwortung für Kunst und Kultur.



Drei Sektoren – sehr unterschiedliche Folgen
Die kulturelle Infrastruktur besteht beileibe nicht nur aus öffentlichen Kulturinstitutionen, sondern auch aus privat-kommerziell ausgerichteten Kulturbetrieben (z.B. Privattheater, Musicals, Filmwirtschaft, Kinos) und den in diesen Strukturen wirkenden Künstlerinnen und Kulturschaffenden (inzwischen bekannter unter der Bezeichnung »Solo-Selbstständige«). Insgesamt haben in diesen Bereichen mehr als 1,5 Millionen Menschen ihr Ein- und Auskommen.

Während die öffentlichen Kultureinrichtungen durch staatliche Zuschüsse sowie Kurzarbeit zumindest im Bestand gesichert sein dürften, sind die anderen Bereiche der kulturellen Infrastruktur derart massiv betroffen, dass kaum mehr vorstellbar ist, dass diese sich davon irgendwann erholen werden, bis auf wenige Ausnahmen. So addieren sich etwa die Verluste bei dem weltweit erfolgreichsten ›stehenden‹ Musicalbetrieb »Starlight-Express« auf mehrere Millionen Euro, über 230 Beschäftigte sind seit März in Kurzarbeit, die Wieder-Inbetriebnahme würde mindestens 2 Mio. Euro Anlaufkosten verursachen, und eine rentable Zuschauerinnenzahl liegt bei deutlich mehr als 1000.

Immer mehr wird bewusst, dass der ›Wirtschaftskreislauf‹ in der Kultur- und Veranstaltungswirtschaft dermaßen beeinträchtigt ist, dass staatliche Finanzhilfen die eintretenden Einnahmeverluste nicht annähernd ausgleichen können, da sich diese über den Zeitverlauf auf dreistellige Milliardensummen addieren würden.

Kunst und Kultur sind systemimmanent
Auch in diesem kurzen Einwurf kann keine Lösung für diese Katastrophe entwickelt werden, doch sei auf eine weitere grundlegende Themen- und Fragestellung hingewiesen, die in der öffentlichen Debatte stärker diskutiert werden müsste und auch eine Perspektive auf die gesellschaftlichen Folgen zu eröffnen sucht: Bisher stehen vor allem und durchaus zu Recht die Konsequenzen des Lock-Downs für die Kulturschaffenden und -betriebe im Fokus. Dabei hat der Begriff »Systemrelevanz« Konjunktur. Angebote von Kunst und Kultur sollen nach den jüngsten politischen Entscheidungen offensichtlich nicht in diese Kategorie gehören.

Indes stellt sich die Frage, welches System jeweils angesprochen wird, für das etwas anderes relevant sein soll. Kunst und Kultur sind zwar letztlich nicht relevant für das reine ›Überleben‹. Sie sind aber systemimmanent für unser Leben schlechthin. Der Austausch von Bildern, Musik, Emotionen, die Begegnungen und das ›Miteinander‹ sind essentiell, machen das menschliche Leben aus.

Kunst und Kultur bieten Freiräume für die Entfaltung des Einzelnen und die Reflexion der die Gesellschaft verbindenden Werte. Oder wie es die UNESCO ausdrückt: Kultur kann »als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen.«

In und durch die Kultur verhandelt die Gesellschaft ihre Regeln, wird sich der Einzelne seiner selbst bewusst. Um noch einmal die UNESCO zu zitieren: »Erst durch die Kultur werden wir zu menschlichen, rational handelnden Wesen, die über ein kritisches Urteilsvermögen und ein Gefühl der moralischen Verpflichtung verfügen. Erst durch die Kultur erkennen wir Werte und treffen die Wahl.«

Unsere Werte – Recht auf Freiheit! – Recht auf Risiko?
Angesichts dieses Textes frage ich nach den Werten, die das menschliche Zusammenleben prägen: Müssen wir nicht zu einer neuen Abwägung kommen zwischen der Freiheit von Kulturinstitutionen, Angebote zu machen, sowie der Freiheit des Einzelnen, diese wahrzunehmen auf der einen Seite, gegenüber der Sicherheit von Individuen und Gemeinschaften, die durch Regeln und systemische Eingriffe garantiert werden sollen, auf der anderen Seite.

Alle Appelle der Politik zielen auf diesen einen Punkt: Es kommt auf die Haltung jedes Einzelnen an. Und uns ist bewusst: Ein Verhalten zu entwickeln und zu praktizieren, das auf einer klugen Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit basiert, ist nicht nur das Gebot der Stunde, sondern eine kontinuierliche Herausforderung. Doch gerade in und durch Kultur lernen wir uns ›regelrecht‹ zu verhalten. Etwas banaler ausgedrückt: Wo sonst, wenn nicht in der Gemeinschaft können wir unser Verhalten einüben? Erst gemeinsam mit anderen lernen wir die »Begegnung auf Abstand« und mit den gesundheitlichen Risiken richtig umzugehen.

Wenn wir also in und durch Kultur erkennen, wie wir die Rechte auf freiheitliche Entfaltung, das Recht auf Risiko und das Recht auf Sicherheit sowie Schutz vor gesundheitlichen Schäden in Einklang bringen können, dann bedarf es zwingend dieser öffentlichen Orte der Begegnung, der Reflexion und des Austausches, in denen erkannt, erörtert und erlebt werden kann, wie wir die Spannung zwischen individueller Freiheit und Beschränkung künftig gestalten wollen. Dabei geht es nicht nur um die aktuelle Pandemie, sondern langfristig auch um letztlich ebenso bedrohliche globale Problematiken wie die des Klimawandels, zu deren Bewältigung es ebenfalls auf individuelles Verhalten in der Gemeinschaft ankommt.

Entscheidungen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Ethik
Die »Systemimmanenz« von Kultur als Lebenselement erkennend stellt sich daher die Grundsatzfrage: Ist es nicht gerade jetzt Aufgabe des Staates, den Kulturinstitutionen, den Kulturschaffenden und den Kulturbürger*innen die Freiheit und die Ermächtigung zu geben, je individuell die Abwägung zwischen Freiheit, Risiko und Sicherheitsgarantien eigenverantwortlich auszuüben, selbstredend unter Beachtung allgemein gültiger Regeln (Hygienekonzepte, Abstand etc.)?

Warum werden dann Museen geschlossen, die sich wie kaum andere öffentliche Räume regulieren lassen und den sorgfältigen Umgang mit dem Anderen – ob Mensch oder Objekt – lehren? Diese Maßnahme ist verfassungsrechtlich mehr als bedenklich, ja unverhältnismäßig, da sie Freiheitsrechte einschränkt, ohne dass damit nachweislich der gewünschte Effekt einer drastischen Reduzierung des Infektionsrisikos eintritt. Dass die Museumsschließung von der Kultusministerkonferenz in Verschärfung der von der Bundeskanzlerin moderierten Ministerpräsidentenkonferenz beschlossen wurde, zeigt wie stark inzwischen der Blick auf Zahlen und naturwissenschaftliche Erkenntnisse (mit der Frage: Was ist das wissenschaftlich Richtige?) den Blick der Politik bestimmt, die vor allem auch danach fragen sollte: Was ist das ethisch Gute für die Gemeinschaft?

Leitlinie für kluge Regelungen sollte sein, dass Freiheit ›richtig‹ ausgeübt und gelebt werden kann, also bei gleichzeitiger Beachtung deren Grenzen, vor allem dann, wenn Gesundheit, Umwelt oder auch soziale Gerechtigkeit nachweislich gefährdet werden. Wird dies eine ›Idealvorstellung‹ bleiben oder wird die Pandemie der Anlass sein, unsere Werte und Ideale aufzugeben? Im Straßenverkehr haben wir solcherart Abwägung von individueller Freiheit und allgemeiner Sicherheit über ein Jahrhundert praktiziert, Regeln aufgestellt und eingeübt und damit Leib und Leben schützen gelernt. Im Umgang mit der Pandemie haben wir indes nicht mehr viel Zeit.

Digitalisierung stärkt den mentalen Kapitalismus
Wenn jetzt nicht ein strategisches Umdenken Platz greift, kann sehr rasch eine radikale Folge eintreten: Die kulturelle Infrastruktur wird nicht mehr lebensfähig sein. Und eine unerträgliche weitere Folge ist absehbar: Es werden diejenigen immer machtvoller werden, die die Knotenpunkte des mentalen und digitalen Kapitalismus im Internet beherrschen, weil sie das Individuum in den privaten Räumen digital noch intensiver beeinflussen können als je zuvor, gerade so wie sich das Virus jetzt privat im viel schneller unkontrolliert verbreitet als in offenen (hygieneregelgerechten) Kultureinrichtungen. 

Autor

Foto: Anke Beims

Prof. Dr. jur. Oliver Scheytt, Essen
geschäftsführender Inhaber KULTUREXPERTEN. Er war von 1997 bis 2018 Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V.

Dieser Essay wurde bereits in »Politik&Kultur. Zeitung des Deutschen Kulturrates«, Ausgabe 12/2020 veröffentlicht.


Sich nützlich machen für das gesellschaftliche Zusammenleben

27. November 2020

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Neue Leitbilder für öffentlich getragene Kultureinrichtungen

Schmerzlich ist uns im zweiten Lockdown bewusst geworden, dass die Kultureinrichtungen nicht zu den systemrelevanten Organisationen gehören, sondern dem Freizeit- und Unterhaltungssektor subsumiert werden – und damit als temporär verzichtbar gelten.

Anders als in vielen anderen Ländern sorgt der Staat in Deutschland jedoch auch in der Pandemie für den Erhalt der Kulturlandschaft und das Überleben der Kunstschaffenden. Er zahlt Künstler*innen, Kulturschaffenden und ihren Organisationen einen finanziellen Ausgleich dafür, dass sie nicht arbeiten dürfen. Der »paternalistische Kulturstaat« kümmert sich auch in der Krise um die auskömmliche Finanzierung, wenngleich natürlich in sehr unterschiedlichem Maße je nach Sektor und institutioneller Zugehörigkeit, knüpft daran aber keine Forderungen und Ansprüche, sondern belässt die von ihm geförderten Kultureinrichtungen in ihrer gesellschaftlichen Nische.

Ohne diese Entscheidung überhöhen zu wollen, kann man sie zum Anlass nehmen, danach zu fragen, welchen Stellenwert und welchen wahrgenommen Nutzen Kunst und Kultur in unserer Gesellschaft haben.

Wie werden Kultureinrichtungen wahrgenommen in der Bevölkerung und welche Einstellungen gibt es zur öffentlichen Kulturförderung?

Repräsentative Bevölkerungsbefragungen zeigen immer wieder neu, dass nur eine kleine Gruppe der Bevölkerung von maximal 10 Prozent, größtenteils hoch gebildet und aus bestimmten sozialen Milieus, zu den regelmäßigen Nutzer*innen der außerhäusigen klassischen Kulturangebote gehören. Dies bestätigt auch eine Theater-Studie der Autorin (Mandel 2019): Nur wenige gehören zu den Viel-Besucher*innen von Theatern, über die Hälfte zu den Nicht-Besuchern. Nur ein Drittel der Bevölkerung ist an klassischen Kulturangeboten wie Theatern interessiert – überdurchschnittlich Frauen, ältere Menschen, formal hoch Gebildete und Großstadtbewohner*innen.

Zugleich gibt es aber hohe Zustimmung zur öffentlichen Förderung von Theatern in allen Bevölkerungsgruppen, auch bei vielen, die diese Orte selbst nie besuchen: Knapp 90 Prozent plädieren dafür, die öffentliche Förderung mindestens auf bisherigem Niveau fortzusetzen, wobei es die geringsten Zustimmungswerte bei den jüngeren Generationen gibt. Als wichtigste Erwartungen an öffentliche Kultureinrichtungen wie Theatern werden Kulturelle Bildung vor allem für Kinder und Jugendliche und hohe Zugänglichkeit genannt. Wenige gehen hin, viele finden sie gut! Auch wenn die meisten sich persönlich nicht für den Besuch interessieren, werden Einrichtungen wie Theater offensichtlich als wichtig für die Gesellschaft erachtet.

Das ist eine gute Basis für Kultur in Deutschland, denn es zeigt die hohe Wertschätzung auch für klassische Kultureinrichtungen, weist aber zugleich darauf hin, dass diese Wertschätzung eher abstrakt und wenig auf eigenen Erfahrungen fußt.

Wie können die Potentiale des Kunst- und Kultursektor nicht nur stärker sichtbar werden in der Öffentlichkeit, sondern tatsächlich auch stärker genutzt werden als Ressource für das gesellschaftliche Zusammenleben?

Die Künste zu instrumentalisieren für »kunstferne« Zwecke ist in Deutschland ein »No Go« im Fachdiskurs. Um ihre Autonomie zu erhalten, wird notfalls auch ein Nischendasein in Kauf genommen. Das Paradigma der Zweckfreiheit der Künste, die diesen zweifelsohne inhärent ist und ihre spezifische Qualität ausmacht, wird oftmals ausgeweitet auf die Kultureinrichtungen. Diese sollen in einer Art Schonraum hohe Qualität gemäß fachspezifischer Standards produzieren, unabhängig von profanen Bedürfnissen potentieller Besucher*innen nach sozialem Austausch, Unterhaltung, Niedrigschwelligkeit, Anregung für aktuelle Fragen.

Wenn wir Kulturpolitik im Sinne des Mission Statements der KupoGe aber tatsächlich als Gesellschaftspolitik verstehen, dann betrifft sie alle Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Öffentlich geförderte Kultureinrichtungen hätten damit auch Verantwortung für sozialen Zusammenhalt, für kulturelle Bildungsprozesse, für Stadtentwicklung, für nachhaltiges Leben und Wirtschaften und vieles mehr.

Die Kulturlandschaft in Deutschland ist charakterisiert durch ihre einzigartig hohe Dichte an öffentlich geförderten Institutionen. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern sind Kultureinrichtungen damit auch in der Pandemie unter staatlicher Obhut, und es kommt nicht zu einem massenhaften Sterben wie etwa der Theater in England. Gleichzeitig fordert die hohe, kontinuierliche Förderung unserer vielen Theater, Konzerthäuser und Museen dazu auf, diese offensiver in der Mitte der Gesellschaft zu positionieren. Denn auch wenn sie rein räumlich oft in der Mitte der Stadt liegen, so bleiben sie doch für viele ohne persönlichen Bezug.

Neue Leitbilder für Kultureinrichtungen

Für die Öffnung klassischer Kultureinrichtungen sind einige neue Narrative im Gespräch, die dazu beitragen können, die eigene Mission über die Produktion und Präsentation wertvoller Kunst und Kultur hinaus zu erweitern:

Kultureinrichtungen als »Dritte Orte« im Sinne von »Home Away from Home« (Oldenbourg) überzeugen mit der Idee, ein spielerischer und niedrigschwelliger Treffpunkt zu sein, das eigene Haus als guter Gastgeber zur Verfügung zu stellen.

Eng damit zusammenhängt das Verständnis als »Dritter Raum« (Bhaba) im Sinne von transkulturellem Austausch und Zusammenbringen von Menschen, die sich sonst nicht begegnen würden in einem hierarchiefreien Raum, der dazu einlädt, gemeinsam neue Ideen für das Zusammenleben zu entwickeln.

Darauf basiert auch die Idee des »Community Building« (Borwick) – als Kultureinrichtung zur Gemeinschaftsbildung beizutragen, Menschen unterschiedlicher Gruppierungen und sozialer Milieus zusammenzubringen.

Das Narrativ der »Kultureinrichtung als guter Nachbar« (Crane) schlägt zusätzlich vor, dass sich Kultureinrichtungen gemeinsam mit anderen Akteuren der Nachbarschaft einbringen und mitverantwortlich fühlen für aktuelle Aufgaben und Herausforderungen, weit über ihren »Kunstauftrag« hinaus. Kultureinrichtungen werden damit weder zur Sozialarbeit noch zur Außenstelle von Schule, sondern sie nutzen ihre künstlerisch-ästhetischen und kulturellen Ressourcen für ein gelingendes Zusammenleben.

Alle vorgeschlagenen Leitbilder basieren auf vielfältigen Kooperationen, u.a. mit sozialen Einrichtungen, mit Stadtteilinitiativen, mit Betrieben, mit Sportvereinen, mit Jugendeinrichtungen, aber auch mit der »Freien Szene« und Amateurgruppen, die die Häuser mit nutzen könnten. Solche Erweiterungen der Mission im Sinne höherer Relevanz benötigen zudem strukturelle Veränderungen der Einrichtungen: das Aufbrechen traditioneller Hierarchien und tradierter Abteilungen; Arbeiten in flexibleren Teams; pro-aktives Bemühen um ein diverseres Personal, um unterschiedliche Perspektiven zu integrieren und neue Netzwerke in andere Bevölkerungsgruppen hinein aufbauen zu können.

Der Reichtum der öffentlich geförderten Kulturlandschaft wird nur dann zu erhalten sein, wenn die großen Einrichtungen als »Anker-Orte« begriffen werden, die anderen Kulturinitiativen Raum und Stimme geben, die Kooperationen vielfältigster Art anregen, die sich verantwortlich fühlen nicht nur für ihren eigenen Sektor, sondern für das gesellschaftliche Zusammenleben in einer Stadt oder Region. Dass damit die künstlerisch-kulturelle Qualität beeinträchtigt würde, ist eine Ausrede, die nicht länger akzeptiert werden kann.

Kulturpolitik und Kulturverwaltung können und sollten diese Transformationsprozesse, die meiner Beobachtung nach bereits einen Großteil der klassischen Kultureinrichtungen beschäftigen, aktiv unterstützen: Indem sie Freiräume für das Erproben neuer Programme und Formate einschließlich der Umverteilung von Mitteln ermöglichen, bürokratische Hürden abbauen, indem sie Diskussionen darüber führen, worin die spezifischen lokalen Bedürfnisse bestehen, indem sie Führungskräfte auswählen, die für solche neuen Leitbilder stehen, und indem sie ihre Förderung an konkrete Zielvorgaben knüpfen, die zur Qualität des kulturellen Zusammenlebens eine möglichst breiten und diversen Bevölkerung beitragen.

Autorin

Prof. Dr. Birgit Mandel, Hildesheim

Direktorin Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim

Kulturinfarkt revisited?

25. November 2020
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»Es wird die gleiche Welt sein, nur ein wenig schlimmer«

Michel Houellebecq

»Unsere Kultur geht auf keine Kuhhaut«

Hans Magnus Enzensberger (1997)

Die Corona-Pandemie hat Gesellschaft und Ökonomie weltweit erschüttert. Wie weiter? Die einen wollen so schnell wie möglich zurück zu einer wie immer definierten früheren ›Normalität‹ – die anderen fragen sich, ob diese Krise nicht eher Chancen berge, Neues zu denken und umzusetzen. In der Kulturpolitik laufen solche Überlegungen wie üblich eher verdeckt. Niemand, der am öffentlichen Geldhahn sitzt, soll irritiert werden. So sieht man an der Oberfläche nur das Bemühen der Verbände und ihrer Vertreter, Rettungsprogramme zu aktivieren; gerettet werden soll, was da ist. Und der Bund rettet.

Aber diese Rettungsprogramme lösen die strukturelle Krise, in der sich Kulturpolitik und Kulturfinanzierung schon lange befinden, nicht; sie verlängern sie. Nach dem Auslaufen der Rettungspakete wird die kulturpolitische Überforderung über uns als weitere Welle hereinbrechen. Beim absehbaren Rückgang öffentlicher Ausgaben nach dem ›großen Wumms‹ und dem kleineren im Herbst und dem, was noch kommen mag, besonders bei Kommunen und Ländern, wird sich diese Krise nicht mehr durch öffentliches Geld zugedeckt lassen. Die Vorstellung, dass sich strukturelle Probleme dank immer mehr Geld verflüchtigen, wird sich als die große Illusion entpuppen. Da passt es gerade, dass die Kultur – auch – das Reich der Fiktionen ist.

International, wo der ›Wumms‹ nicht so riesig daherkommt, wird schon jetzt über Kürzungen in der Hochkultur im Abgleich mit anderen Politikfeldern offen diskutiert. Ist Kulturpolitik hierzulande in der Lage, die Zukunft zu gestalten, notwendige Veränderungen und Reformen voranzutreiben, auch zulasten von einer Reihe von Kulturakteuren und -einrichtungen – oder entscheiden dies einmal mehr die Finanzminister und Stadtkämmerer? Im Folgenden sind nur einige der Felder angesprochen, in denen sich Neues denken und tun lässt.

Haushaltskonsolidierungen
Nach der Bazooka kommt das Aufräumen (das haben Militärmetaphern so an sich), eine neue Runde von Haushaltskonsolidierungen. Alte Erfahrungen sagen: Erst werden die Pflichtaufgaben abgedeckt, dann langfristig geschlossene Verträge bedient. Für die Kultur heißt das: Große Einrichtungen, Stadttheater, Museum, Stadtbibliotheken sind besser abgesichert als das Kleine, Experimentelle, nicht institutionell Geförderte. Wer immer schon bekommen hat, wird auch weiterhin bekommen – Neues wird »auf den Markt« verwiesen.

Solche Haushaltskonsolidierung macht alte Fragen wieder aktuell: Nach welchen Kriterien wird gefördert? Welche öffentlichen Zwecke werden verfolgt? Entsprechen die geförderten Strukturen den Kriterien, den kulturpolitischen Zielen? Oder sind die Ziele praktischerweise eine Funktion der gegenwärtigen Verteilmechanismen, ohne auch nur einen Hauch der ideen- und sozialgeschichtlichen Voraussetzungen eben dieser – gemäß Sprachregelungen – immer »historisch gewachsenen« öffentlichen Haushalte zu diskutieren? Wird die hergebrachte Verteilung der Mittel (98 Prozent gebunden für die großen Institute, 2 Prozent für die Unabhängigen) diesen Kriterien und öffentlichen Zielen gerecht?

Systemrelevanz
Jede kulturelle Einrichtung, Initiative, jedes Projekt und jede und jeder Beteiligte definieren sich heute als systemrelevant. Systemrelevanz wird als Synonym benutzt für den Anspruch auf staatliche Unterstützung und, aktuell, Corona-Nothilfe. Doch so viel Relevanz trübt den Blick auf die Unterschiede. Systemrelevanz bedeutet nicht, dass alles, was zum System gehört, auch relevant ist. Im Gegenteil, Systemrelevanz kann nur jenen Teilen zukommen, ohne die das System zusammenbricht. Anders rum: Vieles könnte weg, und das System als Ganzes würde sogar an Relevanz gewinnen.

Gerade der Corona-Lockdown hat gezeigt, mit wie wenig es ginge … wenn ein wenig auch dank digitaler Surrogate. Und der Lockdown light trifft die performative Kulturszene wie der erste. Die kulturpolitischen Schlüsselfragen lauten deshalb: Was muss das Kultursystem leisten? Welches sind seine – ideengeschichtlich, bildungsbezogenen, sozialpolitisch – relevanten Teile? Gibt es einen »Versorgungsauftrag«, wer formuliert(e) ihn? Wie verhält sich der Auftrag zur wachsenden Mobilität und zum digitalen Medium? Welche Formel finden wir, solche Relevanz periodisch neu zu definieren?

Welche Rolle kommt hier dem Markt zu, der Bereitschaft der Nutzer*innen, angemessene Preise zu bezahlen? Denn es entstehen neue Bereiche wie die digitalen Erlebniswelten, die Zeit und Aufmerksamkeit absorbieren. In der Kultur bleibt das Alte neben dem Neuen bestehen. So wächst das Angebot umgekehrt proportional zum Publikum. Das ist kein Problem, solange das Publikum allein für die Finanzierung aufkommt.

Doch die Kultur ist ein Musterbeispiel für die Verteilung der Lasten auf alle, auch auf die Nicht-Beteiligten. Alte Spitäler reißt man ab, alte Flughäfen werden zu Innovationsparks umfunktioniert. Historisch gibt es nur ein Beispiel, das wie die Kultur funktionierte, und es ist eng verwandt: die Kirche. Auch hier stellte man die neue neben die alte. Was weder die eine noch die andere besser füllte oder ihre Relevanz steigerte.

Woraus sich die Grundfrage jeder Politik ableiten lässt: Ist es ein Naturgesetz, dass der Staat Einfluss und Verantwortung immer weiter ausdehnt und damit die Kultur einer Leistungsplanung unterwirft? Oder ist eine Politik denkbar, die dem freien Spiel der Kräfte mehr Raum gibt und sich auf Kernbereiche und die Festlegung von Regeln beschränkt?

Beschäftigungsverhältnisse
Die Corona-Krise hat es überdeutlich gemacht: In der Kultur Beschäftigte sind nicht gleich, und das in vielerlei Hinsicht. Es gibt Künstler*innen, die in ihrem Wirken stark auf Publikum angewiesen sind: die performativen Künste, alle im Veranstaltungsbereich Tätigen usw. Andere sind nicht in gleichem Maße auf Live-Publikum angewiesen: Schriftsteller*innen, Maler*innen. Doch auch hier ist zu differenzieren: Auftritte und Lesereisen sind für manche in der Literaturbranche wichtiger Teil des Einkommens, andere leben von ihren Buchhonoraren allein. In den Nothilfeprogrammen wurde vieles über einen Kamm geschert. Wo aber ist hier zu differenzieren? Ist es fair, dass Kreative Übergangshilfe bekommen, andere Menschen, die durch die Pandemie in Not geraten sind, aber auf das soziale Netz verwiesen sind? Nach welchem Kriterium wird man hier Künster*in? Kann da jede*r mitmachen?

Und dann gibt es auch in der Kultur gut abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse, etwa im Orchester, im Theater, in den Museen – aber eben auch jene Selbstständigen, die den gut abgesicherten großen Einrichtungen zuarbeiten. Erstere vor allem kommen recht gut durch die Krise; wo der Staat 80 bis 90 Prozent der Kosten deckt, leiden die Beschäftigungsverhältnisse zuletzt, auch wenn Corona-bedingt nicht gespielt wird. Wie aber entstand jener Kreis von freien Berufen rund um die etablierten Institutionen? Geht es hier ähnlich zu wie in der Fleischwirtschaft mit einer Kernbelegschaft und einer Corona von Scheinselbstständigen?

Organisations- und Führungsstrukturen
Kulturbetriebe sind sehr unterschiedlich verfasst – die Skala reicht vom markt- und gewinnorientierten Privatbetrieb, von der Stiftung bürgerlichen Rechts über den e.V. ohne fiskalische Zuschüsse und den e.V. mit solchen. Manche Betriebe bekommen öffentliche Mittel als Projektförderung, andere als institutionelle Förderung, und die Krone der betrieblichen Schöpfungen in öffentlicher Kulturhand sind nach wie vor die Stiftungen öffentlichen Rechts und schließlich auch, immer noch, die Behörde. Das Gipfelamalgam beider Institutionalitäten bildet die Stiftung Preußischer Kulturbesitz – passend zur Pause zwischen den beiden Pandemie-Wellen kam das Gutachten, das die Entschlackung der aufgeblasenen Stiftung empfiehlt.

Doch die auf Bundesebene für Kultur zuständige Staatsekretärin Grütters nutzt ganz offenbar einzig die aus diesem Befund auch erwachsende Chance, persönliche Machtbereiche während der pandemischen Zeiten innerhalb der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ›zuständigkeitshalber‹, auszubauen. Sie vergibt die Chance, die das Gutachten des Wissenschaftsrates an die Hand gibt: über Strukturen und damit verbundene Betriebsformen in der Kultur, hier im größten deutschen Kulturbetrieb, konkret nachzudenken.

Passen bürokratische Betriebsformen und Führungsstrukturen eigentlich zu kulturellen Inhalten? Zum kritischen Auftrag? Theater, aber auch mancher Museumsbetrieb, sind auf die Persönlichkeit einer künstlerischen Leitung, einer Intendanz zugeschnitten: Der kulturelle Zwölfender (das sind inzwischen auch Zwölfenderinnen) tritt auf die Lichtung. Zum Grundverständnis gehört, dass es Führungsprobleme nicht gibt. Diese Position bringt weitgehende Durchgriffsrechte und fast diktatorische Vollmachen mit sich.

Passt das zur Kulturvermittlung, zum Partizipations- und Inklusionsauftrag, der Empathie und Flexibilität des Diskurses voraussetzt? Manche Beispiele zeigen, dass solche Führung schnell problematisch werden kann. Wie also soll ein Kulturbetrieb aussehen? Welche Form, welche Führung passt zu welcher Aufgabe und Kunstsparte im öffentlichen Kulturbetrieb? Wo können unternehmerische Formen eingesetzt werden, wo der öffentliche Betrieb abgestreift werden?

Kulturelle Bildung
Vor ca. zehn Jahren begann die Karriere dessen, was man Kulturelle Bildung nennt. So richtig verstanden hat den Begriff bislang niemand. Kulturpolitisch meint man mit dem Hinweis auf die dringende Erfordernis Kultureller Bildung, dass bildnerisches Gestalten wie gleichermaßen Musizieren, Singen und Tanzen, möglicherweise auch Schauspielern und Rezitieren in allen Sozialisationsprozessen nützlich sind und deswegen keinesfalls vernachlässigt werden dürften.

Die Richtigkeit dieser Einsicht steht in einem merkwürdigen und offenbar irgendwie nicht (jedenfalls bislang nicht mit politischen Mitteln) beseitigbaren Widerspruch dazu, dass der Aus- bis stellenweise komplette Wegfall von Unterricht in musischen Fächern in den Allgemeinbildenden Schulen ohne großen Protest hingenommen wird. Natürlich gab und gibt es Initiativen aller Art, sogar ein Rat für Kulturelle Bildung wurde vor einigen Jahren gegründet, und landauf landab entstehen Initiativen im Umfeld von außerschulischen Bildungseinrichtungen aller Art. Auch die für Kultur zuständigen Minister*innen bemühen sich dann und wann, keine Frage.

Was machen wir da alle zusammen eigentlich? Einerseits wissen alle, dass freiwillig bislang niemand auf Regelunterricht in musischen Fächern in allen europäischen Bildungssystemen der letzten Jahrtausende verzichtet hätte. Andererseits führen wir mit dem Programm zum Ausbau und zur Stärkung außerschulischer Kultureller Bildung vor Augen, dass musische Erziehung ganz offenbar im normalen Bildungsgang keinen Platz hat. Wenn es keine Schimmel mehr gibt, dann müssen eben weiße Schimmel her.

Es gibt jede Menge Antworten auf politischen Ebenen, um den begrifflichen Widerspruch nicht benennen und den offenkundigen Mangel nicht einräumen zu müssen. Von Lehrermangel ist ebenso die Rede wie von unterschiedlichen pädagogischen Ausbildungsgängen, die einerseits in Beamtenverhältnissen, andererseits im Angestelltenstatus oder in Freiberuflichkeit münden sollen. Die Notwendigkeit, sich unbedingt vermehrt um MINT-Fächer zu kümmern, wird massiv ins Feld geführt, und wenn gar keine Argumente mehr vorhanden sind, dann ist der Mangel an Unterricht in musischen Fächern, na klar, der Digitalisierung geschuldet.

Warum nicht in einem ersten Schritt das System (föderal bedingt sehr unterschiedlich strukturiert und öffentlich verankert) der Musikschulen schlank in die Allgemeinbildenden Schulen integrieren? Außerschulische musische Angebote wären dann als wunderbar willkommene Ergänzung eines Kerns von musischem Schulunterricht zu begreifen; das Substitutgezappel ganzer Subsysteme Kultureller Bildung mit allen ihren institutionellen und damit auch administrativen Folgen könnte man beiseite lassen. Und wenn man Ähnliches vielleicht in einem Zusammengehen der Schulen bzw. von deren Trägern mit verbandlichen Strukturen der Bildenden Kunst erprobte?

Ähnlich wäre den weiter extrem gut mit Steuermitteln versorgten öffentlichen Theatern der Auftrag flächendeckend ins Stammbuch zu schreiben, Regelangebote für Schülerinnen und Schüler zu schaffen, die gemeinsam mit Schule zu planen seien.

Digitalisierung
Die letzte Dekade gilt als Jahrzehnt der Digitalisierung. Die Arbeitswelt hat sich für viele radikal verändert, eine neue kreative Klasse ist entstanden, die im Wesentlichen an ihren Laptops Zeichen manipuliert und modelliert und die als Heer von Freiberuflern den Einrichtungen überdies als günstige Lieferanten zur Verfügung stehen. Gleichzeitig hat der Bildschirm als Medium ästhetischer Erfahrung enorm an Bedeutung gewonnen. Die Politik, wo sie nicht mehr weiterweiß, lanciert Digitalisierungsprogramme.

Weil digital nach Zukunft klingt. Schulen werden digitalisiert, jedem Kind ein Tablet ist kein Versprechen mehr, sondern bereits ein teilweises Ärgernis. Denn gerade Corona hat gezeigt, dass Bildung im digitalen Medium die soziale Kluft vergrößert, weil Lernen einen kognitiv förderlichen Kontext benötigt und gerade digitales Lernen essentielle kulturelle Kompetenzen voraussetzt. Digitales Lernen erhöht den Abstraktionsgrad, es verknüpft nur noch Zeichen mit Zeichen, nicht Zeichen mit Objekten, sozialen Kontexten, Erfahrungen. Daraus ergeben sich für die Kultur- wie die Bildungspolitik ganz andere Fragen als noch zu Zeiten der großen Interneteuphorie.

Brauchen wir mehr arbeitsweltbezogenen Ausbildung oder mehr – ganz altmodisch – ganzheitliche Bildung? Welche Rolle kommt dem digitalen Medium im Unterricht zu? Welche in der Kulturvermittlung? Wie nutzen wir Social Media, in denen alle kompetent sind, als Tor zur Kultur? TikTok und Oper – wirklich unmöglich? Gibt es Formen digitaler kultureller Vermittlung, die von unten kommen und nicht von oben, die also nicht zum vornherein der kulturellen Elitenselektion dienen?

Niemand, auch die Autoren dieses Textes nicht, erwartet eine Kulturpolitik, die all diese Fragen kohärent und widerspruchsfrei beantwortet. Aber eine, die sich diesen Fragen stellt und sie nicht einfach mit »mehr Geld« beantwortet. Ständiges Wachstum, abgebildet in wachsenden Zuschüssen, und das Kompensieren von Problemen mit Geld waren schon vor der Krise vorgestrig.

Wachstum löst keine Probleme mehr, sondern schafft sie. Gerne wird eine Haltung, die Selbstverantwortung propagiert und den Markt als Instrument gesellschaftlicher Steuerung anerkennt, als neoliberal abgetan. Was sonst kann komplexe Gesellschaften koordinieren außer Märkten, die in rechtliche und soziale, letztendlich: politische Ordnung eingebettet sind? Die Weisheit kulturpolitischer Strategen reicht garantiert nicht; konzeptbasierte Kulturpolitik ist genauso von gestern.

Kulturpolitik muss das kompetitive Spiel der Kräfte zulassen, ja fördern. Sonst blockiert sie im Interesse der Besitzstandverteidiger jenen Wandel, der Kultur überhaupt ist. Neoliberal im Sinne von kaltherzig hingegen ist eine Kulturpolitik, die im Windschatten der großen und gut alimentierten Institute das Entstehen einer neuen Klasse künstlerischen Proletariats aktiv befördert, indem sie ihm seine Ketten belässt. Tja – immerhin habe es ja seine kreative Würde, bleibt die im Grunde zynische Schlussfolgerung.

Doch, da wäre eine Menge zu tun. Ein dem Status Künstler*in angemessenes Sozialversicherungsrecht, neue Gouvernanz- und Führungsmodelle, Vereinfachung der Strukturen, Deinstitutionalisierung, mehr finanzieller Raum für Unabhängige – volles Programm!

Autoren

Foto: Dirk Heinze

Prof. Dr. Dieter Haselbach, Berlin
Direktor des Zentrums für Kulturforschung

Prof. Dr. Armin Klein, Ettlingen
Professor em. für Kulturwissenschaft und Kulturmanagement am Institut für Kulturmanagement der PH Ludwigsburg

Pius Knüsel, Zürich
Direktor der Volkshochschule des Kantons Zürich

Prof. Dr. Stephan Opitz
Professor am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien / Universität Kiel Begründer des Kieler Masterstudiengangs Angewandte Kulturwissenschaft

Kultur ist mehr als Freizeitgestaltung, Vergnügen und Unterhaltung

11. November 2020

Kulturpolitik zwischen Enttäuschung, Partnerschaft und Veränderung

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Enttäuschter Prolog: Warum Kulturpolitik?
Kultur kann Vergnügen bereiten, ist zuerst allerdings eine eigene Wertsphäre. Es gibt eine breite marktbefreite Zone, in der die öffentliche Hand Kultureinrichtungen trägt, fördert oder der zivilgesellschaftlichen Ausgestaltung überlässt. Diese Einrichtungen, aber auch freie Akteurinnen in diesem Feld, erbringen elementare, gesellschaftlich notwendige Beiträge im Bereich der Künste, der Bildung und der kollektiven Erinnerungsarbeit. Sie sind nicht die »Füller« der Freizeit und dienen nicht einem unreflektierten Zeitvertreib.

Kultur hat in den vergangenen Jahrzehnten sicher davon profitiert, dass sich die Arbeitswelt verändert und die frei verfügbare Zeit ausgedehnt hat und Menschen ihre Bedürfnisse breiter entwickeln konnten. Teilhabe und aktive Teilnahme an Kultur konnten damit verbessert werden. Gleichwohl kann man Kultur nicht auf Freizeitgestaltung, Vergnügen oder Unterhaltung reduzieren, wie es jetzt in der fatalen Verknappung zur Begründung neuerlicher Corona-Schutzmaßnahmen im Bund und in den Ländern geschieht. Neben den brutalen Effekten, die die Einschränkungen für Kulturbetriebe, Künstler*innen, Kreative und Veranstalter wiederholt mit sich bringen, trifft die mit ihnen verbundene Rhetorik ins Mark der Gewissheiten. Der Kulturbereich in seiner Vielfalt und Breite wird pauschalisiert, seine Leistungen und in der Krise möglichen Beiträge werden beiseitegeschoben. Dass Kultureinrichtungen als Bildungsorte gerade in Krisenzeiten auch Räume der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung sind, wird ausgeblendet, um im Sinne in sich verkürzter Systemrelevanzdebatten scheinbar Notwendiges von scheinbar Entbehrlichem zu scheiden.

Kulturorganisationen und Kulturpolitik hatten sich auf Schutzkonzepte und sicheren Publikumsverkehr eingestellt. Kulturelle Angebote können und sollten wohlbedacht auch in der Krise zur Verfügung stehen. Doch die Kultur kommt zum Erliegen, sie erlebt erneut einen vollen Lockdown, was für viele Soloselbstständige aus der freien Szene aber auch andere Teile des Kulturbetriebs eine existentielle Bedrohung bedeutet. Da die Corona-Krise noch lange nicht vorbei ist, müssen wir uns als Kulturpolitiker*innen durchaus die Frage stellen, wie wir die Interessen der Kultur zukünftig noch lautstärker vertreten und damit schützen können.

Kulturpolitik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten durch zivilgesellschaftliche, kommunale und staatliche Impulse zu einem wichtigen Politikfeld mit umfassenden Gestaltungsansprüchen entwickelt. Vom bürgerlichen Eskapismus, der die junge Bundesrepublik noch zeichnete und Kultur tatsächlich außerhalb von Gesellschaftspolitik ansiedelte, hin zur bürgerschaftlichen Gemeinwesenorientierung mit den Mitteln der Kultur war es ein geradezu revolutionärer Weg, den zahlreiche Neugründungen von Initiativen und Kultureinrichtungen säumen, Programmschriften, Projekte und Lebenswerke, die dieses Land nachhaltig verändert und geprägt haben.

Es war dies nichts geringeres als die Neuerfindung des kollektiven Lebensgrundes einer erst verspäteten, dann gestörten Nation, die nun im dreißigsten Jahr ihrer Einheit steht, Kultur oft als ihren wesentlichen Grundton beschwört und ihn nun zu überhören scheint. Diese Fehlleistung kann man durchaus tragisch nennen. Doch keine Krise kann nur technokratisch gelöst werden, alle Politikfelder müssen ernst- und mitgenommen werden. Fordern wir vom Kulturbereich ab, was er tatsächlich leisten kann, vom anhaltenden Grundton bis zu den Hygienekonzepten (in deren sichere Umsetzung erheblich investiert worden ist).

Die Akteur*innen und Erfahrungen der Kulturpolitik gilt es zu nutzen, statt sie komplett auszuschließen. Doch die Stimme der Kulturpolitik scheint noch immer nicht stark genug; in Parlamenten, Stadt- und Gemeinderäten fehlt es an Kulturpolitiker*innen, die das Feld im Ganzen und fachlich versiert vertreten. Kultur ist konstitutiv für unser Zusammenleben und bietet wesentliche Reflexions-, Diskussions- und Vergewisserungsmöglichkeiten. Sie als verzichtbar in der Krise zu deklarieren, heißt ihren Status in dieser Gesellschaft zu verkennen oder bewusst zu leugnen oder aber, sie auf das Konsumtive zu reduzieren. Die Pauschalisierung von Maßnahmen und Wirkungserwartungen spaltet zunehmend die Gesellschaft und nährt die Argumente jener, die den Ernst der Lage leugnen.

Doch die Lage ist ernst. In der Krise aber erweist sich die Basis der Sonntagsreden, in denen es etwa heißt: »Noch immer gibt es nicht wenige, die der Meinung sind, Kultur und Kunst seien vor allem dekoratives Beiwerk für die sogenannten harten Themen, die die Welt bestimmen. (…) Kultur ist Heimat, Zugehörigkeit und Teilnahme; sie muss darum kontinuierlich gepflegt werden (…). In der Wertschätzung und Förderung von Kunst und Kultur beglaubigt sich das Selbstverständnis eines Kulturstaates, der seine eigenen Ansprüche ernstnimmt« (Angela Merkel 2004, S. 29/35).

Ein Kulturstaat, der seine eigenen Ansprüche ernstnimmt, müsste wohl zuallererst differenzieren und vertretbare Kulturangebote gerade in der Krise wertschätzen. Er müsste sein Handeln an seiner Programmatik, seiner Rhetorik unter »normalen« Umständen ausrichten, statt reflexartig an den Überzeugungen der Menschen vorbeizuarbeiten und diese zu irritieren (das bundesweite Echo der Kulturschaffenden ist eindeutig). Schließlich helfen Verordnungen nicht allein normativ, sondern erst durch die Akzeptanz und Beherzigung durch die Menschen. Die Kulturpolitik der Bundesrepublik wird durch Akteur*innen geprägt, die gestalten wollen und auf Kooperation und Empathie ausgerichtet sind. Ihre Einsicht hängt davon ab, wie man sie durch die Krise mitnimmt.

Der Kulturstaat müsste ferner in einer den erworbenen Überzeugungen entsprechenden Systematik argumentieren, die den Kulturbereich von sonstigen kommerziellen Vergnügungen wie Freizeitparks, Spielhallen oder Bordellen maßgeblich unterscheidet. Dafür – unter anderem – haben wir jahrzehntelang das Feld entwickelt, politisch-gestalterisch aufgeladen und geforscht. Kulturpolitik hilft bei der Krisenbewältigung, sie bedarf nicht der Ruhigstellung. Kulturpolitik ist relevant, nicht redundant!

Freiheit und Freiwilligkeit
Die Krise wird längerfristige Einschnitte nach sich ziehen, auch für den Kulturbereich. Schon heute muss über den Umgang mit der Kulturfinanzierung nachgedacht werden. Wir benötigen Eckpfeiler für die Gestaltung einer erwartbar schweren Debatte über die Aufrechterhaltung wohlfahrtsstaatlicher Wirkungsbreite, insbesondere über die großen Sozialetats hinaus. Kultur gilt als freiwillige Selbstverwaltungsaufgabe insbesondere der Kommunen. Sie ist – in Anlehnung an die Kunstfreiheit des Grundgesetzes – frei, keine inhaltlichen Vorgaben schränken sie ein oder geben uns die Gewissheit gesetzlich fest geregelter Leistungen für den Kulturbereich.

Wir überlassen es der jeweiligen Gemeinschaft, wie sie ihr kulturelles Erbe entwickelt, was sie an Kultureinrichtungen oder Festivals vorhält oder welche Akteure sie fördert. Die Vielfalt der Kultur entspricht der Vielfalt lokaler Gemeinschaften. Anders formuliert: die Kulturpolitik ermöglicht freie Gestaltung, die Entwicklung des Besonderen oder die Erfindung neuer, identitätsstiftender Projekte. Die Kulturhauptstadt Europas gilt als ein besonders exponiertes Beispiel für Kulturpolitik als kommunale und regionale Gestaltungsaufgabe und die kreative Stadtentwicklung.

Dennoch ist nur das »Wie« der Kultur freiwillig, das »Ob« wird dadurch nicht zur Kür. Die Verfassungen der Länder und die Kommunalordnungen regeln die Zuständigkeiten für Kultur; auf die Wirkkraft dieses wichtigen gesellschaftlichen Feldes kann nicht verzichtet werden. In einer Zeit der gesundheitlichen, aber auch drohenden finanziellen Krise müssen Vorkehrungen getroffen werden, den Kulturbereich nicht substantiell zu schädigen.

Aufgrund der Haushaltsregelungen und eingeübter Verfahren müssen Sparpolitiken bei genau diesen freiwilligen Leistungen ansetzen, da sie als entbehrlich und fachlich weniger belastbar gelten. Die Freiwilligkeit wird zur generösen Geste des Zusätzlichen erklärt, auf das man nun zuerst verzichten müsse – wie im (Teil-)Lockdown. Die Kulturetats vor allem der Kommunen dürfen nicht aus haushaltspolitischer Räson massiv beschädigt werden – erste Anzeichen dafür gibt es bereits aus einigen Städten –, zumal sie nicht ausreichen, die zu erwartenden Finanzierungslücken auch nur ansatzweise schließen zu können.

Grundsätzlich gilt: Die Kultur darf nicht zum vordergründigen Instrument der Haushaltskonsolidierung werden. Es ist klar, dass auch die Kultur ihren Anteil an der Konsolidierung übernehmen muss. Ein Tabu allerdings wären überproportionale Kürzungen bis hin zur Schließung von Kultureinrichtungen, die andere Bereiche nicht hinnehmen müssen. Es ist unbegründet, davon auszugehen, dass die Erhebung der Kultur zur Pflichtaufgabe die anstehenden Probleme lösen oder entschleunigend wirken könnte.

Für den Status der Kulturpolitik wäre es sicher gut, den Kulturstaat im Grundgesetz zu explizieren. Aber auch davon leiten sich keine einzuklagenden Ansprüche ab. Genauso wenig ließe sich eine Pflichtaufgabe Kultur operationalisieren, weil ihr – wie in Hinblick auf die besonderen Freiheitsgrade ausgeführt – die normativen Grundlagen fehlen. Besser hingegen wäre es, endlich mehr spezielle Kulturgesetze zu etablieren, wie sie etwa in Sachsen oder NRW entwickelt wurden und die Kulturfinanzierung stärken. In Sachsen etwa ist sogar eine Kulturpflicht der Kommunen gesetzlich festgelegt, allerdings an erhebliche Leistungen des Landes gebunden. Nur, wo es konkrete Maßstäbe gibt, ist eine Pflicht justiziabel. Kulturgesetze sind aber keine Bollwerke gegen den Wandel, sie können sogar Transformation objektiven und gestalten helfen.

Rettungsschirm für die Kultur – Erneuerung der Kulturlandschaft
Sicher bleibt der legitime Ruf nach Bund und Ländern im Augenblick bestimmend, sie mögen die Kommunen und Rechtsträger von Kultureinrichtungen, die freien Künstler*innen und Kulturunternehmen zusätzlich unterstützen, auch im kommenden Jahr und vielleicht darüber hinaus. Hier sind Förder- und Ausgleichsmittel natürlich gefragt, obwohl oder gerade weil der Bund, viele Stiftungen und andere Instanzen bereits vielfältige Unterstützungen gewährten.

Nachhaltige Stabilisierung der Kulturlandschaft erfordert langen Atem: Für den Übergang braucht es zusätzliche großflächige finanzielle Hilfen, einen nachhaltig wirksamen Rettungsschirm, der auch die Situation der Soloselbstständigen und kulturellen Kleinbetriebe im nichtstaatlichen Bereich berücksichtigt, Einnahmenausfälle kompensiert sowie unbürokratisch und schnell von den Kulturschaffenden in Anspruch genommen werden kann. Wir sprechen dabei auch und vor allem von Haushaltsproblemen über das Jahr 2021 hinaus. Ferner bedarf es aber auch Überlegungen, wie die »Neue Normalität« nach Corona gestaltet werden kann.

Dafür sollte die Devise gelten: Die kulturelle Vielfalt darf keinen Schaden nehmen! Doch wäre es völlig weltfremd und inadäquat, davon auszugehen, dass nach einer solch gravierenden Phase alles wieder so herstellbar ist, wie es vor der Krise existierte. Es gibt keinen Anspruch auf kompletten Risikoausgleich.

Weil das so ist, sollten die Kulturpolitiker*innen der Kommunen und Länder die Debatte darüber beginnen, was sie realistisch sichern können und wo sie auf die spätere Erneuerung der Kulturlandschaft setzen wollen. Das wäre eine ehrlichere Haltung, als nur auf kreditierten Finanzstrom zu setzen, als sei dieser bedingungslos und unversiegbar. Kriterien müssen lokal und partizipativ gewonnen werden, aber sie müssen von der Haushaltssituation ausgehen und realistisch sein. Jede Tabuisierung eines Umbaus, einer Konsolidierung der öffentlichen Finanzen jenseits zusätzlicher Finanzspritzen wäre zynisch.

Es ist also auch die große Stunde von Strukturveränderungen, Lastenteilungen und Kooperationen. Keine neuen Schlagworte, und es gibt freilich Beispiele gelungener Umsetzung all dessen – allerdings geht es nun um einen neuen Maßstab und um eine neue Geschwindigkeit. Ein Eckpfeiler, auf den heute schon zugearbeitet werden kann, wäre eine in Teilen reduktive Kulturpolitik, die den Bestand kritisch hinterfragt und Schwerpunkte festlegt.

Wir können in dieser Krise lernen, was wir schon lange versuchen, aber bisher nicht geschafft haben: Transformation zu gestalten, Angebote ehrlich einzuschätzen, Projekte auch einmal auslaufen zu lassen, ohne alles auf Dauer zu stellen. Hinterfragen wir das Wachstumsparadigma in der Kulturpolitik, ändern wir unsere Mentalität, das Aufhören zu skandalisieren. Daher ist es kontraproduktiv und setzt ein völlig falsches Zeichen, die »Rote Liste« bedrohter Kultureinrichtungen coronabedingt zu reaktivieren.

Wandel kann man aber auch auf der Verwaltungsseite vorantreiben: Staat und Kommunen sind derzeit oft unbürokratisch tätig, legen Haushalts- und Zuwendungsrecht großzügig aus oder widmen Haushaltsmittel um, um schnell helfen oder kompensieren zu können. Dies darf im Nachgang nicht beanstandet werden; zugleich könnten bestimmte Maßnahmen als Modellversuch verstanden werden, das Zuwendungsrecht zu modernisieren, vor allem zu flexibilisieren.

In der Krise zeigt sich, woran es tatsächlich fehlt und was passgenauem Handeln im Wege steht. Dies sollte im Zuge der Rückkehr zur Normalität aufgearbeitet, systematisiert und diskutiert werden, um förderrechtlich gestärkt aus der Krise hervorzugehen. Eine wichtige Zielgröße müssen Kulturbetriebe im gemeinnützigen Sektor sein, die über stabile Haushalte, Rücklagen und damit Krisenfestigkeit verfügen, statt auf einem quasi gesetzlich prekären Status gehalten zu werden. Das Thema ließe sich vertiefen.

Transformation und Resilienz
Wir müssen Veränderung neu denken und argumentieren können, ohne als Kulturpolitiker*innen als Belastung oder Zumutung für die gewachsene Kultur in diesem Land gebrandmarkt zu werden. Wir haben uns zu lange im Habitus des Gutmenschen eingerichtet: Kulturpolitik ist in der Regel für etwas, nie dagegen (es sei denn, es ist undemokratisch, rassistisch oder rein kommerziell). In Deutschland wuchs eine additive Kulturlandschaft heran, die bereits ohne Krise viel Unauskömmliches, Unterfinanziertes, Prekäres oder eigentlich nicht professionell Tragfähiges beinhaltet.

Auch die berechtigte Rede über die soziale Lage der Künstler*innen und ihre größtenteils extrem niedrigen Jahreseinkommen kontrastiert mit der sozialstaatlichen Leistung, durch Stipendien, Preise und andere Förderungen über 100.000 Menschen in diesem System zu halten, wenngleich nur extrem wenige tatsächlich auskömmlich davon leben können. Aber viele richten sich in diesem Habitus ein, können gar nicht anders, als Künstler*in zu sein. Gleichwohl haben sie eine Wahl. Künstler*innen sind also auch deshalb arm, weil sie im Wissen um den Kunstmarkt diesen weitgehend marktbefreiten Lebensentwurf gewählt haben, weil sie diese Nische jenseits notwendiger Erwerbsarbeit attraktiv finden (vgl. Hans Abbing 1999).

Qualitätsdebatten sind schwierig, Schwerpunktsetzungen auch, da alles irgendwie seine Berechtigung hatte, errungen war, bestimmte Akteur*innen band oder für den Frieden im Gemeinwesen verteidigt wurde. Nachhaltig war das nicht; es lebte vom Kontinuum außergewöhnlichen Wohlstands, von Wirtschaftswachstum, steigenden öffentlichen Einnahmen und folglich einem allzuständigen Wohlfahrtsstaat. Diese permissive, auf den Primat der Selbstverwirklichung fokussierte Haltung der Kulturpolitik ist nicht mehr zeitgemäß, auch nicht im Sinne der Nutzer*innen von Kulturangeboten und künstlerischen Erzeugnissen. Es muss möglich sein, zu hinterfragen, zu urteilen, nach Kriterien zu evaluieren und Angebote aus der öffentlichen Finanzierung zu nehmen, wenn sie keine hinreichende Wirkung für das Gemeinwesen haben.

Dies steht nicht im Widerspruch zum Demokratisierungsimpuls, der die Wachstumspolitik gezielt ausnutzte. Kulturelle Teilhabe kann definitiv auch unter veränderten Bedingungen organisiert werden. Mir ist bewusst, dass dies auch als Provokation aufgefasst werden kann, aber es ist die Erkenntnis, dass der Kulturbereich nicht durch den bloßen affirmativen Selbstlauf gestärkt wird, sondern nur durch das Ringen um das, was uns wichtig und was wirksam ist. Wir kommen in ein Fahrwasser, wo wir kritisch und ehrlich sein müssen. Darauf sollten wir vorbereitet sein. Kulturpolitik muss sich auf eine Postwachstumsgesellschaft einstellen und erkennen, dass nicht zuletzt der Klimawandel neue Maßnahmen nach sich zieht, die eine additive Politik negieren oder Beiträge für nachhaltiges Kulturschaffen einfordern.

Der Pfad muss sich ändern; die Krise kann ein Richtungsimpuls dafür sein, das Gespräch darüber zu entfachen. Kultur bleibt nur dann eine gesellschaftlich privilegierte Zone, wenn sie mit den Problemen der Gesellschaft Kontakt hält, eine Krise mitdurchläuft und Verluste miterleidet, ohne Immunität einzufordern. Die von der Kulturpolitischen Gesellschaft eingeforderte Systemrelevanz bezieht sich nicht auf den kompletten Bestand kultureller Infrastrukturen, sondern auf die konstitutive Bedeutung kultureller Infrastrukturen für unsere Gesellschaft.

Wir müssen Veränderung auch deshalb neu denken, weil sich die gesellschaftliche Realität massiv verändert und wir immer weniger selbst in der Hand haben. Durch die Globalisierung und weltweite Migrationsströme werden nationale Politiken herausgefordert. Um nur zwei kulturpolitische Auswirkungen zu nennen, denen wir uns stellen müssen: Kulturelle Vielfalt wird zur völkerrechtlich verbrieften Norm, die wir ausgestalten müssen und die von Menschen auch eingefordert wird, die zu uns kommen; Kulturerbe konstituiert sich unter dem emanzipativen Druck postkolonialer Aufarbeitung möglicherweise künftig ganz neu und supranational als Polyphonie aller Stimmen, also jenseits errungener Kanons und Bewertungsinstanzen (vgl. Bénédicte Savoy 2018, S. 52 ff.).

Diversität beginnt bei der Adressierung von Geltungsansprüchen und Mitsprache: Neue Ordnungslogiken, Umsortierung bisheriger Ordnungen des Wissens und Erinnerns, Emanzipation als »Welt-Druck«, dem wir uns stellen müssen. Die sich herausbildende Kultur der Digitalität verändert die Entstehungsbedingungen und Resonanzräume kultureller Produktion, Distribution und Rezeption, sie bedeutet nicht nur eine Medien-, sondern eine Kulturrevolution. Sie ändert unser Denken und Handeln ebenso wie die Funktionsweise der Institutionen. Schließlich pluralisiert sich unsere Gesellschaft immer weiter, erodieren Milieus und Bildungsbestände, die vor allem ererbte Kulturformen (Oper, Theater und Museen) herausfordern.

Kreativität wird zum Imperativ immer kürzerer Innovationszyklen in allen Bereichen, die »geschützte« Zone des Kulturbereichs wird zusehends entgrenzt; ästhetische Imperative bestimmen unsere Lebenswelt – was heißt das künftig für das Schöne der Kunst, die Zuständigkeits- und Regulierungsbereiche der Kulturpolitik? Schließlich: Wohin steuert die Demokratie, mit der viele Aktionsformen der Zivilgesellschaft und breitenkulturelle Akteurinnen eng verbunden sind? Transformation berührt uns also grundlegend, wir müssen sie mit unseren Überzeugungen, aber auch der Offenheit für Neues und Veränderung gestalten, nicht erdulden.

Dafür benötigen wir Kulturakteurinnen und -einrichtungen, die Wandel als Normalität begreifen, sich auf ihn einstellen. Auch Krisen gehören zweifelsohne zum Setting dessen, was vor uns liegt. Wenn wir sie als systemimmanent begreifen, werden wir robuster. Eine Kulturpolitik, die dies reflektiert, auch schmerzliche Veränderung aktiv gestaltet, nenne ich resilient. Sie bewahrt folglich nicht nur, sie baut auch um, verwirft, erfindet neu und erklärt ihren Bestand nicht für per se unverzichtbar.

Im Kontext des gesellschaftlichen Wandels und auch als Folge der Corona-Krise ist es an der Zeit, dass wir einen Dialog über neue kulturpolitische Leitbilder beginnen: wir brauchen einen Paradigmenwechsel und müssen diesen gemeinsam gestalten. Nötig sind Selbstbewusstsein, Utopiefähigkeit und die Einbindung der Nutzer*innen.

Literatur
Abbing, Hans (1999): Why Are Artists Poor?: The Exceptional Economy of the Arts, Amsterdam: Amsterdam University Press

Merkel, Angela (2004): Kultur und Nation, in: Norbert Lammert (Hrsg.): Alles nur Theater? Beiträge zur Debatte über Kulturstaat und Bürgergesellschaft, Köln: DuMont

Savoy, Bénédicte (2018): Die Provenienz der Kultur. Von der Trauer des Verlusts zum universellen Menschheitserbe, Berlin: Matthes & Seitz

Autor

Dr. Tobias J. Knoblich, Erfurt

Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V., Dezernent für Kultur und Stadtentwicklung der Landeshauptstadt Erfurt