»Krise und Kritik: Eine Transformation der Kulturpolitik ist nötig – und möglich!«

21. Dezember 2020

I. Krise und Kritik
Die Pandemie hat das kulturelle Leben in vielen Ländern rund um den Globus hart getroffen. Die beiden Lockdowns haben den öffentlichen Kulturbetrieb fast vollständig zum Erliegen gebracht. Die allgemeine Verunsicherung hat Projektplanungen weitgehend verunmöglicht.
Das ist alles bekannt. Aber warum hat es vor allem die freien Kulturschaffenden so viel härter erwischt als andere Branchen? Aufgrund welcher strukturellen Schwäche sind wir selbst hier in Deutschland in so gewaltige Schwierigkeiten geraten?
Eine kulturelle Lobbyvereinigung nach der anderen meldet sich derzeit zu Wort. Fordert Hilfen und Sonderregelungen für Öffnung und Weiterbetrieb. Die Vorsitzenden von Bühnenverein, Orchestervereinigungen, Museumsverbänden etc. werden dabei nicht müde, den ökonomischen und kulturellen Wert sowie die normative gesellschaftliche Bedeutung ihrer Institutionen zu betonen. Aber werden solche Stimmen auch für die freischaffenden Künstlerinnen und Künstler laut, deren Einkommensquellen nicht selten vollständig weggebrochen sind? In der Logik der individuellen künstlerischen Produktivität steckt ein Dilemma, das jetzt besonders dramatisch zu Tage tritt: Gerade diejenigen, die ihr Leben der künstlerischen Innovation verschrieben haben, können – trotz gewaltiger Hilfspakete – auf keine Strukturen und keine Sicherheiten vertrauen, die sie in dieser kritischen Zeit verlässlich schützen. Und das nicht zuletzt, weil die sogenannte »Grundsicherung« Hartz IV mehr Fluch als Segen bedeutet.


II. Kritik und Gerechtigkeit
Bedauerlicherweise hat die aktuelle Förderpraxis gezeigt, dass gerade die kleineren, beweglichen und innovativen Organisationsformen durch das Förderraster fallen und gut gemeinte Hilfspakete entweder nicht ausreichen oder erst gar nicht ihre Zielgruppen erreichen. In Berlin lief es beispielsweise so, dass knapp 2.000 Künstler*innen aus rund 8.000 Bewerbungen das Glück hatten, für ein »Sonderstipendium« – ja tatsächlich – ausgelost zu werden. Und während Fördermittel für ein winterliches Freiraumprogramm unter dem Titel »Draussenstadt« zwar an die Kulturverwaltungen der Bezirke und auch über den Rat für die Künste vergeben worden sind, wurde der öffentliche Teil der bereitgestellten Gelder, die über die Berliner Kulturprojekte ausgeschrieben worden sind, nach Ablauf der Einreichungsfrist auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Pech hatten auch Freischaffende, die ihre Rechnungen 2019 ausgerechnet im Oktober und nicht im November überwiesen bekommen haben, weil sie damit keine Vergleichsgrundlage für die Beantragung der »Novemberhilfe« im Jahr 2020 hatten. Und diejenigen, die sich entschieden haben, aus der Selbständigkeit eine juristische Person wie zum Beispiel ein kleines Kulturunternehmen mit offiziell gemeldeten und sozialversicherten Angestellten zu schaffen, gehen ebenfalls leer aus, wenn sie weniger als zwei vollbeschäftigte Mitarbeiterinnen in den letzten drei Jahren nachweisen können. Ganz zu schweigen davon, dass weitere Förderprogramme eine offiziell nachgewiesene Gemeinnützigkeit voraussetzen – auch wenn selbst eine Plattform wie die »Kulturveranstaltungen des Bundes« aus guten Gründen als GmbH organisiert ist, ohne unter Verdacht zu stehen, ein profitorientiertes Privatunternehmen zu sein.
Ziel staatlichen Handelns ist Gerechtigkeit. Die Kriterien der kulturpolitischen Maßnahmen auch in Notzeiten müssen nachprüfbar und gerecht sein.
Was zeigen diese Beispiele? Anscheinend sind die politischen Entscheidungsträger*innen und Verwaltungsmitarbeiterinnen so wenig mit den Arbeits- und Produktionsbedingungen von Kunst- und Kulturschaffenden vertraut, dass diese Defizite im Vorfeld nicht gesehen worden sind. Es drängt sich der Eindruck auf, dass gerade an den entscheidenden Stellen erstens ein strukturkonservatives Verständnis von Kultur leitend ist, welches sich auf traditionelle Institutionen wie Museen, Theater und Konzerthäuser konzentriert, und dass sich zweitens auch der Kreis von Gesprächspartner*innen und Berater*innen von Politik und Verwaltung primär aus dem Umfeld der großen Häuser und ihrer Lobby-Verbände zusammensetzt. Es scheint hier also einen fatalen Schulterschluss von im Selbstverständnis »starken und mächtigen« Akteur*innen zu geben, deren Zusammenarbeit eben jene konservativen Strukturen zementiert, die von innovationsorientierten Künstlerinnen, Kurator*innen und Kulturschaffenden seit inzwischen fast 50 Jahren ganz bewusst in Frage gestellt und mit alternativen Organisationsformen konfrontiert werden. Und so verwundert es denn auch nicht, dass Solidarität seitens der großen Organisationen sowohl gegenüber den von ihnen abhängigen freien Künstlerinnen als auch gegenüber den sie kritisierenden kleineren Innovatoren bislang weitgehend ausbleibt.
Der aktuelle Kampf um Anerkennung und Mittelverteilung führt damit zu einer Verschärfung der Auseinandersetzungen, die innerhalb des kulturellen Feldes bereits seit vielen Jahren geführt werden, und die nun aufgrund der Corona-Krise und der gegebenen Förderpraktiken vor allem zu Lasten der Freien Szene gehen. Da tröstet es denn auch wenig, dass große Tanker wie die Stiftung Preußischer Kulturbesitz nun endlich wegen strukturbedingter Ineffizienz umgebaut werden sollen. Dass das notwendig ist, haben diejenigen schon lange gefordert, die kleinere und beweglichere Strukturen befürworten. Nur hat man nicht auf sie gehört…


III. Gerechtigkeit und Strukturen
Weniger als über die Frage, ob die Hilfen, die derzeit für freischaffende Künstler*innen und Soloselbstständige ausgeschüttet werden, ausreichend sind, sollten wir also darüber nachdenken, was die aktuelle Situation strukturell bedeutet und welche Folgen die Corona-Krise für die kulturelle Vielfalt unseres Landes haben wird. Die Freie Szene ist immer schon vielstimmig, heterogen und als solche ein fragiles Gebilde, schwer zu organisieren. Zu befürchten ist, dass diese feingliedrigen und vielfältigen Strukturen der künstlerischen Produktion vielerorts wegbrechen – und zwar schlicht deswegen, weil die konkreten Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen, die künstlerisch tätig sind, dies in Zukunft nicht mehr erlauben. Strukturen künstlerischer Produktion in der unabhängigen Freien Szene beruhen auf der individuellen Lebensentscheidung und -einrichtung der künstlerischen Persönlichkeit. Sie leben von der Findigkeit der Akteurinnen, die einen Raum betreiben, ein Projekt planen oder eine Gruppe gründen. Ebenso heterogen wie ihre künstlerischen Profilierungen sind auch die jeweiligen Wege, wie sie sich finanzieren. Weil die meisten Kunst- und Kulturschaffenden sich über Projektanträge finanzieren, sind sie abhängig von den Strukturen, die dies ermöglichen. Fallen sie beziehungsweise die Möglichkeiten der künstlerischen Produktion weg, gerät sofort das persönliche Finanzierungsmodell in Gefahr. Anstatt an die freischaffend Tätigen zu appellieren, etwas »Reelles« zu machen – Lehrerin zu werden, eine Ausbildung zum Krankenpfleger zu machen oder als Designerinnen in die Spiele-Industrie zu wechseln, wie es gerade von der Regierung in Großbritannien forciert wird –, wäre jetzt zu überlegen, wie man die Finanzierungsbedingungen für Freischaffende besser gestaltet.

IV. Thesen für Krisen von Morgen

  1. Genau jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um Ideen dafür zu entwickeln, wie das kulturelle Leben in Zukunft widerstandsfähiger gegenüber Krisensituationen zu machen ist. Denn die kritischen Punkte treten gerade jetzt so deutlich wie selten zuvor in Erscheinung.
  2. Es ist bekannt, dass die etablierten Kulturinstitutionen strukturelle Probleme haben – Theater, die an neofeudalistischen Führungsstrukturen leiden, Museen, die mit überkomplexen Organigrammen kämpfen. Anstatt mit Geld konservative Strukturen zu zementieren, sollten Hilfs-Gelder jetzt dafür eingesetzt werden, um einerseits Beweglichkeit und innovative Strukturen zu fördern, andererseits kleine Initiativen zu stabilisieren.
  3. Es wäre zu simpel, einfach mehr Finanzhilfen zu fordern oder die Bedingungen bei der Grundsicherung exklusiv für Künstler*innen außer Kraft zu setzen. Was fehlt, sind neue, innovative Förderinstrumente für Künstlerinnen und Freischaffende. Lösungen, die darauf abzielen, das Leben von Kulturschaffenden längerfristig abzusichern. Wieso nicht das System der Stipendien weiterentwickeln zu einer auskömmlichen Grundsicherung für die Bestreitung der Lebenshaltungskosten? Oder eine Lösung schaffen, die sich an der französischen Arbeitslosenversicherung für Zeitarbeiter im Kulturbereich (»Intermittent du spectacle«) orientiert? Es verschafft den Akteur*innen persönliche Planungssicherheit in einem volatilen Umfeld.
  4. Die Kulturpolitik der 1970er Jahre hat das Elitäre eines konservativen Kulturbegriffs erledigt und sehr wirkungsvoll zur Soziokultur, Kulturellen Bildung und Partizipation erweitert. Dieses Unternehmen ist noch nicht zu Ende! Es gilt, die Kultur noch stärker in die Gesellschaft hinein zu öffnen und deren Vielfalt zu reflektieren. Kulturpolitik muss sich zu Cultural Governance weiterentwickeln, indem sie die partizipativen Elemente stärkt und Entscheidungsprozesse inklusiv gestaltet. Ziel zukunftsfähiger Kulturpolitik muss sein, nicht nur Ermöglichende für die vielfältigen Produktionsformen zu werden, die heute die Freien Szenen ausmachen, sondern auch das kulturelle Produktionssystem viel stärker in seinen wechselseitigen Bezügen, Abhängigkeiten und Wechselwirkungen zu verstehen und Förderstrukturen dahingehend neu auszurichten. Es muss systematisch Platz gemacht werden für künstlerische Forschung, spartenübergreifende Ansätze und die Freiheit, künstlerische Prozesse ergebnissoffen anzugehen. Damit einher geht eine Perspektive für Kulturentwicklung über mehrere Jahre – statt aktionistischem Trouble-Shooting.

In eigener Sache

Das 2019 gegründete »Institute for Cultural Governance« hat ein Forschungsprojekt begonnen: In einer Reihe von Interviews mit Akteur*innen des kulturellen Feldes sollen die Praktiken der aktuellen Kulturpolitik in Bezug auf Kommunikationsprozesse durchleuchtet werden. Wie partizipativ ist runsere Kulturpolitik? Wer spricht mit, wenn es darum geht, Gelder zu verteilen? Wie sollten heterogene Akteur*innen in einer vielfältigen Kunst- und Kulturlandschaft in kulturpolitische Steuerungsprozesse integriert werden? Wie kann eine zeitgemäße »Cultural Governance« aussehen? Obwohl noch ganz am Anfang der Recherchen, lässt sich schon jetzt sagen: Förderungen kultureller Praxis orientieren sich derzeit stark an Projekten und kulturpolitischen Zielstellungen, die abhängig von Personen und parteipolitisch motivierten Agenden sind. Um Kulturpolitik nachhaltig und resilient zu gestalten, wäre es hingegen nötig, sie stärker an den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Künstlerinnen und Künstler und der freischaffend Tätigen auszurichten.

Autor*innen

Wibke Behrens, Sven Sappelt, Janet Merkel und Henrik Adler führen gemeinsam das Institute for Cultural Governance, ein unabhängiges Denklabor für Kulturpolitik, in Berlin. https://institute-for-cultural-governance.org/

Auf die Couch!

18. Dezember 2020

Wenn in einer Beziehung einer der beiden Partner zutiefst gekränkt »mehr Wertschätzung« vom anderen verlangt, dann sollten die Alarmglocken läuten. Zum einen, weil es nie ein gutes Zeichen für eine Partnerschaft ist, wenn sich (mindestens) eine Seite nicht wertgeschätzt fühlt. Zusätzlichen Grund zur Sorge gibt zudem, dass die einseitige Forderung nach Wertschätzung so wenig aussichtsreich ist. Wertschätzung auf Befehl, das ist eine geradezu paradoxe Forderung: Schließlich möchte ich von meinem Partner, meiner Partnerin ja gerade nicht zähneknirschend, schuldbewusst oder halbherzig auf Verlangen geschätzt werden, sondern unbedingt, unaufgefordert und aus innerster Überzeugung. Wenn es soweit ist, dass Wertschätzung eingefordert werden muss, dann ist es höchste Zeit für die Paarberatung.


So gesehen gehören (öffentlich geförderte) Kulturakteur:innen und (Kultur-)Politik, ja womöglich der Kulturbetrieb und die Gesellschaft im Ganzen gemeinsam auf die Couch. Da ist einerseits die Kulturseite, die sich gekränkt und unverstanden fühlt, als »Freizeit« und »Unterhaltung« herabgewürdigt empfindet und unter zornigen Tränen mehr Wertschätzung als bedeutsamer Faktor im Gemeinwesen verlangt. Und auf der anderen Seite stehen politische Entscheider:innen (in ihrer Funktion als Vertretung dieses Gemeinwesens), die gestresst versprechen, beim nächsten Lockdown aber ganz bestimmt »die Kultur« als eigene Sphäre zu benennen, und ansonsten bitte in Ruhe gelassen werden möchten: Es ist so viel los gerade und so wenig Zeit…


Und da die Kulturcommunity weiß, dass sie spätestens übermorgen sehr dringend auf weiteren Zugang zum Geldbeutel der Politik angewiesen sein wird, nörgelt sie noch gerade so viel weiter, dass das schlechte Gewissen der Regierenden befördert wird – aber auch nicht mehr, damit sich die Politik bitte nicht völlig abwenden möge aus der gemeinsamen Beziehung. Geklärt ist nichts, und die in die Jahre gekommene kriselnde Partnerschaft wird aus einer Mischung aus alter Gewohnheit, Abhängigkeit und Ideenlosigkeit möglicher Alternativen betreffend fortgeführt.

Es ist Zeit, alte Muster zu durchbrechen

Es ist höchste Zeit, dieses traurige und vor allem unproduktive Muster zu durchbrechen. Dazu wäre es nötig, nicht nur – fraglos berechtigte – Kritik an der mindestens bedenklich unbedachten wenn nicht erschreckend ahnungslosen Kommunikation des zweiten Lockdowns zu üben, sondern auch sich selbst bzw. das eigene Selbstbild kritisch zu befragen. Wie in wohl jeder Beziehung ist der Blick in den Spiegel vielversprechender als eine ultimative Forderung an das Gegenüber (»mehr Wertschätzung«). Doch zumindest die Lautstärkeren der Interessenvertreter:innen der geförderten Kultur sehen bei einem solchen Blick in den Spiegel anscheinend wenig Anlass zur kritischen Reflexion der eigenen Praxis. Sie forderten in ihren ersten Statements vor allem eins: die uneingeschränkte Wertschätzung der eigenen Relevanz, gern zugespitzt auf den Begriff der »Systemrelevanz«.


Oft waren es dieselben Personen, die der Politik Denk- und Sprachversagen vorwarfen, weil sie Kultur als »Freizeitprogramm« degradiere, die mit der »Systemrelevanz« selbst einen Begriff im Mund führten, der in vielerlei Hinsicht fragwürdig ist. Im öffentlichen Diskurs ist der Begriff der »Systemrelevanz« zunächst untrennbar verknüpft mit der Finanzkrise ab 2007. Damals bezog er sich auf strauchelnde Banken, die eigentlich pleite waren, jedoch staatlich gerettet werden sollten, weil ihr Untergang das Finanzsystem selbst mit in den Abgrund hätte reißen können. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die gleichen Sprecher:innen der öffentlichen Kultur, die sich vehement beklagten, mit vermeintlichen Niederungen der Lebenswelt wie Fitnessstudios und Bordellen in einen Topf geworfen zu werden, sich in unmittelbarer rhetorischer Nachbarschaft zu taumelnden Großbanken recht wohl zu fühlen scheinen.

Relevant – für wen?

Was uns direkt zu der Frage der »Relevanz« führt – die ja immer eine Zuschreibung ist, keine Tatsache, sondern eine beobachter:innenabhängige Bewertung: Nichts ist an und für sich relevant, Relevanz gibt es immer nur für etwas oder für jemand. Doch für wen genau ist »die Kultur« relevant? Und wie zeigt sich diese Relevanz? Wie etwa Birgit Mandel in ihrem Essay in dieser Reihe betont, ist es eine deutliche Minderheit der Gesellschaft, für die die Relevanz von öffentlich geförderten Kulturangeboten so groß ist, dass sie dafür – vor Corona – freiwillig und regelmäßig die eigenen vier Wände verlassen hätte. Doch solchen Zahlen zum Trotz pocht die geförderte Kultur auf ihre Bedeutung, die sich nicht nach ihrer konkreten Nutzung durch einzelne Personen – seien es viel oder wenig – bemesse: Ihre Relevanz ziele schließlich auf das große Ganze, eben auf das »System«.

Es soll ausdrücklich nicht bestritten werden, dass eine demokratische, freiheitliche, schlicht eine lebenswerte Gesellschaft ohne freie Kunst und Kultur nicht vorstellbar ist – und dies durchaus unabhängig von der konkreten Zahl ihrer aktiven Nutzer:innen. Aber das heißt noch lange nicht, dass es klug ist, seine eigene gesellschaftliche Rolle in der rhetorischen Figur der »Systemrelevanz« zu definieren, die die große Gefahr birgt, sich zu einer affirmativen Forderung nach Systemerhalt zu verdichten. Und um die kann und darf es doch ausgerechnet dem gesellschaftlichen Feld, dessen Funktion man gemeinhin unter anderem mit Reflexion, Kritik, ja auch potentiell der Subversion verbunden hätte, gerade nicht gehen.

Fragen stellen – auch an sich selbst

Gerade Kunst und Kultur haben die besondere Fähigkeit, die Fragen der Zeit auf zeitgemäße Art zu stellen und auch der Zeit voraus zu sein bzw. ihr voraus zu denken, zu fantasieren, zu spielen. Gerade auch dafür brauchen wir sie, gerade auch dafür dürfen wir Künstlerinnen und Künstler in dieser Krise nicht allein lassen, gerade auch dafür müssen wir die Vielfalt unserer kulturellen Institutionen verteidigen. Doch es ist höchste Zeit, dass wir die Fragen, die Kunst und Kultur der Gesellschaft stellen kann, auch auf die Kulturinstitutionen selbst beziehen und uns selbst den Fragen stellen – mit mehr Offenheit für schmerzhafte Antworten und mehr Bereitschaft zu konkreten Veränderungen als in der Vergangenheit.

So ist denn immerhin eine Facette der Entlehnung des Begriffs der Systemrelevanz aus der Finanzkrise durchaus stimmig: Von Systemrelevanz spricht man erst, wenn alles auf dem Spiel steht. Und in den nächsten Monaten und Jahren wird nicht nur für die Kultur, sondern für unser gesamtes Konzept von Gesellschaft tatsächlich viel auf dem Spiel stehen. Die Corona-Pandemie ist dabei aber eher ein beschleunigender, als ein allein bestimmender Faktor: Herausforderungen wie der menschgemachte Klimawandel, die digitale Transformation und die Krise der Demokratie und gesellschaftlicher Teilhabe werfen fundamental die Frage auf, wie wir gesellschaftliches Zusammenleben lokal, national und global so gestalten können, dass lebenswerte Zukunftsperspektiven erhalten bleiben.

Und in all diesen Bereichen waren es in den letzten Jahren nicht unbedingt die Kulturinstitutionen, die mit Blick auf ihre eigene Praxis hier von besonderer Neugierde, Erfindungsreichtum und Wagemut bzw. von dorther gebildeter Relevanz geprägt waren. Zudem wird zunehmend deutlich, dass die Dissonanz, ja der häufig bestehende diametrale Widerspruch zwischen den auf den Vorderbühnen propagierten Werten und der tatsächlichen eigenen Praxis auf den Hinterbühnen von vielen Kulturschaffenden nicht mehr länger hingenommen werden und auch hier zusätzlicher Veränderungsdruck entsteht, der auf mehr Stimmigkeit in den Kulturorganisationen abzielt, die heute von einem »practice what you preach« noch zu oft weit entfernt sind.

Neue Relevanz braucht neue Ansätze

An der Schwelle zu etwas Neuem machen sich notwendig Sorgen, Ängste, Verunsicherung breit – die alten Handlungsmuster funktionieren bereits spürbar nicht mehr, neue sind noch nicht oder nur in Teilen gefunden. Genau das ist eine basale Definition von »Krise«: Krise ist, wenn unsere etablierten, routinierten, vermeintlichen »normalen« Verhaltensweisen nicht mehr tragen.

Ich würde mir wünschen, eine wirklich selbstkritische Debatte der Kultur und der Kulturinstitutionen über ihre eigene Bedeutung und Rolle für eine Gesellschaft in Transformation zu hören, die ebenso lautstark ist, wie die Forderungen an die Politik. Ich würde mir wünschen, dass Kultur ihre Relevanz nicht nur reflexhaft behauptet, sondern dass diese Relevanz eine Erfahrung möglichst vieler und vielfältiger Menschen in ihrem konkreten Alltag ist. Ich würde mir zudem wünschen, dass Kulturorganisationen ihre eigene Organisationskultur überdenken und nach Wegen suchen, mehr Stimmigkeit zwischen Werten und Praxis zu erreichen.  Ich würde mir auch wünschen, dass Kulturakteur:innen und politische Verantwortungsträger:innen tatsächlich gemeinsam »auf die Couch« gehen, sich neu und anders zuhören, die reflexhaften rhetorischen Formeln hinter sich lassen und in einen echten Dialog treten. Wie in jeder Beziehungskrise würden davon beide Seiten profitieren. Und beide Seiten brauchen es, so dringlich wie seit Jahrzehnten nicht.

Das sind doch wieder nur Forderungen an Dritte, denken Sie jetzt? Was ich selbst tue, fragen Sie mich? Als Hochschullehrer muss ich mir tatsächlich ebenso fundamentale Fragen stellen: Bilden wir die nächste Generation richtig aus für die Herausforderungen, die vor uns liegen? Welches Wissen, welche Kompetenzen, welche Haltungen braucht es? Wie lehrt und lernt man angemessen in Zeiten dramatischer Transformation? Auch Hochschulen sind dringend gefordert, sich kritisch von der Gesellschaft befragen zu lassen und sich selbst kritisch zu befragen. Sehen wir uns vor dem Spiegel?

Autor

Martin Zierold

Professor für Organisationstheorie und Change Management am Institut für Kultur und Medienmanagement (KMM) Hamburg

Corona-Krise – Chance für Kultur und Gesellschaft

15. Dezember 2020

Corona ist zum Code für Beschränkung, Verzicht und Existenzängste geworden. Ersteres betrifft die Gesellschaft als Ganzes, letzteres die Menschen vor allem in Gastronomie, Tourismus und ganz besonders Kultur, die vom Florieren der jeweiligen Sparte abhängen. Corona als Chance zu sehen, scheint deshalb geradezu provokativ.

Deshalb haben wir uns in diesem Jahr des kulturellen Lockdowns angewöhnt, mit dem Brustton der Überzeugung und möglichst unüberhörbar das Hohelied der Solidarität und der Systemrelevanz von Kultur zu singen. Die Ohren einer ohnehin kulturaffinen Teilöffentlichkeit und die vieler Sonntagsredner*innen haben wir damit erreicht, der Kultur einen Platz außerhalb des Feuilletons auf den vorderen Seiten erobert und etliche Überbrückungshilfen mobilisiert. Aber wenn wir den Blick ein bisschen weiter nach vorn richten, über die Zeit der Pandemie hinaus, sind wir mit dieser Haltung gerade dabei, die Chance auf einen wirklichen Neustart zu verspielen.

Zu einem solchen Neustart gehört erst einmal die Bereitschaft zu einer Bestandsaufnahme, die nicht von tradierter Selbsteinschätzung geprägt ist, sondern die schlichte aber zentrale Feststellung der Kulturpolitischen Gesellschaft ernst nimmt, dass Kulturpolitik kein Selbstzweck ist, sondern Gesellschaftspolitik. Kultur und ihre politische Gestaltung sind, so schwer das Eingeständnis auch fallen mag, nicht eo ipso relevant, zumindest nicht ohne eine Begründung, die sich nicht aus sich selbst speist, sondern aus den Erwartungen der Gesellschaft und ihren Funktionen für sie.

Dabei trifft der Zuordnung von Kultur zum Bereich der Freizeitgestaltung ins Mark des Selbstverständnisses. Was haben wir nicht schon alles an Argumenten zusammengetragen, wie wichtig Kultur ist für die Bildung, für die humane Sinnlichkeit, für Innovation, Individualität und kollektives Bewusstsein. Welcher Hohn es ist, die Öffnung von Kultureinrichtungen mit der von Bordellen auf eine Stufe zu stellen. Diese Argumente sind richtig. Umfragen zeigen jedoch, dass dieses Bewusstsein der Kulturakteure nicht dem des Publikums entspricht: Empirische Erkenntnisse zu Kulturnutzung in Deutschland belegen, dass über 60 Prozent von einem Kulturbesuch vor allem gute Unterhaltung erwarten, viele das gemeinsame Unternehmen mit Freund*innen und Partner*innen schätzen oder schlicht eine angenehme Atmosphäre. Die Neugier auf neue Kunstformen und ästhetischen Genuss nennt gerade einmal ein Drittel als Motiv. Institut für Kulturpolitik, Universität Hildesheim) Kultur als Freizeitevent dominiert offensichtlich über Schillers Vermutung, das Theater – oder überhaupt die Kultur – könne als „moralische Anstalt“ wirksam sein. Kultur fungiert deshalb weit affirmativer, als es ihrem Selbstbild entspricht.

Vielleicht ist es gerade deshalb so schwierig, die Bedeutung von Kultur auf gleicher Zuschuss-Augenhöhe mit der Lufthansa oder der Automobil-Branche zu positionieren. Kultur wird durch ihre Akteure geprägt, Kunst trägt ihren Wert in sich, Kulturpolitik aber verantwortet die Verbindung von Kultur und Gesellschaft und ist somit auf Akzeptanz und Wertschätzung angewiesen. Und die muss sie sich durch eine Bedeutung verdienen, die über sie selbst hinausreicht. Deshalb haben wir derzeit auch keine Krise der Künstler*innen (trotz der Verschärfung ihrer ökonomischen Situation) und keine Krise der Kunst (die durch die Krise nichts von ihrem Wert verloren hat); wir haben eine Krise der Kulturpolitik. Damit findet sich Kultur mitten in einem umfassenden Transformationsprozess, dessen Ausgang unklar ist. Das Krisenszenario, das diese Transformation begleitet und beschleunigt, beschränkt sich nicht auf eine Epidemie. Dazu gehören ebenso die Finanzkrise, eine Krise der liberalen Demokratie, eine Krise der Ökologie, der globalen Gerechtigkeit und manches mehr. Es wird zu den wichtigen Herausforderungen künftiger Kulturpolitik gehören, Kultur und Kunst mit Ökologie, Demokratie und Gerechtigkeit in Beziehung zu setzen, ohne die Eigenständigkeit dieser Bereiche und damit auch die Freiheit der Kunst zu gefährden.

Die Krise der Kulturpolitik wird durch fünf Faktoren spürbar intensiviert und im Spotlight sichtbar:

Die ökonomische Lage der Künstler war schon immer prekär, wurde aber als selbstverständlich hingenommen – von den Künstler*innen wie vom Publikum. Spitzwegs Bild vom „armen Poeten“ hat das im öffentlichen Bewusstsein verankert. Wer eine Berufskarriere als Künstler*in einschlägt, weiß das, auch wenn er von der Hoffnung getragen wird, dereinst zu den glücklichen Ausnahmen zu zählen. So konnten die meisten mit kultureller Profession nie relevante Rücklagen aufbauen und müssen jetzt um ihre gesamte (künstlerische) Existenz fürchten. Sie schaffen es damit aber zumindest erstmals, als wirtschaftliche Subjekte wahrgenommen zu werden. Diese Einsicht muss, soll sie nicht vergeblich sein, zur Basis einer neuen Bewertung von Kultur und der Struktur kulturpolitischen Handelns werden. Das Bewusstsein, dass künstlerische Arbeit existenzsichernd sein soll, hat – aus der Kulturwirtschaft kommend – bereits Ansätze zu einer Neuorientierung gezeigt. Eine Stabilisierung der Arbeit von Künstler*innen und Kultur-Selbständigen muss aber weiter reichen: Eine Neuordnung der Künstlersozialversicherung, die Anerkennung von Entgelt für künstlerische Arbeit („Art but Fair“), eine Verdienstausfallversicherung ähnlich dem Kurzarbeitergeld sind mögliche Ansätze einer notwendigen Restrukturierung. Die Diskussion über die Relation von Freizeitkunst, künstlerischer Freiheit und Existenzsicherung hat freilich gerade erst begonnen. Die Krise bietet die Chance, sie zielorientiert und intensiver zu führen.

Im staatlichen, kommunalen und privaten Bereich hat sich eine lebendige Vielfalt von Kultureinrichtungen etabliert, die wesentlich zur Vielfalt des Kulturangebots beiträgt. Jede dieser Einrichtungen fordert Immunität für ihre Existenz und beklagt den institutionellen Verlust als Verlust von Kultur. Dabei geht es hier um nicht weniger als um eine kulturinhärente Form von Nachhaltigkeit. Diese gebietet in der Forstwirtschaft (um das Beispiel aus den Anfängen dieses Begriffs zu nehmen) nicht, keine Bäume zu fällen. Sie verlangt im Gegenteil, den Baumbestand so zu managen, dass der Bestand des Waldes generationenübergreifend gesichert wird. Ein Projekt auslaufen zu lassen, eine Einrichtung zu schließen, die ihre Funktion für die Gesellschaft nicht mehr überzeugend (andere überzeugend!) begründen kann, und dafür andere Einrichtungen oder Projekte verstärkt zu fördern oder neu aufzusetzen ist ein Gebot von Nachhaltigkeit und damit Zukunftsfähigkeit. Die Begründung für diesen Umbau setzt auf die Wertschätzung und damit Akzeptanz, die Kultur und ihre konkreten Erscheinungsformen in der Gesellschaft hat. Sie verlangt von der Kulturpolitik somit, diesen Wert zu identifizieren, zu kommunizieren und zur Diskussion zu stellen.

Die – ebenfalls durch die Krise beschleunigte – Digitalisierung von Kommunikation, Kunst und Politik erweitert den kulturellen Content ebenso wie sie die Interaktion von Kulturpolitik und Öffentlichkeit erleichtert und mobilisiert. Sie hat auch Auswirkungen auf den ökologischen Fußabdruck, den wir hinterlassen. Zudem ermöglicht die barrierearme Einbindung von Kultur in Politik und Gesellschaft eine Partizipation an kulturpolitischen Themen, die weit über das traditionelle Kulturpublikum hinausreicht. Konflikte als Kernbestand von Politik bekommen so kulturell ein neues Podium. Sie ist eine Chance für eine aktivere demokratische Öffentlichkeit.

Vor dieser Chance scheuen viele Kulturakteure und Kulturpolitiker*innen zurück, weil sie angesichts einer kulturellen Aktivbürgerschaft von kaum 10 Prozent einen Bedeutungsrückgang von Kultur in der Unsicherheit einer volatilen Finanzierung befürchten. Die Suche nach Sicherheit treibt deshalb immer wieder zu der Forderung, Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern. Diese Forderung unterliegt allerdings dem Irrtum zu glauben, eine Kodifizierung ändere etwas an der Realität. Kultur ist bereits jetzt in fast allen Länderverfassungen als Staatsziel definiert – ohne sich deshalb gegen die Dominanz des Verwaltungsrechts durchsetzen zu können, die Pflichtaufgaben einen Vorrang vor „freiwilligen Leistungen“ wie Kultur zuspricht, selbst wenn diese Verfassungsrang besitzen.

Die andere Fluchtbewegung aus der Unsicherheit heraus ist das Bestreben, Kultur unter das Dach der Bildung als Pflichtaufgabe zu schieben. Sie erweist sich als problematisch, weil jedes Gesetz, das Pflichtaufgaben beschreibt, diese auch an Kriterien bindet und somit der Kultur genau die Freiheit raubt, die ihr verfassungsgestütztes Selbstbewusstsein ausmacht. Auch Spartengesetze unterliegen derselben juristischen Mechanik und führen nicht weiter. Sinnvoller ist eine Neugewichtung der Kulturellen Bildung, die mit der Ausweitung von Ganztagsschulen ohnehin bereits ein erweitertes Aktionsfeld gefunden hat. Bildung ist eine Bedingung von Kultur, Kultur erschöpft sich aber nicht in Bildung. Deshalb geht es bei Kultureller Bildung nicht um die Hoffnung auf juristische Absicherung, sondern um die Funktion, die sie für Kultur, ebenso aber für die Entwicklung demokratiefähiger Persönlichkeit und gesellschaftlicher Entwicklungsfähigkeit hat. Dies deutlich zu machen ist eine Chance für Bildung und Kultur gleichermaßen.

Wir werden uns daran gewöhnen müssen, die Hoffnung künftig nicht auf Schutzgesetze und (vorübergehende) staatliche Hilfsleistungen zu setzen (so wichtig letztere derzeit sind), sondern auf die Akzeptenz von Kultur in einer demokratischen Gesellschaft. Wenn das gelingt, öffnet sich für Kultur ein weit größerer Horizont als der jetzige, der gerade in der Krise von beklemmendem Verteidigungsbemühen geprägt ist. Für diesen Horizont ist der Zwang zur Neuorientierung in und nach der Krise die weitreichende Chance.

Trotz anhaltender Null-Zins-Politik wird die Zeit nach Corona von wenig finanziellem Spielraum geprägt sein. Für die Kulturpolitik ergibt sich daraus die Notwendigkeit:

  • einen breiten Diskurs über die Nachhaltigkeit von Kulturangeboten und Kultureinrichtungen zu eröffnen
  • die Funktion von Kultur für Stadtentwicklung, Öffentlichkeit, Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt neu zu justieren und mit dieser Vernetzung  Kultur wie Gesellschaft resilienter zu machen
  • Kulturförderung entsprechend diesen Überlegungen neu zu organisieren, um gesellschaftliche Relevanz, Vielfalt der ästhetischen Gestaltungen, Partizipation und Akzeptanz in ein konflikt- und damit zukunftsfähiges Verhältnis zu bringen
  • die Stärke der Kultur, in Alternativen denken zu können, zur Fähigkeit zu erweitern, mit Unsicherheiten leben zu können, wie wir sie gerade während der Krise so lebhaft erfahren.

Diese Notwendigkeiten zu erkennen und in Kulturpolitik umzusetzen, ist die große Chance, die nicht erst Corona erzwingt, die durch die Krise aber als Gegenwartsaufgabe unausweichlich ist. Krisen sind immer Ausdruck von Transformationsprozessen. Mit der Bereitschaft, die Konflikte einer säkularen Transformation kulturell zu verhandeln, rückt Kultur ins Zentrum von Politik und Gesellschaft. Der Prozess ist so schmerzlich wie unausweichlich. Ihn nicht nur zu erleiden, sondern zu gestalten und dabei Kultur groß zu denken ist die optimistische Chance einer Krisenzeit, für die Corona nur einen Signalcode darstellt.

Autor

Dr. Dieter Rossmeissl, Nürnberg

Kulturdezernent a.D. und Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Kultur und ästhetische Bildung der Universität Erlangen-Nürnberg

Übers Ausspucken und Erneuern in Zeiten der Pandemie

11. Dezember 2020

Gedanken bei der Relektüre des Buches »Der Kulturinfarkt– eine Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat und Kultursubvention«


2012 trat ein Quartett bis dahin höchst ehrenwerter Vertreter des Kulturbetriebs mit einer Polemik an die Öffentlichkeit, die ihr weiteres berufliches Leben mehr beeinflussen sollte als ihren Untersuchungsgegenstand. Als langjährig tätige Experten repräsentierten Dieter Haselbach, Pius Knüsel, Stephan Opitz und Armin Klein ebenso theoretische wie praktische Erfahrungen im Kulturbetrieb. Irgendetwas muss damals ihr Fass zum Überlaufen gebracht haben: »So kann es nicht weitergehen!« lautete ihre forsche Kampfansage an ein kulturelles Bewahrsystem, dem nach ihrer Einschätzung jegliche Innovationskraft abhandengekommen war.

Verstärkt durch die Auswirkungen der Weltfinanzkrise 2008 auf die Arbeits- und Lebensverhältnisse traten sie an, dem Kulturbetrieb aus einer Innensicht einen Spiegel vorzuhalten. Ihre grobe Anamnese lief auf den Befund hinaus, ein in die Jahre gekommenes, fettleibig um sich selbst kreisendes System ringe mit einem »Kulturinfarkt«, dem nur mit einer einschneidenden Diät beizukommen wäre. Also formulierten sie in provozierender Absicht unter dem Aufmacher »Die Hälfte?« im deutschen Wochenmagazin Der Spiegel ein Destillat ihres Buches mit dem Ziel, noch einmal eine breite kulturpolitische Diskussion anzustoßen.


Darf jemand, der im Glashaus sitzt, mit harter Münze werfen?
Wenn ihr zentraler Befund darauf hinausgelaufen war, der (öffentlich finanzierte) Kulturbetrieb wäre vor allem mit seiner eigenen Besitzstandswahrung beschäftigt, dann hatten die Autoren möglicher Weise seine Widerstandsfähigkeit unterschätzt. Es muss auch sie überrascht haben, mit welcher Vehemenz ihre Vertreter*innen darauf reagierten, als ein paar »Kulturverräter« den Status quo als ein tiefgehendes Krankheitsbild beschrieben und sich erdreisteten, als Therapie u.a. eine Halbierung der öffentlichen Kulturförderung vorzuschlagen.

Beginnend mit der Verdammung durch den Deutschen Kulturrat als zentraler Interessensvertretung galten die vier Autoren in der Szene fortan als verfemt. Die Verteidigungsreihen wurden geschlossen, die Autoren bei Androhung des Jobverlustes zum Verstummen gebracht. Schon bald sprach niemand mehr vom »Kulturinfarkt«; der Versuch eines wohl zu selbstgefälligen Autorenteams, einen Akzent zur Erneuerung des Betriebs zu setzen, war nach hinten losgegangen. Da war der Vorwurf, die Autoren bedienten doch bloß populistische Ressentiments noch das geringste Vergehen. So erruptiv das Buch seinen Weg in die Öffentlichkeit fand, ausgestattet mit einer solchen Nachrede, verschwand es nach einer kurzen und heftigen öffentlichen Kontroverse schon bald wieder in den Regalen einiger weniger Fachbibliotheken.

Acht Jahre später erlebt der Kulturbetrieb seine größte Krise seit 1945. Die Ursachen kommen diesmal nicht in Form einer polemischen Einschätzung aus den eigenen Reihen. Sie kommen von einer dramatischen Veränderung der äußeren Umstände, die von einem Tag auf den anderen ein überkommendes Geschäftsmodell zum Erliegen gebracht haben. Die Pandemie fordert vom Kulturbetrieb einen ganz besonderen Tribut. Da können Durchhalteparolen, wir würden alsbald wieder zu den alten Zuständen zurückkehren, noch so oft wiederholt werden; immer mehr Akteur*innen, vor allem aus dem Freien Bereich, wissen es angesichts ihrer existenziellen Bedrohungslage längst besser: Die Rahmenbedingungen, in dem der Kulturbetrieb tätig ist, sind drauf und dran, die betrieblichen Selbstverständnisse in seinen Grundfesten zu erschüttern.

Die Ressourcen werden immer knapper; es gilt, sich auf neue Verhältnisse vorzubereiten. Klagen wie die des langjährigen Generaldirektors der Albertina Klaus Albrecht Schröder, der sich und seine bislang als krisenfest eingeschätzte Institution und mit ihr auch gleich weite Teile des Betriebs »im freien Fall« sieht, sind dafür die hässliche Begleitmusik.


»Das Bildnis des Dorian Gray« lässt grüßen. Wir erleben gerade, wie es sich anfühlt, an der eigenen Selbstbezogenheit zugrunde zu gehen.
Unter einem solchen Eindruck habe ich mir nochmals den »Kulturinfarkt« vorgenommen und muss nach der Lektüre feststellen, dass viele der darin formulierten Einschätzungen – sieht man von der provozierenden These der Halbierung der öffentlichen Kulturbudgets ab – durchaus Anregungen für die Bewältigung für die heutige Krise enthalten, ja, dass wir uns vielleicht so manche dramatische Entwicklung erspart hätten, hätte der Kulturbetrieb dieses Angebot für eine Verbreiterung und Intensivierung des kulturpolitischen Diskurses nach 2012 nicht einfach unter den Teppich gekehrt.

Im ersten Teil weisen die Autoren nach, dass es vor allem seit den 1970er Jahren zu einer umfassenden Ausweitung der kulturellen Infrastruktur vor allem in Deutschland und der Schweiz (Österreich ist in Ermangelung eines hier ansässigen Fachautors nur indirekt Verhandlungsgegenstand) gekommen ist. Im Anspruch einer »Kultur für alle« entstand so eine weitgehend unhinterfragte Wachstumslogik, wonach »Kultur« per se als positiv anzusehen sei, je »mehr Kultur« nur umso besser. Von den Autoren auf den Punkt gebracht: »Kultur macht einfach rundherum glücklich«.

Und so wurden wir in den letzten Jahren von einer affirmativen Rhetorik umnebelt, die mit Kultur alles zu versprechen wusste: »Sie macht unglückliche Individuen glücklich, glückliche intelligent. Sie macht Lehrer*innen glücklich, weil sie einen fröhlicheren Unterricht verspricht und den Erwerb sozialer Kompetenzen fördert. Sie macht Politiker*innen glücklich, weil sie gefahrlos Gutes tun können. Sie macht Wirtschaftsstatistiker*innen glücklich, weil sie Wachstum verspricht….« Die Auflistung der Versprechungen geht noch lange weiter und erklärt wohl, warum sich so viele, auf der richtigen Seite wähnende Kulturmenschen damals so sehr auf den Schlips getreten fühlen mussten.


»Kulturnation« – Das war einmal
Eine Etage ernsthafter verhandeln die Autoren einen politischen Begründungszusammenhang, der den unhinterfragten Ausbau der kulturellen Infrastruktur u.a. mit der Absicht, den Ansprüchen einer »Kulturnation« gerecht zu werden, begründen; eine »Kulturhoheit« der Länder sollte das für Mitteleuropa typische Naheverhältnis zwischen Staat und Kulturbetrieb legitimieren, ein daraus abgeleiteter »Kulturauftrag« des Staates die dafür notwendigen staatlichen Maßnahmen gewährleisten.

Dabei blieb freilich unberücksichtigt, dass dem Kulturbetrieb nach den historischen politischen Zusammenbruch von 1945 in der Tat eine bedeutende Funktion zur Wiedergewinnung einer nach innen ebenso wie nach außen wirksamen nationalen Identitätsbildung zugekommen ist. Diese Aufgabe aber hatte sich spätestens in den 1970er Jahren erledigt, wenn große Mehrheiten die Zugehörigkeit zur deutschen oder österreichischen Nation in keiner Weise mehr anzweifelten und so im Konzert- oder Theatersaal nicht mehr zum »wahren« Deutschen oder Österreicher erzogen werden wollten.

Diese kontrafaktische Zuschreibung dient heute bestenfalls rechtspopulistischen Kräften, sich gegenüber Zuwander*innen als Verteidiger eines weitgehend inhaltsleer gewordenen »Deutschtums« oder »Österreichertums« zu profilieren.

Kurzer Sidestep: Ausgehend von dieser unvergleichlichen Erfolgsgeschichte der nationalen Kulturpolitiken in den ersten Nachkriegsjahren spricht heute fast alles dafür, ähnliche Anstrengungen zur Konsolidierung des europäischen Projekts zu versuchen. Dazu aber wäre es notwendig, kulturpolitische Kompetenzen von der nationalstaatlichen auf die europäische Ebene zu verlagern, eine Forderung, die wesentlich zur Vergemeinschaftung der europäischen Gesellschaft beitragen würde und von deren Umsetzung wird doch weiter denn je entfernt sind.


Über eine »Kultur für alle«, die nur von wenigen genutzt wird
Mit dem ungeregelten, um nicht zu sagen wildwüchsigen Ausbau der kulturellen Infrastruktur entstünden nach Haselbach und Co. zumindest mehrere Problemlagen: Da ist zum einen der Umstand, dass das daraus resultierende, gewachsene Angebot weiterhin nur sehr selektiv wahrgenommen wird. Damit verweist der »Kulturinfarkt« auf einen Aspekt des Kulturbetriebs, der gerne unterbelichtet bleibt: Er besteht darin, dass seine Ausgestaltung nicht nur integrierende, sondern auch segregierende Wirkung zu entfalten vermag.

Das gilt umso mehr in Zeiten wachsender sozialer Polarisierung, von der mittlerweile auch die europäischen Gesellschaften voll erfasst sind. Kulturpolitik aber scheint bislang auf diesem Auge weitgehend blind; ihre Maßnahmen privilegieren nach wie vor die ohnehin Privilegierten, während sie die wachsende Zahl der Diskriminierten ihrem unglücklichen Schicksal überlässt. Die Rhetorik, die unter Beibehaltung der dominierenden Organisationsformen davon berichtet, sich in besonderer Weise um »sozial Benachteiligte« oder »bildungsferne Schichten« bemühen zu wollen, führt ungewollt eher zu stigmatisierenden denn zu partizipativen Effekten.


Der Hype um die »Kulturgesellschaft« und die Zunahme irrationaler Tendenzen. Gibt es da einen Zusammenhang?
Eine besonders tiefgehend negative Auswirkung sehen die Autoren ausgerechnet für das Standing von Wissenschaft in der Gesellschaft: Mit der Hypostasierung von Kultur mutiere der Staat zum Treiber einer unwissenschaftlichen Weltsicht: Die Folge ist die Verengung von Weltsicht auf ästhetisch vermittelte Geschmacksfragen, die sich als solche intersubjektiver Bewertung verweigern. Zusammen mit der Logik der Konkurrenzgesellschaft, die Individualisierung zur einzig erfolgsversprechenden Handlungsanleitung erhebt, erweise sich der Hype um Kultur als ein herausragendes Desintegrationsmittel.

Die umfassende Ästhetisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse verunmögliche einen, die einzelnen kulturellen Szenen übergreifenden Common Sense. Das Ergebnis wäre eine allgemeine Wissenschaftsverachtung, die privaten Weltsichten inklusive der Kultivierung von Verschwörungstheorien aller Art Tür und Tor öffnen würde. (Der Umstand, dass sich der Kulturbetrieb bislang in besonderer Weise seiner wissenschaftlichen Beforschung verweigert, wie die zunehmende Einsicht, dass sich die brennenden Probleme der Gegenwart, allen voran die aktuelle Gesundheitskrise, nicht durch Kultur, sondern nur mit Hilfe der Wissenschaft werden lösen lassen, sprechen dafür.)

Die Hauptkritikpunkte an den Thesen des »Kulturinfarkt« aber betreffen die Infragestellung der segensreichen Wirkung öffentlicher Förderung als Mittel zur Marktkorrektur. Ganz offensichtlich möchten sie möglichst holzschnittartig eine Gegenposition zum herrschenden handlungsleitenden Vorurteil »Förderung befreie die Kunst, der Markt versklave sie« herstellen. Ihre Argumentation läuft – und das war wohl der besondere, als unsolidarisch empfundene Affront gegenüber allen Förderungsempfänger*innen – darauf hinaus, dass staatliche Förderung nicht nur Vorteile bringe, sondern auch Nachteile.

Vor allem würde diese Form der Alimentierung die systemimmanenten Beharrungskräfte stärken und die notwendige Weiterentwicklung behindern. Die Gefahr einer inhaltlichen Einflussnahme, gegen die die Szene die Monstranz der Autonomie errichtet hat, stelle dabei das geringere Problem dar. Die fatalen Auswirkungen einer angebotsorientierten Kulturpolitik Die Autoren kritisieren dabei vor allem eine scheinbar unkorrigierbare und doch falsche kulturpolitische Prioritätensetzung, die auf eine einseitige Angebotsorientierung hinausläuft. Diese würde durch die bestehende Förderstruktur begünstigt und verhindere notwendige Anpassungen an ein geändertes Nutzer*innen-Verhalten.

In der Weigerung, die (potentielle) Nachfrager*innen-Seite stärker in den kulturpolitischen Blick zu nehmen, würden diese auf einen dynamisch sich weiter entwickelnden Kulturmarkt verwiesen. Der geförderte Kulturbetrieb hingegen könne dank marktunabhängiger Einnahmequellen auf den Erhalt überkommender Strukturen setzen, um sich blind zu stellen gegenüber den neu entstandenen Kommunikations- und Interaktionserwartungen der Nutzer*innen.

Man könnte diesem Befund entgegenhalten, dass sich – jedenfalls in Österreich – auch die hochsubventionierten Einrichtungen in den letzten Jahren in Ermangelung zielgerichteter kulturpolitischer Vorgaben den Markt zum Maß aller Dinge erklärt hätten. Bei der Berücksichtigung der Nachfrage aber haben sie sich – etwa im Sektor des boomenden internationalen Kulturtourismus – diejenigen Filetstücke herausgesucht, die ihren gestiegenen Einnahmeerwartungen am besten entsprochen hätten. Allen anderen hätten sie zudem einen Bedeutungsverlust signalisiert, wenn seither immer weiter steigende Produktionskosten trotz verschärfter Konkurrenzbedingungen am Markt im Zuge von Sonderprogrammen (vor allem im Bereich der Bildung und Vermittlung) mit immer günstigeren Preisen verknüpft werden.

Trotz angebotsorientierter Schlagseite könnten gerade produktionsseitig die Effekte nicht verheerender sein. Immerhin treibe eine solche Privilegierung alle anderen Marktakteur*innen, die mit wenig oder gar keiner öffentlichen Finanzierung auskommen müssen, in einen ungleichen Konkurrenzkampf, den sie – bis auf wenige Nischen – nur verlieren können. Der gegenwärtige vielfach beschädigte Zustand des freien Bereichs in Österreich ist dafür mehr als ein beredeter Ausdruck für die dadurch zumindest ein Kauf genommene Verungleichung nicht trotz, sondern durch staatliche Interventionen.

Spätestens mit dem Ausbruch der Pandemie gilt es, das Verhältnis zwischen Produktion, Vermittlung und Konsumption auf eine neue ausbalancierte Grundlage zu stellen Mit der Pandemie erscheint diese Logik fürs Erste auf den Kopf gestellt: Das Publikum ist von einem zum anderen Tag weggebrochen, damit ein Geschäftsmodell an sein Ende gekommen. Die kulturpolitischen Konsequenzen suggerieren mit jedem Tag deutlicher, dass ein »more of the same« die Lage nur verschlechtert, wenn es nicht gelingt, das Verhältnis von Produktion, Vermittlung und Konsumption auf eine neu ausbalancierte Grundlage zu stellen.

Bei der Einschätzung positiver ebenso wie negativer Effekte der staatlichen Privilegierung ausgewählter Marktakteur*innen verhandeln die Autoren auch den Aspekt der meritorischen Güter: Volkswirtschaftlich handelt es sich dabei um die Produktion gesellschaftlich wünschenswerter Güter, für die keine ausreichende Nachfrage herrscht. Um diese auszugleichen, übernimmt der Staat im Zuge seines »Kulturauftrags« zumindest einen Teil der Produktionskosten und sorgt für hinreichende Distributionsmaßnahmen.

Dass er sich dabei vor allem auf diejenigen stützt, die er aus seiner Sicht am leichtesten erreichen kann, ein liberales und wohlhabendes Bildungsbürgertum eben, ist ein weiterer Grund, warum sich der Kulturbetrieb in Zeiten wachsender Polarisierung sehr zur Freude der Rechtspopulisten immer mehr vom großen, mittlerweile vielfach ausdifferenzierten Rest der Gesellschaft entfremdet.

Damit aber fördert der Staat in der aktuellen Situation meritorische Güter, die nur bei einem kleinen Teil der Bevölkerung ankommen. Alle anderen, obwohl ihr sozialer Status oft wesentlich schlechter ist als der der jetzt in erster Linie Begünstigten, sind mit ihren kulturellen Vorlieben ganz ohne staatliche Beihilfen auf einen Markt verwiesen, dessen Akteur*innen sich darin zu überbieten versuchen, den kulturellen Erwartungen der potentiellen Nachfrager*innen zu entsprechen. Und wir haben es einerseits mit einem wohlhabenden gesetzten Ehepaar zu tun, dessen Opernbesuch bei den Salzburger Festspielen hoch subventioniert wird, während der Lehrling andererseits für den Besuch seiner Lieblingsband volle Länge bezahlen muss.

Das versteht in einer Gesellschaft, die nach den langen Jahren einer »Kultur für, mit und von allen« angeblich keine kulturellen Hierarchien mehr kennt, keiner mehr – außer ein paar Begünstigte.

Könnte es sein, dass der Gegensatz zwischen künstlerischer Qualität und Publikumsgeschmack selbst als Teil der umfassenden Verteidigungsstrategie eines der Gesellschaft zunehmend entfremdeten Kulturbetriebs künstlich herbeigeredet wird?

Ganz offensichtlich sind in unser aller Köpfe noch kategoriale Trennlinien eingegraben, die etwa der E-Kultur einen größeren gesellschaftlichen Stellenwert zuschreiben als der U-Kultur. Die Autoren weisen in diesem Zusammenhänge auf Gedankenkonstrukte der Frankfurter Schule hin, die just 1945 Adorno und Horkheimer in ihrer legendären Schrift »minima moralia« als Gefahr einer Überfremdung durch ein amerikanische Unterhaltungsangebot (Kinofilm, Jazz, Comics, brrrrr!) höher eingeschätzt haben als das Fortwirken nationalsozialistischen Gedankenguts.

Also halten die Repräsentant*innen der staatlichen Verwaltungen bis heute an der Illusion eines wünschenswerten Kulturbegriffs fest, der sich als experimentell, widerständig und kritisch den Marktkräften verweigert und daher der staatlichen Alimentation bedarf. Dass das nur einige wenige Spezialist*innen interessiert, liegt dann in der Natur der Sache. Alles andere wären in dieser Logik falsche Anbiederungsversuche, die es darauf anlegen würden, einem ignoranten Publikum nach dem Mund reden zu wollen; und damit auch gleich jegliche Kritik an den herrschenden Verhältnissen zu ersticken.

Spätestens mit der digitalen Revolution spricht vieles dafür, dass es sich beim Beharren auf diese kategorialen Trennung in einer kulturell enthierarchisierten gesellschaftlichen Verfassung um eine billige Vermeidungsstrategie handelt, wo es doch darum geht, die Nutzer*innen sowohl in ihren Unterhaltungsbedürfnissen darüber hinaus aber auch in ihrer Kritik- und Veränderungswilligkeit ernst zu nehmen. Wenn die neuen digitalen Kulturräume etwas deutlich machen, dann ein geändertes kulturelles Verhalten, mit dem neue Interaktions- und Ko-Kreationsformen zur Selbstverständlichkeit geworden sind und daher auch für den traditionellen Kulturbetrieb eingefordert werden.

Entsprechend spricht vieles dafür, dass eine Neubewertung der Bedeutung der Nutzer*innen nicht notwendig zu einer weiteren Nivellierung führen muss; statt dessen könnte gerade der Bedeutungszuwachs der Nachfrageseite zu einer Neubelebung des Kulturbetriebs führen, der in diesen Tagen jede Orientierung verloren hat, wie es weiter gehen könnte.
Dafür müsste freilich Kritikern wie Haselbach und Co nicht einmal mehr der Mund verboten und sie totgeschwiegen werden. Statt ausschließlich auf weitere staatliche Hilfsprogramme zur Stärkung der Angebotsseite zu hoffen, müssten gerade jetzt »die Fetzen fliegen« , im Bemühen, neue Konzepte für die Weiterentwicklung des Kulturbetriebs zu verhandeln.

Dabei könnten wir erstaunt feststellen, dass längst eine neue Generation an Kunst- und Kulturschaffenden entstanden ist, die schon lange nicht mehr darauf wartet, dass der Staat sie wahrnimmt, sondern das gestalterische Heft selbst in die Hand nimmt und sich in Aufmüpfigkeit gegenüber gesellschaftlichen Fehlentwicklungen übt.


Eine neue Kunst- und Kulturstrategie tut not
Wir erleben gerade das Ende des Verwaltungshandelns einer Kulturpolitik, die die Aufrechterhaltung des Status quo zum Maß aller Dinge erklärt hat. Noch nie waren konzeptive Neubegründungen so sehr gefragt wir heute. Im aktuellen Programm der österreichischen Bundesregierung ist die Erarbeitung einer neuen Kunst- und Kulturstrategie vorgesehen. Passiert ist bisher nichts.

Manches könnte man sich im Empfehlungsteil des »Kulturinfarkts« abschauen. Die Autoren selbst haben mit der Forderung nach einer aus ihrer Sicht wünschenswerten Halbierung der öffentlichen Förderung jede weite Diskussion abgewürgt. Ihre starken Sprüche konnten als Alibi dafür herhalten, schon damals über die zunehmende Dringlichkeit einer Neuausrichtung entlang nachvollziehbarer inhaltlicher Schwerpunktsetzungen erst nachdenken zu müssen.

Aber wann, wenn nicht jetzt wollen wir endlich hinschauen, dass wesentliche Teile der staatlichen Förderung auf einige wenige Institutionen verteilt werden, während der überwiegende Teil der Szene ohne jegliche Angabe sachlicher Argumente (außer, dass diese Praxis einfach historisch gewachsen sei) mit immer bescheideneren Tranchen zurande kommen muss. Mit dem Argument, nur ja keinen Neid zwischen den Szenen zu schüren, wurde dieser Skandal einer ungleichen Behandlung die längste Zeit zum Tabu erklärt. Die junge Generation hat – soweit ich das verfolge – als eine Folge davon ihren Glauben an ein staatliches Interesse an ihren künstlerischen Vorhaben längst verloren. Kein Wunder also: Der Generationenkonflikt hat auch das Metier der Kultur in vollem Ausmaß erreicht.

Es spricht also manches dafür, die mit dem »Kulturinfakt« auf die Tagesordnung gebrachte Frage nach der Relevanz des Kulturbetriebs für die gesamte Gesellschaft wieder aufzunehmen und damit Kulturpolitik auf neue, gut begründbare Grundlagen zu stellen.


Es gilt, Kunst in Schutz zu nehmen vor überzogenen Erwartungen
Die Autoren sprechen auch im deutschsprachigen Raum erstmals von der Notwendigkeit, nachvollziehbare öffentliche Ziele zu formulieren, die die Fortsetzung einer Privilegierung ausgewählter Kulturangebote für eine zunehmend heterogene Bevölkerung verständlich, vielleicht sogar notwendig machen (Die Aufrechterhaltung der Kulturnation gehört sicher nicht dazu). Anhand inhaltlicher Vorgaben sollten sich Kultureinrichtungen – wie das in anderen Ländern längst üblich ist – alle paar Jahre einer umfassenden Evaluierung stellen um nachzuweisen, dass die vereinbarten kulturpolitischen Ziele in der jeweiligen Förderperiode auch erreicht worden sind. Darüber hinaus sollte Kulturpolitik Motivation bieten, um zusammen mit den Nutzer*innen neue Settings und Formate zu erproben. Damit würde es möglich, die ganze Palette kultureller Produktion, Vermittlung und Distribution anhand von relevanten Praxiserfahrungen neu zu verhandeln und auf eine zeitgemäße Grundlage zu stellen.

Darüber hinaus sprechen sich die Autoren für eine Stärkung der Laienkultur aus und skizzieren die Umrisse einer interkulturell ausgerichteten Kulturellen Bildung (das schließt die Fähigkeit, »Kunst in Schutz zu nehmen vor überzogenen Erwartungen und damit verbundenen Enttäuschungen« ebenso mit ein wie das Anerkenntnis, dass die Lösung der großen gesellschaftlichen Problem zuallererst einer wissenschaftlichen Bearbeitung bedürfen und kulturelle Selbstinszenierung dafür keinerlei wirksamen Ersatz zu bieten vermag).

Eine stärkere Einbeziehung in der Verfolgung gesellschaftlicher Strategien hätte nach ihnen auch Auswirkungen auf Kunstausbildungseinrichtungen, die sich von »Kapellen zur Anbetung staatlicher Garantien« zu Produktionszentren weiter entwickeln würden. Also Orte, in denen im Verbund mit relevanten Marktakteur*innen wie Filmemacher*innen, Galerien, Museen, Verlagen, Konzert- und Theaterveranstalter*innen sowie Medienbetreiber*innen die von den Studierenden gestalteten Produkte einem laufenden Wirklichkeitstest unterworfen werden.


Der Kulturbetrieb auf dem Weg in die Normalität- Involvierung, Kollision, Konflikt, Kooperation und Partizipation als die neuen handlungsleitenden Begriffe
Es ist wohltuend, die Autoren bei der Skizzierung eines Entwicklungsweg für den Kulturbetrieb in Richtung mehr Normalität zu begleiten: Dabei könnte sich Kulturpolitik von ihrem hohen Ross einer gesellschaftlichen Erziehungsanstalt zurückziehen und sich folglich von der Verkündigung moralischer Urteile verabschieden: Kulturpolitik als Medium glaubwürdiger Zukunftsgestaltung »ist weder auf einen idealen Endzustand ausgerichtet, noch kann sie sich als Advokatin einer bestimmten Ästhetik gerieren. Sie mutiert wie alle anderen Politikfelder zu einem dynamischen Regelsystem, das auf Widersprüchen baut, statt sie zu vermeiden. Sie will nicht die Zähmung optimieren, sondern die Kollision«.

Spätestens mit dem Ausbruch der Pandemie sieht sich der Kulturbetrieb dem Verdacht ausgesetzt, in einem (öffentlich geförderten) Glassturz seine Distanz zu den Niedrigkeiten des übrigen Weltgeschehens möglichst ungestört zelebrieren zu wollen. Der Umgang mit den Autoren des »Kulturinfarkts« hat den Beweis erbracht, wie gut er es versteht, diesbezügliche Kritiken zugunsten eines bedingungslosen »Weiter wie bisher« einfach auszuspucken. Jetzt aber ist alles anders: Der Druck kommt von außen. Und er ist so stark, dass bei Ausbleiben jedes Erneuerungswillen es diesmal der große Rest der Gesellschaft sein könnte, der diese Spuckfunktion übernimmt.

Vor acht Jahren haben ein paar Reformer aus den eigenen Reihen eine paradoxe Intervention gesetzt. Sie haben einen hohen Preis dafür gezahlt. Es könnte sein, dass ein ignoranter Kulturbetrieb mit dem Beharren auf Realitätsverweigerung gerade dabei ist, einen noch höheren zu zahlen.

Autor:

PD Dr. Michael Wimmer, Wien

Privatdozent, Vortragender, Moderator, Autor und Herausgeber von bildungs- und kulturpolitischen Texten, Berater von Kunst, Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie Vorstandsvorsitzender von EDUCULT
http://michael-wimmer.at/blog/

Ist das noch Kultur oder kann das schon weg?

7. Dezember 2020

Für ein sportives Selbstbewusstsein – gerade in der Krise

Während landauf landab die Theatervorhänge wegen eines mit dem für die Kultur zynischen Begriff betitelten Lockdown light geschlossen sind, werden sie ausgerechnet von der Kulturpolitischen Gesellschaft vorsichtig aufgezogen für eine angeblich zeitgemäße Inszenierung von Sein oder Nichtsein. #neueRelevanz heißt das Spiel.

Gegen diese Aufführung gilt es Widerspruch einzulegen. Denn sie kommt zur Unzeit. Es gibt derzeit kein Momentum für eine Grundsatzdiskussion.

Zum einen: Hinter dem »Kontaktverbot light« verbirgt sich kein Freiraum für Visionen, hier werden nicht Kapazitäten frei, sondern diese kurzfristige, zunächst für vier Wochen ausgerufene Zäsur ist lediglich ein Zäsürchen, wenn man sich anschaut, was sie an Arbeit für die Kulturschaffenden, insbesondere in den Institutionen bedeutet. Und dies nur für eine unmittelbare Schadensbegrenzung. Kreative Kräfte sind jetzt damit beschäftigt, Kurzarbeitsanteile auszurechnen! Das wiederum ist dermaßen unkreativ, dass es regelrecht lähmt und nur noch wenig Energie für den Entwurf künstlerisch-gesellschaftlicher Utopien bleibt. Mit der Verlängerung des Lockdowns um weitere drei Wochen geht dieses Kräfteabsorbieren gerade so weiter.

Themen, die sich laufend aus den gesellschaftlichen Veränderungen und Realitäten ergeben, wie Öffnung, Teilhabe, Diversität, Digitalisierung, Nachhaltigkeit, sind deshalb gerade ein wenig ins Hintertreffen geraten. Manches macht natürlich unter dem Eindruck einer zu bekämpfenden Pandemie zurzeit auch wenig Sinn, die Zusammenarbeit mit Lai*innen z.B. Und beim Streaming wird gerade wieder festgestellt, dass es mit den heutigen technischen Möglichkeiten ein Mittel aber keine Lösung ist. (U.a. weil eine Chatfunktion während eines Streams den grundsätzlichen Einbahnstraßen-Eindruck dieser Art der »Kulturdistribution« nicht aufhebt.) Aber: die Themen sind längst auf der Agenda und werden grundsätzlich auch auf diese oder jene Art und Weise und in diesem oder jenen Maß bearbeitet. Das ist ein kunst-/ kulturimmanenter Prozess und nichts, das jetzt endlich mal anfangen sollte.

Zum anderen: Nun geht es bei #neue Relevanz ja nicht um die Kulturschaffenden oder Kultureinrichtungen, sondern um die Kulturpolitiker*innen. Aber abgesehen davon, dass wir doch bitte nicht in Zeiten zurückfallen wollen, wo über Institutionen u.a. geredet wurde, anstatt mit ihnen, würden sie hier in eine Falle laufen: Wer jetzt Relevanzdiskussionen lostritt, gesteht damit in den Augen derjenigen, die schon immer meinten, Kultur sei ein teures und überflüssiges Luxusprodukt, ein, dass dort zurzeit einiges falsch läuft und leistet somit einer ohne Frage kommenden Spardiskussion Vorschub.

In diesem Zusammenhang: Kultur als systemrelevant zu bezeichnen, wie es derzeit immer wieder geschieht, ist vor allem eine Umschreibung dafür, dass sie die öffentliche Hand Geld kostet. Allerdings bekommen »normale Bürger*innen« so kein Gefühl dafür, um was für Summen es geht – gerade auch im Verhältnis zu anderen Ausgaben. Es steht dann lediglich die Frage im Raum, ob sie überhaupt Ausgaben wert ist. Diese Frage muss dann aber nicht noch von den beruflich mit Kultur befassten selber gestellt werden!

Die kulturelle Infrastruktur befindet sich bereits in einer existenz(en)bedrohenden Lage.  Bei den nächsten (insbesondere kommunalen) Haushalten wird es hier an die Fleischtöpfe und dort an die Wurstzipfel gehen. Das wird nicht ohne Verluste bleiben. Deshalb gilt es aber jetzt umso mehr, mit Klauen und Zähnen erstmal pauschal alles zu verteidigen und nicht in vorauseilendem Gehorsam schon einmal zu diskutieren, »was weg kann«. Hier müssen die Kulturpolitiker*innen als Anwälte der Kulturschaffenden und Kultureinrichtungen fungieren!

Zugestanden, hier soll ein Gestaltungsanspruch wahrgenommen werden, so lange es noch eben geht. Aber so macht man sich nur zu willfährigen Handlangern. Denen, denen Kultur verzichtbar scheint, darf es nicht zu leichtgemacht werden! Gefordert ist vorausschauendes Handeln, nicht vorauseilendes, sonst geraten wir selbstverschuldet in einen Sog des Wegdiskutierens! Diese Einwände gegen eine Grundsatzdiskussion über Relevanz zum jetzigen Zeitpunkt einmal beiseite geschoben: Ist so eine grundsätzliche Selbstbefragung denn überhaupt notwendig, gibt es wirklich Kultur, die überflüssig ist? Möchten wir uns selber »gesundschrumpfen«? Auf wie klein denn noch?

Ja, es gibt immer mehr Angebot. Das wird allerdings auch erwartet, nicht wegen eines olympischen »immer höher, schneller, weiter«, sondern wegen Stichworten wie Öffnung, Teilhabe und Diversität. Wenn nun aber neue Zielgruppen definiert werden, kann man die bisherigen nicht plötzlich außeracht lassen. Sie sind ja noch da (und nicht etwa plötzlich ausgestorben), samt ihrem Geschmack und ihren Bedürfnissen, die genauso ihre Berechtigung haben. COVID19 mag man eines Tages als Zäsur betrachten, aber: Wir waren noch längst nicht fertig! Denn die Gesellschaft verändert sich stetig und damit verändert und vor allem erweitert sich auch der Kulturbegriff. Deshalb dürfen sich aber der Blick und das Angebot nicht verengen!

Und die Qualität all dieser Angebote? Wer will darüber urteilen? Wer aus diesem Kreis will sich hinstellen und sagen, dieses oder jenes ist es nicht wert, dass es gesehen wird, gehört wird, erlebt wird – und bezahlt wird? Das wäre anmaßend und respektlos. Auch ein Kulturerlebnis, das nach – nicht vorhandenen, weil nicht messbaren – objektiven Kriterien »nur« der Unterhaltung dient, macht etwas mit den Rezipient*innen. Immer. Wo also sollte die Wertlosigkeit davon sein? Und ja, in diesem Kontext hat das Staatstheater genauso seinen Wert wie das Amateurtheater und umgekehrt! Oder soll der Wert von Kultur plötzlich nach marktwirtschaftlichen Kriterien beziffert werden?

An diesem Punkt sei eine Parallele zu einem anderen gesellschaftswirksamen Gebiet gezogen, in dem auch sehr viel öffentliches Geld steckt: Sport. Auch bei völligem Mangel an persönlichem Interesse daran würde man nicht auf die Idee kommen zu sagen: Diese oder jene Sportart oder diesen oder jenen Wald- und Wiesen- oder Bundesligaverein braucht es nicht; er hat weder Förderung noch sonstige Aufmerksamkeit und Mitwirkung verdient. Es ist einfach egal. Ebenso wenig strengen aber die Sport-Treibenden und ihre Funktionäre aller Couleur selber jemals solche Diskussionen an!

In der Kultur passiert genau das jedoch permanent. Warum? Warum vermitteln wir selbst öffentlich den Eindruck, das Geld, das in die Kultur gesteckt wird, gar nicht verdient zu haben; machen uns klein und rechtfertigen uns um Kopf und Kragen? Wo ist das Selbstwertgefühl von Kulturschaffenden und Kulturpolitiker*innen? Unsere Haltung ist traurig und beschämend!

Gerade jetzt: Wenn die Kultur weiterhin und gar vermehrt gesellschaftliche Prozesse moderieren soll, geht das nicht mit weniger Geld. Und dieses Geld ist kein Gnadenbrot, sondern eine Investition. Wir übernehmen schließlich laufend Querschnittsaufgaben; übernehmen als eine Art Dienstleister*innen Aufgaben, die eigentlich ein Bildungs- oder Sozialministerium oder -amt finanzieren müsste, oder auch das Innen- oder Landwirtschaftsministerium bzw. -amt. Da war sie wieder, die Rechtfertigung… Also: Nehmen wir endlich mal eine sportlich-selbstbewusste Haltung ein!

Es gibt jedoch eine Aufgabe, den die Kultur wirklich hinbekommen muss, und das schnellstmöglich und gänzlich unabhängig von COVID19: den erklärten Willen zur Nachhaltigkeit, vor allem im Sinne der Klimaneutralität. Wer gesellschaftlich relevant sein will, braucht eine vorausschauende und vorbildhafte Nachhaltigkeitsstrategie!

Nicht alles lässt sich derzeit umsetzen. Die Einrichtung kollektiver Beförderungsmöglichkeiten in die Kultureinrichtungen ist infektionsschutzbedingt gerade nicht en vogue. Aber: Es gibt genug Punkte, bei denen man schon einmal anfangen kann, sogar muss!

Es wird so sein (müssen), dass im Rahmen dieser Prozesse auch Entscheidungen über die Verzichtbarkeit von kulturellen Angeboten fallen. Wasser predigen und Wein trinken geht nicht; wir haben hier eine Vorbildfunktion. Aber pauschale Verzichtsverdikte vom Reißbrett würden Mensch und Sache nicht gerecht. Deswegen sind statt pauschaler #neueRelevanz-Diskussionen lokale Erkenntnisprozesse notwendig. Schließlich muss die Kultur in diesem Zusammenhang auch wieder politischer werden. Denn es ist auch ihre Aufgabe aufzuzeigen, was mit einer nachhaltigen Gesellschaft nicht vereinbar ist; Aufrüstung sei hier nur als ein Beispiel von vielen genannt. Aber auch diese Aufgabe hat nichts mit COVID19 zu tun!

In diesem Sinne: Vorhang zu. Die neue Relevanz ist die alte Relevanz in ihrem ständigen Fluss!

Autorin

Foto: Sebastian Seibel

Katrin Lechler, Pforzheim

Leiterin des Orchesterbüros am Stadttheater Pforzheim

Öffnet die Museen 2.0

4. Dezember 2020

Für mehr digitalen Mut und Zuversicht!

Soll die Pandemie die erste Krise werden, in der die Kultur so gar keine Rolle spielt – außer in der Opferrolle der darbenden Kulturschaffenden als modernen Spitzweg-Poeten? Die den Preis dafür zahlen, dass sie sich selbst verwirklichen wollen? Einerseits werden Horrorgemälde von der schlimmsten Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gemalt, andererseits wird geflissentlich überspielt, dass in der Nachkriegszeit der Hunger ebenso groß war wie das Verlangen nach Kultur, die – na klar – ablenkte und unterhielt, Depressionen linderte und vor allem Sinn stiftete und motivierte, von vorn anzufangen. Eine unzulässige Indienstnahme?

Wie es ausschaut regiert die Entscheider*innengremien ein blanker Ökonomismus: ›Erst kommt das Fressen und dann die Moral‹. Der Rest ist Petersilie am Buffet. Dabei ist die Suche nach Sinn das Erste, was Gesellschaften im Innersten zusammenhält. Die Sinnproduzenten aus Kultur und Kultus nach Hause zu schicken, gleicht einer Selbstdestruktion. Wie überall zu sehen, greift der Wahnsinn aus Angst, Hysterie, Gewalt und Terror um sich. Dagegen helfen kaum offene Shopping-Malls, aber sehr wohl offene Bibliotheken, Theater, Konzerthäuser, offene Museen, offene Kirchen, in denen die Menschen ihre Sinne beieinander halten könnten.

Im Frühjahr habe ich mitten im ersten Lockdown einen Aufruf gestartet: ›Öffnet die Museen‹. Mit ›Öffnung‹ meinte ich das Wiederaufschließen der Häuser mit entsprechenden Hygiene-Konzepten. Ein paar Tage später gab es die ersten Öffnungs-konzepte. Ich hatte offene Türen eingerannt.

Aber eigentlich wollte ich auf etwas Anderes hinaus: Die Museen sollten sich nicht auf die Rolle hochspezialisierter Elfenbeintürme zurückziehen, denen Besucher eher lästig sind, und Museumspädagog*innen nur als Hilfskräfte im museologischen Himmelreich vorkommen. Sie könnten sich öffnen gegenüber anderen Kulturschaffenden und Akteuren der Zivilgesellschaft, lieber demütig Knotenpunkte im kulturellen Gewebe werden als hochmütig Leuchttürme der eigenen Selbstherrlichkeit markieren. Die Digitalisierung in ihren unterschiedlichsten Formaten ist nur ein Synonym für neue Synergien und Vernetzungen und dafür, die Kultur als ein Habitat zu denken und weniger als eine Arena des Kampfes um Anerkennung und Ressourcen auf Kosten anderer. Die US-amerikanischen Tech-Konzerne denken schon lange so, dominieren einen Sektor nach dem anderen, weil sich ihre Konkurrenten durch Selbstisolation verteidigen wollen statt eigene Netzwerke aufzuspannen.

Diese Netzwerk-Idee zündete im ersten Lockdown kaum. Der schützende Rückzug ins Schneckenhaus stand im Zentrum und vor allem die durch nichts gerechtfertigte Hoffnung, dass nach der Pandemie alles rasch wieder so werde wie zuvor. Deshalb kann ich nur stoisch die Idee erneut in den Diskurs einspeisen. Vielleicht klappt es diesmal mit den offenen Türen. Die Unruhe und die Bereitschaft, selbst zu denken und nicht nur blind zu folgen, ist gewachsen. Statt Entschleunigung ist in diesem Lockdown Beschleunigung angezeigt. Auch die exponenzielle Zerstörungskraft des Virus in der zweiten Welle drückt aufs Tempo.

Frage niemand: Was soll das denn wieder kosten? – statt offen ›ja‹ oder ›nein‹ zu sagen. Kosten spielen (vor allem in Ausnahmesituationen) keine Rolle, wenn die Idee stimmt. Das Ritual, Vorhaben durch die scheinvernünftige Frage nach dem Geld ins Leere laufen zu lassen, ist ein altbekannter Innovationskiller. Entwicklungen, deren Zeit so offensichtlich gekommen ist, lassen sich nicht aufhalten. Dabei ist die Frage relevant, wie und bei wem man die Mittel beschafft, wer die Regie führt und die Konditionen bestimmt. Sind es noch die Institutionen selbst oder sind es schon fremde Interessen, die über die Sichtbarkeit entscheiden und sich das früher oder später bezahlen lassen. Koch oder Kellner, das macht den Unterschied.

Vielleicht lockert Lockdown 2.0 diesmal die Bereitschaft, Entscheidungen nicht länger zu verschieben: Die Zukunft der Museen liegt im Digitalen. Wer digital und analog im Leben der Gesellschaft präsent ist, ist auch resilient gegenüber Schicksalsschlägen. Schließungen sind nicht mehr K.O.-Ereignisse sondern nur verlorene Runden. Die Digitalisierung spricht nicht gegen Präsenzausstellungen. Ganz im Gegenteil. Der Besuch, die Anschauung von Originalen ist unverzichtbar. Aber nicht die einzige und vor allem nicht die ausschließliche Form für Wahrnehmung und Aneignung. Nötig ist jetzt ein entschiedenes sowohl als auch.

Die Krise drängt die Museen dazu, die anderen, eben die zweitbesten Formen der Vermittlung und Forschung zu entwickeln. Andernfalls verlieren sie unweigerlich ihren Kontakt zum Publikum. Schnell gewöhnt es sich daran, dass es auch ohne geht und: Sind die Museen nicht vollkommen überschätzt? Schaut man auf die Klickraten bei youtube, so kann einem schwindlig werden. Sie dümpeln häufig im unteren dreistelligen Bereich. So sieht es aus, wenn die Schwellen plötzlich höher werden. Sie zeigen auch, dass neue Medien die Ästhetik verändern und alter Wein in neuen Schläuchen nicht länger schmeckt. Es braucht eine Fehlerkultur, und es bildet sich eine Aufgabe für Profis heraus, die learning by doing ihre Kompetenzen ausbilden. Auch in dieser Welt werden die ersten, neuen Stars gesichtet.

Mit jedem Tag Schließung stirbt ein Stück positiver Erfahrung und Erinnerung. Die Museen könnten jetzt nachweisen, dass sie auf der Höhe der Zeit und ihrer Probleme sind. Die Konkurrenz um die Finanzmittel wird unerbittlich. Arroganz und Anspruchshaltungen helfen da wenig, besonders wenn sie eher Trägheit und mangelnden Ehrgeiz bemänteln. Jetzt ist die Gelegenheit, für die Umrüstung auch die Mittel zu bekommen. Denn noch können die Entscheidergremien ihr schlechtes Gewissen erleichtern. Aber auch da fällt schon bald eine Tür ins Schloss.

Das Zauberwort dieser Tage ist die ›Visitors Journey‹. Das ist die in Deutschland viel zu selten eingenommene Perspektive, das Museum nicht von der Sammlung und ihren Schätzen her zu denken und nicht von der Bedeutung der eigenen Botschaften her, sondern aus der scheinbaren Froschperspektive von Benutzer*innen und Besucher*innen. Im hochgelobten britischen Museumssystem mit seinen freien Eintritten, brillanten Katalogen, glänzenden Websites und weltbekannten Stars unter den Kuratoren ist die Besucher-Zentrierung eine Selbstverständlichkeit. In den Niederlanden ebenfalls. Dort sitzen Wissenschaftler*innen beispielsweise im Naturmuseum Leiden inmitten ihrer Sammlungen und sind für die Besucher*innen ansprechbar. Wo in Deutschland wäre das möglich?

Der physische Museumsbesuch ist der Höhepunkt in der Beziehung zwischen Museen und Besucher*innen. Wie bei jeder Beziehung braucht es aber eine Anbahnung, eine Vorbereitung auf ein Rendezvous, es braucht Anstöße, Einladungen, Erinnerungen, Verabredungen. Auch nach dem Rendezvous geht es weiter mit Danksagungen, Fotos, Erlebnisbeschreibungen und der Vorbereitung der nächsten Begegnung. Die Liebe darf nicht erkalten. Das meint Visitors’ Journey.

Wenn aber keine Rendezvous stattfinden können, dann lässt man die Beziehungsarbeit nicht einfach sausen. Stattdessen wird die Kommunikationsarbeit intensiviert. Dann sind Briefe, Fotos, Filme, Erinnerungen, Aussichten die Distanzmedien, um die Beziehung trotz mangelnder Nähe am Leben zu erhalten und zu substituieren.

Achselzuckend auf die Schließungen zu reagieren, ist keine sinnvolle Reaktion. Zumal es auch andere Mitbewerber*innen gibt, die Konkurrent*innen madig machen werden. Das Netz bietet den Museen einen ganzen Strauß von Formaten. Vieles ist auch hohen Ansprüchen anverwandelbar. Selbst Senior*innen, die das Internet ewig abgelehnt haben, sind zu begeisterten Nutzer*innen geworden. Sie wissen, dass ihnen auf Dauer nur geholfen werden kann, wenn sie sich ein wenig in die Verhältnisse hineinbegeben, statt sich störrisch zu verweigern.

Die Museen können viel lernen von Schwesterinstitutionen wie den Bibliotheken und von den Theatern oder Opernhäusern. Die einen bieten ihren Besucher*innen Arbeitsplätze zum Selberlernen, die anderen pflegen mit ihren Abonnent*innen Formen des Wiedersehens und der Teilnahme in den unterschiedlichsten Formaten.

Selbst schwerfälligste Museumsstrukturen können in der Krise viel leichter ihre Corporate Identity ändern als sonst. Sie sollten die Krise nutzen. Abwarten und alles auf später vertagen, ist blinder Attentismus und keine Option. Natürlich stirbt die Hoffnung auf Wiederherstellung der Prä-Corona-Bedingungen zuletzt. Aber dieser Lockdown dürfte nicht der letzte gewesen sein. Und danach gibt es kein Geld mehr oder soviel davon, dass es wertlos wird. Oder es gibt kaum noch jemanden, den man um Hilfe fragen könnte, weil alle Expert*innen vergeben sind. Wer resiliente Museen will, muss sich jetzt auf den Weg machen!

Museen sind mehr als Vitrinenparcours. Ihre zentrale Lage in den Städten zeigt die Wertschätzung und die Erwartungen an, die jetzt wieder verdient werden wollen. Museen sind die Orte, an denen sich die Gesellschaft über sich selbst klarwerden kann; erst recht in einer säkularen Wissensgesellschaft. Die Zukunft ist voller Chancen, sich neu zu erfinden. Nutzt die Krise als Chance, die anderen tun es längst. Die alten Zeiten sind perdu. Da helfen auch keine Klagen. Die Uhr tickt. Es gibt Kippmomente, in denen das Geschehen aus der Balance gerät und sich nicht mehr kontrollieren lässt. Dann ist das Kind in den Brunnen gefallen, und selbst Zeit lässt sich nicht mehr kaufen.

Autor

Foto: Thekla Ehling

Helmut Bien, Ingelheim

Ausstellungsmacher, Festival-Kurator, Museumsberater, westermann kulturprojekte

Kulturelle Infrastruktur im Zeichen von Corona

2. Dezember 2020
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Zur Stillstellung der Kultur bei forciertem Betrieb
Staat und Gesellschaft, Institutionen und Systeme befinden sich in einem Ausnahmezustand. Die Auswirkungen der Pandemie auf die kulturelle Infrastruktur sind noch gar nicht vollends abzusehen, doch ist jetzt schon klar, dass wir unwiederbringlichen Verlusten ins Auge sehen müssen. Der einfache Satz: »In jeder Krise stecken auch Chancen«, erweist sich meist als richtig, doch bei allen Chancen, die die coronabedingte Digitalisierung für die weitere Entwicklung etwa auch mit Blick auf die Klimakrise mit sich bringt, müssen wir uns fragen, welche gesellschaftlichen Wirkungen das »Stillstellen der Kultur bei forcierten Betrieb« hat. Erinnert sei zunächst an eine von der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« entwickelte grundlegende Idee und Denkfigur: Der Kulturstaat Deutschland basiert auf der »kulturellen Infrastruktur«. Deren Erhalt und Vitalität gehört zum Kern staatlicher Verantwortung für Kunst und Kultur.



Drei Sektoren – sehr unterschiedliche Folgen
Die kulturelle Infrastruktur besteht beileibe nicht nur aus öffentlichen Kulturinstitutionen, sondern auch aus privat-kommerziell ausgerichteten Kulturbetrieben (z.B. Privattheater, Musicals, Filmwirtschaft, Kinos) und den in diesen Strukturen wirkenden Künstlerinnen und Kulturschaffenden (inzwischen bekannter unter der Bezeichnung »Solo-Selbstständige«). Insgesamt haben in diesen Bereichen mehr als 1,5 Millionen Menschen ihr Ein- und Auskommen.

Während die öffentlichen Kultureinrichtungen durch staatliche Zuschüsse sowie Kurzarbeit zumindest im Bestand gesichert sein dürften, sind die anderen Bereiche der kulturellen Infrastruktur derart massiv betroffen, dass kaum mehr vorstellbar ist, dass diese sich davon irgendwann erholen werden, bis auf wenige Ausnahmen. So addieren sich etwa die Verluste bei dem weltweit erfolgreichsten ›stehenden‹ Musicalbetrieb »Starlight-Express« auf mehrere Millionen Euro, über 230 Beschäftigte sind seit März in Kurzarbeit, die Wieder-Inbetriebnahme würde mindestens 2 Mio. Euro Anlaufkosten verursachen, und eine rentable Zuschauerinnenzahl liegt bei deutlich mehr als 1000.

Immer mehr wird bewusst, dass der ›Wirtschaftskreislauf‹ in der Kultur- und Veranstaltungswirtschaft dermaßen beeinträchtigt ist, dass staatliche Finanzhilfen die eintretenden Einnahmeverluste nicht annähernd ausgleichen können, da sich diese über den Zeitverlauf auf dreistellige Milliardensummen addieren würden.

Kunst und Kultur sind systemimmanent
Auch in diesem kurzen Einwurf kann keine Lösung für diese Katastrophe entwickelt werden, doch sei auf eine weitere grundlegende Themen- und Fragestellung hingewiesen, die in der öffentlichen Debatte stärker diskutiert werden müsste und auch eine Perspektive auf die gesellschaftlichen Folgen zu eröffnen sucht: Bisher stehen vor allem und durchaus zu Recht die Konsequenzen des Lock-Downs für die Kulturschaffenden und -betriebe im Fokus. Dabei hat der Begriff »Systemrelevanz« Konjunktur. Angebote von Kunst und Kultur sollen nach den jüngsten politischen Entscheidungen offensichtlich nicht in diese Kategorie gehören.

Indes stellt sich die Frage, welches System jeweils angesprochen wird, für das etwas anderes relevant sein soll. Kunst und Kultur sind zwar letztlich nicht relevant für das reine ›Überleben‹. Sie sind aber systemimmanent für unser Leben schlechthin. Der Austausch von Bildern, Musik, Emotionen, die Begegnungen und das ›Miteinander‹ sind essentiell, machen das menschliche Leben aus.

Kunst und Kultur bieten Freiräume für die Entfaltung des Einzelnen und die Reflexion der die Gesellschaft verbindenden Werte. Oder wie es die UNESCO ausdrückt: Kultur kann »als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen.«

In und durch die Kultur verhandelt die Gesellschaft ihre Regeln, wird sich der Einzelne seiner selbst bewusst. Um noch einmal die UNESCO zu zitieren: »Erst durch die Kultur werden wir zu menschlichen, rational handelnden Wesen, die über ein kritisches Urteilsvermögen und ein Gefühl der moralischen Verpflichtung verfügen. Erst durch die Kultur erkennen wir Werte und treffen die Wahl.«

Unsere Werte – Recht auf Freiheit! – Recht auf Risiko?
Angesichts dieses Textes frage ich nach den Werten, die das menschliche Zusammenleben prägen: Müssen wir nicht zu einer neuen Abwägung kommen zwischen der Freiheit von Kulturinstitutionen, Angebote zu machen, sowie der Freiheit des Einzelnen, diese wahrzunehmen auf der einen Seite, gegenüber der Sicherheit von Individuen und Gemeinschaften, die durch Regeln und systemische Eingriffe garantiert werden sollen, auf der anderen Seite.

Alle Appelle der Politik zielen auf diesen einen Punkt: Es kommt auf die Haltung jedes Einzelnen an. Und uns ist bewusst: Ein Verhalten zu entwickeln und zu praktizieren, das auf einer klugen Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit basiert, ist nicht nur das Gebot der Stunde, sondern eine kontinuierliche Herausforderung. Doch gerade in und durch Kultur lernen wir uns ›regelrecht‹ zu verhalten. Etwas banaler ausgedrückt: Wo sonst, wenn nicht in der Gemeinschaft können wir unser Verhalten einüben? Erst gemeinsam mit anderen lernen wir die »Begegnung auf Abstand« und mit den gesundheitlichen Risiken richtig umzugehen.

Wenn wir also in und durch Kultur erkennen, wie wir die Rechte auf freiheitliche Entfaltung, das Recht auf Risiko und das Recht auf Sicherheit sowie Schutz vor gesundheitlichen Schäden in Einklang bringen können, dann bedarf es zwingend dieser öffentlichen Orte der Begegnung, der Reflexion und des Austausches, in denen erkannt, erörtert und erlebt werden kann, wie wir die Spannung zwischen individueller Freiheit und Beschränkung künftig gestalten wollen. Dabei geht es nicht nur um die aktuelle Pandemie, sondern langfristig auch um letztlich ebenso bedrohliche globale Problematiken wie die des Klimawandels, zu deren Bewältigung es ebenfalls auf individuelles Verhalten in der Gemeinschaft ankommt.

Entscheidungen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Ethik
Die »Systemimmanenz« von Kultur als Lebenselement erkennend stellt sich daher die Grundsatzfrage: Ist es nicht gerade jetzt Aufgabe des Staates, den Kulturinstitutionen, den Kulturschaffenden und den Kulturbürger*innen die Freiheit und die Ermächtigung zu geben, je individuell die Abwägung zwischen Freiheit, Risiko und Sicherheitsgarantien eigenverantwortlich auszuüben, selbstredend unter Beachtung allgemein gültiger Regeln (Hygienekonzepte, Abstand etc.)?

Warum werden dann Museen geschlossen, die sich wie kaum andere öffentliche Räume regulieren lassen und den sorgfältigen Umgang mit dem Anderen – ob Mensch oder Objekt – lehren? Diese Maßnahme ist verfassungsrechtlich mehr als bedenklich, ja unverhältnismäßig, da sie Freiheitsrechte einschränkt, ohne dass damit nachweislich der gewünschte Effekt einer drastischen Reduzierung des Infektionsrisikos eintritt. Dass die Museumsschließung von der Kultusministerkonferenz in Verschärfung der von der Bundeskanzlerin moderierten Ministerpräsidentenkonferenz beschlossen wurde, zeigt wie stark inzwischen der Blick auf Zahlen und naturwissenschaftliche Erkenntnisse (mit der Frage: Was ist das wissenschaftlich Richtige?) den Blick der Politik bestimmt, die vor allem auch danach fragen sollte: Was ist das ethisch Gute für die Gemeinschaft?

Leitlinie für kluge Regelungen sollte sein, dass Freiheit ›richtig‹ ausgeübt und gelebt werden kann, also bei gleichzeitiger Beachtung deren Grenzen, vor allem dann, wenn Gesundheit, Umwelt oder auch soziale Gerechtigkeit nachweislich gefährdet werden. Wird dies eine ›Idealvorstellung‹ bleiben oder wird die Pandemie der Anlass sein, unsere Werte und Ideale aufzugeben? Im Straßenverkehr haben wir solcherart Abwägung von individueller Freiheit und allgemeiner Sicherheit über ein Jahrhundert praktiziert, Regeln aufgestellt und eingeübt und damit Leib und Leben schützen gelernt. Im Umgang mit der Pandemie haben wir indes nicht mehr viel Zeit.

Digitalisierung stärkt den mentalen Kapitalismus
Wenn jetzt nicht ein strategisches Umdenken Platz greift, kann sehr rasch eine radikale Folge eintreten: Die kulturelle Infrastruktur wird nicht mehr lebensfähig sein. Und eine unerträgliche weitere Folge ist absehbar: Es werden diejenigen immer machtvoller werden, die die Knotenpunkte des mentalen und digitalen Kapitalismus im Internet beherrschen, weil sie das Individuum in den privaten Räumen digital noch intensiver beeinflussen können als je zuvor, gerade so wie sich das Virus jetzt privat im viel schneller unkontrolliert verbreitet als in offenen (hygieneregelgerechten) Kultureinrichtungen. 

Autor

Foto: Anke Beims

Prof. Dr. jur. Oliver Scheytt, Essen
geschäftsführender Inhaber KULTUREXPERTEN. Er war von 1997 bis 2018 Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V.

Dieser Essay wurde bereits in »Politik&Kultur. Zeitung des Deutschen Kulturrates«, Ausgabe 12/2020 veröffentlicht.


Sich nützlich machen für das gesellschaftliche Zusammenleben

27. November 2020

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Neue Leitbilder für öffentlich getragene Kultureinrichtungen

Schmerzlich ist uns im zweiten Lockdown bewusst geworden, dass die Kultureinrichtungen nicht zu den systemrelevanten Organisationen gehören, sondern dem Freizeit- und Unterhaltungssektor subsumiert werden – und damit als temporär verzichtbar gelten.

Anders als in vielen anderen Ländern sorgt der Staat in Deutschland jedoch auch in der Pandemie für den Erhalt der Kulturlandschaft und das Überleben der Kunstschaffenden. Er zahlt Künstler*innen, Kulturschaffenden und ihren Organisationen einen finanziellen Ausgleich dafür, dass sie nicht arbeiten dürfen. Der »paternalistische Kulturstaat« kümmert sich auch in der Krise um die auskömmliche Finanzierung, wenngleich natürlich in sehr unterschiedlichem Maße je nach Sektor und institutioneller Zugehörigkeit, knüpft daran aber keine Forderungen und Ansprüche, sondern belässt die von ihm geförderten Kultureinrichtungen in ihrer gesellschaftlichen Nische.

Ohne diese Entscheidung überhöhen zu wollen, kann man sie zum Anlass nehmen, danach zu fragen, welchen Stellenwert und welchen wahrgenommen Nutzen Kunst und Kultur in unserer Gesellschaft haben.

Wie werden Kultureinrichtungen wahrgenommen in der Bevölkerung und welche Einstellungen gibt es zur öffentlichen Kulturförderung?

Repräsentative Bevölkerungsbefragungen zeigen immer wieder neu, dass nur eine kleine Gruppe der Bevölkerung von maximal 10 Prozent, größtenteils hoch gebildet und aus bestimmten sozialen Milieus, zu den regelmäßigen Nutzer*innen der außerhäusigen klassischen Kulturangebote gehören. Dies bestätigt auch eine Theater-Studie der Autorin (Mandel 2019): Nur wenige gehören zu den Viel-Besucher*innen von Theatern, über die Hälfte zu den Nicht-Besuchern. Nur ein Drittel der Bevölkerung ist an klassischen Kulturangeboten wie Theatern interessiert – überdurchschnittlich Frauen, ältere Menschen, formal hoch Gebildete und Großstadtbewohner*innen.

Zugleich gibt es aber hohe Zustimmung zur öffentlichen Förderung von Theatern in allen Bevölkerungsgruppen, auch bei vielen, die diese Orte selbst nie besuchen: Knapp 90 Prozent plädieren dafür, die öffentliche Förderung mindestens auf bisherigem Niveau fortzusetzen, wobei es die geringsten Zustimmungswerte bei den jüngeren Generationen gibt. Als wichtigste Erwartungen an öffentliche Kultureinrichtungen wie Theatern werden Kulturelle Bildung vor allem für Kinder und Jugendliche und hohe Zugänglichkeit genannt. Wenige gehen hin, viele finden sie gut! Auch wenn die meisten sich persönlich nicht für den Besuch interessieren, werden Einrichtungen wie Theater offensichtlich als wichtig für die Gesellschaft erachtet.

Das ist eine gute Basis für Kultur in Deutschland, denn es zeigt die hohe Wertschätzung auch für klassische Kultureinrichtungen, weist aber zugleich darauf hin, dass diese Wertschätzung eher abstrakt und wenig auf eigenen Erfahrungen fußt.

Wie können die Potentiale des Kunst- und Kultursektor nicht nur stärker sichtbar werden in der Öffentlichkeit, sondern tatsächlich auch stärker genutzt werden als Ressource für das gesellschaftliche Zusammenleben?

Die Künste zu instrumentalisieren für »kunstferne« Zwecke ist in Deutschland ein »No Go« im Fachdiskurs. Um ihre Autonomie zu erhalten, wird notfalls auch ein Nischendasein in Kauf genommen. Das Paradigma der Zweckfreiheit der Künste, die diesen zweifelsohne inhärent ist und ihre spezifische Qualität ausmacht, wird oftmals ausgeweitet auf die Kultureinrichtungen. Diese sollen in einer Art Schonraum hohe Qualität gemäß fachspezifischer Standards produzieren, unabhängig von profanen Bedürfnissen potentieller Besucher*innen nach sozialem Austausch, Unterhaltung, Niedrigschwelligkeit, Anregung für aktuelle Fragen.

Wenn wir Kulturpolitik im Sinne des Mission Statements der KupoGe aber tatsächlich als Gesellschaftspolitik verstehen, dann betrifft sie alle Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Öffentlich geförderte Kultureinrichtungen hätten damit auch Verantwortung für sozialen Zusammenhalt, für kulturelle Bildungsprozesse, für Stadtentwicklung, für nachhaltiges Leben und Wirtschaften und vieles mehr.

Die Kulturlandschaft in Deutschland ist charakterisiert durch ihre einzigartig hohe Dichte an öffentlich geförderten Institutionen. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern sind Kultureinrichtungen damit auch in der Pandemie unter staatlicher Obhut, und es kommt nicht zu einem massenhaften Sterben wie etwa der Theater in England. Gleichzeitig fordert die hohe, kontinuierliche Förderung unserer vielen Theater, Konzerthäuser und Museen dazu auf, diese offensiver in der Mitte der Gesellschaft zu positionieren. Denn auch wenn sie rein räumlich oft in der Mitte der Stadt liegen, so bleiben sie doch für viele ohne persönlichen Bezug.

Neue Leitbilder für Kultureinrichtungen

Für die Öffnung klassischer Kultureinrichtungen sind einige neue Narrative im Gespräch, die dazu beitragen können, die eigene Mission über die Produktion und Präsentation wertvoller Kunst und Kultur hinaus zu erweitern:

Kultureinrichtungen als »Dritte Orte« im Sinne von »Home Away from Home« (Oldenbourg) überzeugen mit der Idee, ein spielerischer und niedrigschwelliger Treffpunkt zu sein, das eigene Haus als guter Gastgeber zur Verfügung zu stellen.

Eng damit zusammenhängt das Verständnis als »Dritter Raum« (Bhaba) im Sinne von transkulturellem Austausch und Zusammenbringen von Menschen, die sich sonst nicht begegnen würden in einem hierarchiefreien Raum, der dazu einlädt, gemeinsam neue Ideen für das Zusammenleben zu entwickeln.

Darauf basiert auch die Idee des »Community Building« (Borwick) – als Kultureinrichtung zur Gemeinschaftsbildung beizutragen, Menschen unterschiedlicher Gruppierungen und sozialer Milieus zusammenzubringen.

Das Narrativ der »Kultureinrichtung als guter Nachbar« (Crane) schlägt zusätzlich vor, dass sich Kultureinrichtungen gemeinsam mit anderen Akteuren der Nachbarschaft einbringen und mitverantwortlich fühlen für aktuelle Aufgaben und Herausforderungen, weit über ihren »Kunstauftrag« hinaus. Kultureinrichtungen werden damit weder zur Sozialarbeit noch zur Außenstelle von Schule, sondern sie nutzen ihre künstlerisch-ästhetischen und kulturellen Ressourcen für ein gelingendes Zusammenleben.

Alle vorgeschlagenen Leitbilder basieren auf vielfältigen Kooperationen, u.a. mit sozialen Einrichtungen, mit Stadtteilinitiativen, mit Betrieben, mit Sportvereinen, mit Jugendeinrichtungen, aber auch mit der »Freien Szene« und Amateurgruppen, die die Häuser mit nutzen könnten. Solche Erweiterungen der Mission im Sinne höherer Relevanz benötigen zudem strukturelle Veränderungen der Einrichtungen: das Aufbrechen traditioneller Hierarchien und tradierter Abteilungen; Arbeiten in flexibleren Teams; pro-aktives Bemühen um ein diverseres Personal, um unterschiedliche Perspektiven zu integrieren und neue Netzwerke in andere Bevölkerungsgruppen hinein aufbauen zu können.

Der Reichtum der öffentlich geförderten Kulturlandschaft wird nur dann zu erhalten sein, wenn die großen Einrichtungen als »Anker-Orte« begriffen werden, die anderen Kulturinitiativen Raum und Stimme geben, die Kooperationen vielfältigster Art anregen, die sich verantwortlich fühlen nicht nur für ihren eigenen Sektor, sondern für das gesellschaftliche Zusammenleben in einer Stadt oder Region. Dass damit die künstlerisch-kulturelle Qualität beeinträchtigt würde, ist eine Ausrede, die nicht länger akzeptiert werden kann.

Kulturpolitik und Kulturverwaltung können und sollten diese Transformationsprozesse, die meiner Beobachtung nach bereits einen Großteil der klassischen Kultureinrichtungen beschäftigen, aktiv unterstützen: Indem sie Freiräume für das Erproben neuer Programme und Formate einschließlich der Umverteilung von Mitteln ermöglichen, bürokratische Hürden abbauen, indem sie Diskussionen darüber führen, worin die spezifischen lokalen Bedürfnisse bestehen, indem sie Führungskräfte auswählen, die für solche neuen Leitbilder stehen, und indem sie ihre Förderung an konkrete Zielvorgaben knüpfen, die zur Qualität des kulturellen Zusammenlebens eine möglichst breiten und diversen Bevölkerung beitragen.

Autorin

Prof. Dr. Birgit Mandel, Hildesheim

Direktorin Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim

Kulturinfarkt revisited?

25. November 2020
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»Es wird die gleiche Welt sein, nur ein wenig schlimmer«

Michel Houellebecq

»Unsere Kultur geht auf keine Kuhhaut«

Hans Magnus Enzensberger (1997)

Die Corona-Pandemie hat Gesellschaft und Ökonomie weltweit erschüttert. Wie weiter? Die einen wollen so schnell wie möglich zurück zu einer wie immer definierten früheren ›Normalität‹ – die anderen fragen sich, ob diese Krise nicht eher Chancen berge, Neues zu denken und umzusetzen. In der Kulturpolitik laufen solche Überlegungen wie üblich eher verdeckt. Niemand, der am öffentlichen Geldhahn sitzt, soll irritiert werden. So sieht man an der Oberfläche nur das Bemühen der Verbände und ihrer Vertreter, Rettungsprogramme zu aktivieren; gerettet werden soll, was da ist. Und der Bund rettet.

Aber diese Rettungsprogramme lösen die strukturelle Krise, in der sich Kulturpolitik und Kulturfinanzierung schon lange befinden, nicht; sie verlängern sie. Nach dem Auslaufen der Rettungspakete wird die kulturpolitische Überforderung über uns als weitere Welle hereinbrechen. Beim absehbaren Rückgang öffentlicher Ausgaben nach dem ›großen Wumms‹ und dem kleineren im Herbst und dem, was noch kommen mag, besonders bei Kommunen und Ländern, wird sich diese Krise nicht mehr durch öffentliches Geld zugedeckt lassen. Die Vorstellung, dass sich strukturelle Probleme dank immer mehr Geld verflüchtigen, wird sich als die große Illusion entpuppen. Da passt es gerade, dass die Kultur – auch – das Reich der Fiktionen ist.

International, wo der ›Wumms‹ nicht so riesig daherkommt, wird schon jetzt über Kürzungen in der Hochkultur im Abgleich mit anderen Politikfeldern offen diskutiert. Ist Kulturpolitik hierzulande in der Lage, die Zukunft zu gestalten, notwendige Veränderungen und Reformen voranzutreiben, auch zulasten von einer Reihe von Kulturakteuren und -einrichtungen – oder entscheiden dies einmal mehr die Finanzminister und Stadtkämmerer? Im Folgenden sind nur einige der Felder angesprochen, in denen sich Neues denken und tun lässt.

Haushaltskonsolidierungen
Nach der Bazooka kommt das Aufräumen (das haben Militärmetaphern so an sich), eine neue Runde von Haushaltskonsolidierungen. Alte Erfahrungen sagen: Erst werden die Pflichtaufgaben abgedeckt, dann langfristig geschlossene Verträge bedient. Für die Kultur heißt das: Große Einrichtungen, Stadttheater, Museum, Stadtbibliotheken sind besser abgesichert als das Kleine, Experimentelle, nicht institutionell Geförderte. Wer immer schon bekommen hat, wird auch weiterhin bekommen – Neues wird »auf den Markt« verwiesen.

Solche Haushaltskonsolidierung macht alte Fragen wieder aktuell: Nach welchen Kriterien wird gefördert? Welche öffentlichen Zwecke werden verfolgt? Entsprechen die geförderten Strukturen den Kriterien, den kulturpolitischen Zielen? Oder sind die Ziele praktischerweise eine Funktion der gegenwärtigen Verteilmechanismen, ohne auch nur einen Hauch der ideen- und sozialgeschichtlichen Voraussetzungen eben dieser – gemäß Sprachregelungen – immer »historisch gewachsenen« öffentlichen Haushalte zu diskutieren? Wird die hergebrachte Verteilung der Mittel (98 Prozent gebunden für die großen Institute, 2 Prozent für die Unabhängigen) diesen Kriterien und öffentlichen Zielen gerecht?

Systemrelevanz
Jede kulturelle Einrichtung, Initiative, jedes Projekt und jede und jeder Beteiligte definieren sich heute als systemrelevant. Systemrelevanz wird als Synonym benutzt für den Anspruch auf staatliche Unterstützung und, aktuell, Corona-Nothilfe. Doch so viel Relevanz trübt den Blick auf die Unterschiede. Systemrelevanz bedeutet nicht, dass alles, was zum System gehört, auch relevant ist. Im Gegenteil, Systemrelevanz kann nur jenen Teilen zukommen, ohne die das System zusammenbricht. Anders rum: Vieles könnte weg, und das System als Ganzes würde sogar an Relevanz gewinnen.

Gerade der Corona-Lockdown hat gezeigt, mit wie wenig es ginge … wenn ein wenig auch dank digitaler Surrogate. Und der Lockdown light trifft die performative Kulturszene wie der erste. Die kulturpolitischen Schlüsselfragen lauten deshalb: Was muss das Kultursystem leisten? Welches sind seine – ideengeschichtlich, bildungsbezogenen, sozialpolitisch – relevanten Teile? Gibt es einen »Versorgungsauftrag«, wer formuliert(e) ihn? Wie verhält sich der Auftrag zur wachsenden Mobilität und zum digitalen Medium? Welche Formel finden wir, solche Relevanz periodisch neu zu definieren?

Welche Rolle kommt hier dem Markt zu, der Bereitschaft der Nutzer*innen, angemessene Preise zu bezahlen? Denn es entstehen neue Bereiche wie die digitalen Erlebniswelten, die Zeit und Aufmerksamkeit absorbieren. In der Kultur bleibt das Alte neben dem Neuen bestehen. So wächst das Angebot umgekehrt proportional zum Publikum. Das ist kein Problem, solange das Publikum allein für die Finanzierung aufkommt.

Doch die Kultur ist ein Musterbeispiel für die Verteilung der Lasten auf alle, auch auf die Nicht-Beteiligten. Alte Spitäler reißt man ab, alte Flughäfen werden zu Innovationsparks umfunktioniert. Historisch gibt es nur ein Beispiel, das wie die Kultur funktionierte, und es ist eng verwandt: die Kirche. Auch hier stellte man die neue neben die alte. Was weder die eine noch die andere besser füllte oder ihre Relevanz steigerte.

Woraus sich die Grundfrage jeder Politik ableiten lässt: Ist es ein Naturgesetz, dass der Staat Einfluss und Verantwortung immer weiter ausdehnt und damit die Kultur einer Leistungsplanung unterwirft? Oder ist eine Politik denkbar, die dem freien Spiel der Kräfte mehr Raum gibt und sich auf Kernbereiche und die Festlegung von Regeln beschränkt?

Beschäftigungsverhältnisse
Die Corona-Krise hat es überdeutlich gemacht: In der Kultur Beschäftigte sind nicht gleich, und das in vielerlei Hinsicht. Es gibt Künstler*innen, die in ihrem Wirken stark auf Publikum angewiesen sind: die performativen Künste, alle im Veranstaltungsbereich Tätigen usw. Andere sind nicht in gleichem Maße auf Live-Publikum angewiesen: Schriftsteller*innen, Maler*innen. Doch auch hier ist zu differenzieren: Auftritte und Lesereisen sind für manche in der Literaturbranche wichtiger Teil des Einkommens, andere leben von ihren Buchhonoraren allein. In den Nothilfeprogrammen wurde vieles über einen Kamm geschert. Wo aber ist hier zu differenzieren? Ist es fair, dass Kreative Übergangshilfe bekommen, andere Menschen, die durch die Pandemie in Not geraten sind, aber auf das soziale Netz verwiesen sind? Nach welchem Kriterium wird man hier Künster*in? Kann da jede*r mitmachen?

Und dann gibt es auch in der Kultur gut abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse, etwa im Orchester, im Theater, in den Museen – aber eben auch jene Selbstständigen, die den gut abgesicherten großen Einrichtungen zuarbeiten. Erstere vor allem kommen recht gut durch die Krise; wo der Staat 80 bis 90 Prozent der Kosten deckt, leiden die Beschäftigungsverhältnisse zuletzt, auch wenn Corona-bedingt nicht gespielt wird. Wie aber entstand jener Kreis von freien Berufen rund um die etablierten Institutionen? Geht es hier ähnlich zu wie in der Fleischwirtschaft mit einer Kernbelegschaft und einer Corona von Scheinselbstständigen?

Organisations- und Führungsstrukturen
Kulturbetriebe sind sehr unterschiedlich verfasst – die Skala reicht vom markt- und gewinnorientierten Privatbetrieb, von der Stiftung bürgerlichen Rechts über den e.V. ohne fiskalische Zuschüsse und den e.V. mit solchen. Manche Betriebe bekommen öffentliche Mittel als Projektförderung, andere als institutionelle Förderung, und die Krone der betrieblichen Schöpfungen in öffentlicher Kulturhand sind nach wie vor die Stiftungen öffentlichen Rechts und schließlich auch, immer noch, die Behörde. Das Gipfelamalgam beider Institutionalitäten bildet die Stiftung Preußischer Kulturbesitz – passend zur Pause zwischen den beiden Pandemie-Wellen kam das Gutachten, das die Entschlackung der aufgeblasenen Stiftung empfiehlt.

Doch die auf Bundesebene für Kultur zuständige Staatsekretärin Grütters nutzt ganz offenbar einzig die aus diesem Befund auch erwachsende Chance, persönliche Machtbereiche während der pandemischen Zeiten innerhalb der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ›zuständigkeitshalber‹, auszubauen. Sie vergibt die Chance, die das Gutachten des Wissenschaftsrates an die Hand gibt: über Strukturen und damit verbundene Betriebsformen in der Kultur, hier im größten deutschen Kulturbetrieb, konkret nachzudenken.

Passen bürokratische Betriebsformen und Führungsstrukturen eigentlich zu kulturellen Inhalten? Zum kritischen Auftrag? Theater, aber auch mancher Museumsbetrieb, sind auf die Persönlichkeit einer künstlerischen Leitung, einer Intendanz zugeschnitten: Der kulturelle Zwölfender (das sind inzwischen auch Zwölfenderinnen) tritt auf die Lichtung. Zum Grundverständnis gehört, dass es Führungsprobleme nicht gibt. Diese Position bringt weitgehende Durchgriffsrechte und fast diktatorische Vollmachen mit sich.

Passt das zur Kulturvermittlung, zum Partizipations- und Inklusionsauftrag, der Empathie und Flexibilität des Diskurses voraussetzt? Manche Beispiele zeigen, dass solche Führung schnell problematisch werden kann. Wie also soll ein Kulturbetrieb aussehen? Welche Form, welche Führung passt zu welcher Aufgabe und Kunstsparte im öffentlichen Kulturbetrieb? Wo können unternehmerische Formen eingesetzt werden, wo der öffentliche Betrieb abgestreift werden?

Kulturelle Bildung
Vor ca. zehn Jahren begann die Karriere dessen, was man Kulturelle Bildung nennt. So richtig verstanden hat den Begriff bislang niemand. Kulturpolitisch meint man mit dem Hinweis auf die dringende Erfordernis Kultureller Bildung, dass bildnerisches Gestalten wie gleichermaßen Musizieren, Singen und Tanzen, möglicherweise auch Schauspielern und Rezitieren in allen Sozialisationsprozessen nützlich sind und deswegen keinesfalls vernachlässigt werden dürften.

Die Richtigkeit dieser Einsicht steht in einem merkwürdigen und offenbar irgendwie nicht (jedenfalls bislang nicht mit politischen Mitteln) beseitigbaren Widerspruch dazu, dass der Aus- bis stellenweise komplette Wegfall von Unterricht in musischen Fächern in den Allgemeinbildenden Schulen ohne großen Protest hingenommen wird. Natürlich gab und gibt es Initiativen aller Art, sogar ein Rat für Kulturelle Bildung wurde vor einigen Jahren gegründet, und landauf landab entstehen Initiativen im Umfeld von außerschulischen Bildungseinrichtungen aller Art. Auch die für Kultur zuständigen Minister*innen bemühen sich dann und wann, keine Frage.

Was machen wir da alle zusammen eigentlich? Einerseits wissen alle, dass freiwillig bislang niemand auf Regelunterricht in musischen Fächern in allen europäischen Bildungssystemen der letzten Jahrtausende verzichtet hätte. Andererseits führen wir mit dem Programm zum Ausbau und zur Stärkung außerschulischer Kultureller Bildung vor Augen, dass musische Erziehung ganz offenbar im normalen Bildungsgang keinen Platz hat. Wenn es keine Schimmel mehr gibt, dann müssen eben weiße Schimmel her.

Es gibt jede Menge Antworten auf politischen Ebenen, um den begrifflichen Widerspruch nicht benennen und den offenkundigen Mangel nicht einräumen zu müssen. Von Lehrermangel ist ebenso die Rede wie von unterschiedlichen pädagogischen Ausbildungsgängen, die einerseits in Beamtenverhältnissen, andererseits im Angestelltenstatus oder in Freiberuflichkeit münden sollen. Die Notwendigkeit, sich unbedingt vermehrt um MINT-Fächer zu kümmern, wird massiv ins Feld geführt, und wenn gar keine Argumente mehr vorhanden sind, dann ist der Mangel an Unterricht in musischen Fächern, na klar, der Digitalisierung geschuldet.

Warum nicht in einem ersten Schritt das System (föderal bedingt sehr unterschiedlich strukturiert und öffentlich verankert) der Musikschulen schlank in die Allgemeinbildenden Schulen integrieren? Außerschulische musische Angebote wären dann als wunderbar willkommene Ergänzung eines Kerns von musischem Schulunterricht zu begreifen; das Substitutgezappel ganzer Subsysteme Kultureller Bildung mit allen ihren institutionellen und damit auch administrativen Folgen könnte man beiseite lassen. Und wenn man Ähnliches vielleicht in einem Zusammengehen der Schulen bzw. von deren Trägern mit verbandlichen Strukturen der Bildenden Kunst erprobte?

Ähnlich wäre den weiter extrem gut mit Steuermitteln versorgten öffentlichen Theatern der Auftrag flächendeckend ins Stammbuch zu schreiben, Regelangebote für Schülerinnen und Schüler zu schaffen, die gemeinsam mit Schule zu planen seien.

Digitalisierung
Die letzte Dekade gilt als Jahrzehnt der Digitalisierung. Die Arbeitswelt hat sich für viele radikal verändert, eine neue kreative Klasse ist entstanden, die im Wesentlichen an ihren Laptops Zeichen manipuliert und modelliert und die als Heer von Freiberuflern den Einrichtungen überdies als günstige Lieferanten zur Verfügung stehen. Gleichzeitig hat der Bildschirm als Medium ästhetischer Erfahrung enorm an Bedeutung gewonnen. Die Politik, wo sie nicht mehr weiterweiß, lanciert Digitalisierungsprogramme.

Weil digital nach Zukunft klingt. Schulen werden digitalisiert, jedem Kind ein Tablet ist kein Versprechen mehr, sondern bereits ein teilweises Ärgernis. Denn gerade Corona hat gezeigt, dass Bildung im digitalen Medium die soziale Kluft vergrößert, weil Lernen einen kognitiv förderlichen Kontext benötigt und gerade digitales Lernen essentielle kulturelle Kompetenzen voraussetzt. Digitales Lernen erhöht den Abstraktionsgrad, es verknüpft nur noch Zeichen mit Zeichen, nicht Zeichen mit Objekten, sozialen Kontexten, Erfahrungen. Daraus ergeben sich für die Kultur- wie die Bildungspolitik ganz andere Fragen als noch zu Zeiten der großen Interneteuphorie.

Brauchen wir mehr arbeitsweltbezogenen Ausbildung oder mehr – ganz altmodisch – ganzheitliche Bildung? Welche Rolle kommt dem digitalen Medium im Unterricht zu? Welche in der Kulturvermittlung? Wie nutzen wir Social Media, in denen alle kompetent sind, als Tor zur Kultur? TikTok und Oper – wirklich unmöglich? Gibt es Formen digitaler kultureller Vermittlung, die von unten kommen und nicht von oben, die also nicht zum vornherein der kulturellen Elitenselektion dienen?

Niemand, auch die Autoren dieses Textes nicht, erwartet eine Kulturpolitik, die all diese Fragen kohärent und widerspruchsfrei beantwortet. Aber eine, die sich diesen Fragen stellt und sie nicht einfach mit »mehr Geld« beantwortet. Ständiges Wachstum, abgebildet in wachsenden Zuschüssen, und das Kompensieren von Problemen mit Geld waren schon vor der Krise vorgestrig.

Wachstum löst keine Probleme mehr, sondern schafft sie. Gerne wird eine Haltung, die Selbstverantwortung propagiert und den Markt als Instrument gesellschaftlicher Steuerung anerkennt, als neoliberal abgetan. Was sonst kann komplexe Gesellschaften koordinieren außer Märkten, die in rechtliche und soziale, letztendlich: politische Ordnung eingebettet sind? Die Weisheit kulturpolitischer Strategen reicht garantiert nicht; konzeptbasierte Kulturpolitik ist genauso von gestern.

Kulturpolitik muss das kompetitive Spiel der Kräfte zulassen, ja fördern. Sonst blockiert sie im Interesse der Besitzstandverteidiger jenen Wandel, der Kultur überhaupt ist. Neoliberal im Sinne von kaltherzig hingegen ist eine Kulturpolitik, die im Windschatten der großen und gut alimentierten Institute das Entstehen einer neuen Klasse künstlerischen Proletariats aktiv befördert, indem sie ihm seine Ketten belässt. Tja – immerhin habe es ja seine kreative Würde, bleibt die im Grunde zynische Schlussfolgerung.

Doch, da wäre eine Menge zu tun. Ein dem Status Künstler*in angemessenes Sozialversicherungsrecht, neue Gouvernanz- und Führungsmodelle, Vereinfachung der Strukturen, Deinstitutionalisierung, mehr finanzieller Raum für Unabhängige – volles Programm!

Autoren

Foto: Dirk Heinze

Prof. Dr. Dieter Haselbach, Berlin
Direktor des Zentrums für Kulturforschung

Prof. Dr. Armin Klein, Ettlingen
Professor em. für Kulturwissenschaft und Kulturmanagement am Institut für Kulturmanagement der PH Ludwigsburg

Pius Knüsel, Zürich
Direktor der Volkshochschule des Kantons Zürich

Prof. Dr. Stephan Opitz
Professor am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien / Universität Kiel Begründer des Kieler Masterstudiengangs Angewandte Kulturwissenschaft

Kultur ist mehr als Freizeitgestaltung, Vergnügen und Unterhaltung

11. November 2020

Kulturpolitik zwischen Enttäuschung, Partnerschaft und Veränderung

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Enttäuschter Prolog: Warum Kulturpolitik?
Kultur kann Vergnügen bereiten, ist zuerst allerdings eine eigene Wertsphäre. Es gibt eine breite marktbefreite Zone, in der die öffentliche Hand Kultureinrichtungen trägt, fördert oder der zivilgesellschaftlichen Ausgestaltung überlässt. Diese Einrichtungen, aber auch freie Akteurinnen in diesem Feld, erbringen elementare, gesellschaftlich notwendige Beiträge im Bereich der Künste, der Bildung und der kollektiven Erinnerungsarbeit. Sie sind nicht die »Füller« der Freizeit und dienen nicht einem unreflektierten Zeitvertreib.

Kultur hat in den vergangenen Jahrzehnten sicher davon profitiert, dass sich die Arbeitswelt verändert und die frei verfügbare Zeit ausgedehnt hat und Menschen ihre Bedürfnisse breiter entwickeln konnten. Teilhabe und aktive Teilnahme an Kultur konnten damit verbessert werden. Gleichwohl kann man Kultur nicht auf Freizeitgestaltung, Vergnügen oder Unterhaltung reduzieren, wie es jetzt in der fatalen Verknappung zur Begründung neuerlicher Corona-Schutzmaßnahmen im Bund und in den Ländern geschieht. Neben den brutalen Effekten, die die Einschränkungen für Kulturbetriebe, Künstler*innen, Kreative und Veranstalter wiederholt mit sich bringen, trifft die mit ihnen verbundene Rhetorik ins Mark der Gewissheiten. Der Kulturbereich in seiner Vielfalt und Breite wird pauschalisiert, seine Leistungen und in der Krise möglichen Beiträge werden beiseitegeschoben. Dass Kultureinrichtungen als Bildungsorte gerade in Krisenzeiten auch Räume der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung sind, wird ausgeblendet, um im Sinne in sich verkürzter Systemrelevanzdebatten scheinbar Notwendiges von scheinbar Entbehrlichem zu scheiden.

Kulturorganisationen und Kulturpolitik hatten sich auf Schutzkonzepte und sicheren Publikumsverkehr eingestellt. Kulturelle Angebote können und sollten wohlbedacht auch in der Krise zur Verfügung stehen. Doch die Kultur kommt zum Erliegen, sie erlebt erneut einen vollen Lockdown, was für viele Soloselbstständige aus der freien Szene aber auch andere Teile des Kulturbetriebs eine existentielle Bedrohung bedeutet. Da die Corona-Krise noch lange nicht vorbei ist, müssen wir uns als Kulturpolitiker*innen durchaus die Frage stellen, wie wir die Interessen der Kultur zukünftig noch lautstärker vertreten und damit schützen können.

Kulturpolitik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten durch zivilgesellschaftliche, kommunale und staatliche Impulse zu einem wichtigen Politikfeld mit umfassenden Gestaltungsansprüchen entwickelt. Vom bürgerlichen Eskapismus, der die junge Bundesrepublik noch zeichnete und Kultur tatsächlich außerhalb von Gesellschaftspolitik ansiedelte, hin zur bürgerschaftlichen Gemeinwesenorientierung mit den Mitteln der Kultur war es ein geradezu revolutionärer Weg, den zahlreiche Neugründungen von Initiativen und Kultureinrichtungen säumen, Programmschriften, Projekte und Lebenswerke, die dieses Land nachhaltig verändert und geprägt haben.

Es war dies nichts geringeres als die Neuerfindung des kollektiven Lebensgrundes einer erst verspäteten, dann gestörten Nation, die nun im dreißigsten Jahr ihrer Einheit steht, Kultur oft als ihren wesentlichen Grundton beschwört und ihn nun zu überhören scheint. Diese Fehlleistung kann man durchaus tragisch nennen. Doch keine Krise kann nur technokratisch gelöst werden, alle Politikfelder müssen ernst- und mitgenommen werden. Fordern wir vom Kulturbereich ab, was er tatsächlich leisten kann, vom anhaltenden Grundton bis zu den Hygienekonzepten (in deren sichere Umsetzung erheblich investiert worden ist).

Die Akteur*innen und Erfahrungen der Kulturpolitik gilt es zu nutzen, statt sie komplett auszuschließen. Doch die Stimme der Kulturpolitik scheint noch immer nicht stark genug; in Parlamenten, Stadt- und Gemeinderäten fehlt es an Kulturpolitiker*innen, die das Feld im Ganzen und fachlich versiert vertreten. Kultur ist konstitutiv für unser Zusammenleben und bietet wesentliche Reflexions-, Diskussions- und Vergewisserungsmöglichkeiten. Sie als verzichtbar in der Krise zu deklarieren, heißt ihren Status in dieser Gesellschaft zu verkennen oder bewusst zu leugnen oder aber, sie auf das Konsumtive zu reduzieren. Die Pauschalisierung von Maßnahmen und Wirkungserwartungen spaltet zunehmend die Gesellschaft und nährt die Argumente jener, die den Ernst der Lage leugnen.

Doch die Lage ist ernst. In der Krise aber erweist sich die Basis der Sonntagsreden, in denen es etwa heißt: »Noch immer gibt es nicht wenige, die der Meinung sind, Kultur und Kunst seien vor allem dekoratives Beiwerk für die sogenannten harten Themen, die die Welt bestimmen. (…) Kultur ist Heimat, Zugehörigkeit und Teilnahme; sie muss darum kontinuierlich gepflegt werden (…). In der Wertschätzung und Förderung von Kunst und Kultur beglaubigt sich das Selbstverständnis eines Kulturstaates, der seine eigenen Ansprüche ernstnimmt« (Angela Merkel 2004, S. 29/35).

Ein Kulturstaat, der seine eigenen Ansprüche ernstnimmt, müsste wohl zuallererst differenzieren und vertretbare Kulturangebote gerade in der Krise wertschätzen. Er müsste sein Handeln an seiner Programmatik, seiner Rhetorik unter »normalen« Umständen ausrichten, statt reflexartig an den Überzeugungen der Menschen vorbeizuarbeiten und diese zu irritieren (das bundesweite Echo der Kulturschaffenden ist eindeutig). Schließlich helfen Verordnungen nicht allein normativ, sondern erst durch die Akzeptanz und Beherzigung durch die Menschen. Die Kulturpolitik der Bundesrepublik wird durch Akteur*innen geprägt, die gestalten wollen und auf Kooperation und Empathie ausgerichtet sind. Ihre Einsicht hängt davon ab, wie man sie durch die Krise mitnimmt.

Der Kulturstaat müsste ferner in einer den erworbenen Überzeugungen entsprechenden Systematik argumentieren, die den Kulturbereich von sonstigen kommerziellen Vergnügungen wie Freizeitparks, Spielhallen oder Bordellen maßgeblich unterscheidet. Dafür – unter anderem – haben wir jahrzehntelang das Feld entwickelt, politisch-gestalterisch aufgeladen und geforscht. Kulturpolitik hilft bei der Krisenbewältigung, sie bedarf nicht der Ruhigstellung. Kulturpolitik ist relevant, nicht redundant!

Freiheit und Freiwilligkeit
Die Krise wird längerfristige Einschnitte nach sich ziehen, auch für den Kulturbereich. Schon heute muss über den Umgang mit der Kulturfinanzierung nachgedacht werden. Wir benötigen Eckpfeiler für die Gestaltung einer erwartbar schweren Debatte über die Aufrechterhaltung wohlfahrtsstaatlicher Wirkungsbreite, insbesondere über die großen Sozialetats hinaus. Kultur gilt als freiwillige Selbstverwaltungsaufgabe insbesondere der Kommunen. Sie ist – in Anlehnung an die Kunstfreiheit des Grundgesetzes – frei, keine inhaltlichen Vorgaben schränken sie ein oder geben uns die Gewissheit gesetzlich fest geregelter Leistungen für den Kulturbereich.

Wir überlassen es der jeweiligen Gemeinschaft, wie sie ihr kulturelles Erbe entwickelt, was sie an Kultureinrichtungen oder Festivals vorhält oder welche Akteure sie fördert. Die Vielfalt der Kultur entspricht der Vielfalt lokaler Gemeinschaften. Anders formuliert: die Kulturpolitik ermöglicht freie Gestaltung, die Entwicklung des Besonderen oder die Erfindung neuer, identitätsstiftender Projekte. Die Kulturhauptstadt Europas gilt als ein besonders exponiertes Beispiel für Kulturpolitik als kommunale und regionale Gestaltungsaufgabe und die kreative Stadtentwicklung.

Dennoch ist nur das »Wie« der Kultur freiwillig, das »Ob« wird dadurch nicht zur Kür. Die Verfassungen der Länder und die Kommunalordnungen regeln die Zuständigkeiten für Kultur; auf die Wirkkraft dieses wichtigen gesellschaftlichen Feldes kann nicht verzichtet werden. In einer Zeit der gesundheitlichen, aber auch drohenden finanziellen Krise müssen Vorkehrungen getroffen werden, den Kulturbereich nicht substantiell zu schädigen.

Aufgrund der Haushaltsregelungen und eingeübter Verfahren müssen Sparpolitiken bei genau diesen freiwilligen Leistungen ansetzen, da sie als entbehrlich und fachlich weniger belastbar gelten. Die Freiwilligkeit wird zur generösen Geste des Zusätzlichen erklärt, auf das man nun zuerst verzichten müsse – wie im (Teil-)Lockdown. Die Kulturetats vor allem der Kommunen dürfen nicht aus haushaltspolitischer Räson massiv beschädigt werden – erste Anzeichen dafür gibt es bereits aus einigen Städten –, zumal sie nicht ausreichen, die zu erwartenden Finanzierungslücken auch nur ansatzweise schließen zu können.

Grundsätzlich gilt: Die Kultur darf nicht zum vordergründigen Instrument der Haushaltskonsolidierung werden. Es ist klar, dass auch die Kultur ihren Anteil an der Konsolidierung übernehmen muss. Ein Tabu allerdings wären überproportionale Kürzungen bis hin zur Schließung von Kultureinrichtungen, die andere Bereiche nicht hinnehmen müssen. Es ist unbegründet, davon auszugehen, dass die Erhebung der Kultur zur Pflichtaufgabe die anstehenden Probleme lösen oder entschleunigend wirken könnte.

Für den Status der Kulturpolitik wäre es sicher gut, den Kulturstaat im Grundgesetz zu explizieren. Aber auch davon leiten sich keine einzuklagenden Ansprüche ab. Genauso wenig ließe sich eine Pflichtaufgabe Kultur operationalisieren, weil ihr – wie in Hinblick auf die besonderen Freiheitsgrade ausgeführt – die normativen Grundlagen fehlen. Besser hingegen wäre es, endlich mehr spezielle Kulturgesetze zu etablieren, wie sie etwa in Sachsen oder NRW entwickelt wurden und die Kulturfinanzierung stärken. In Sachsen etwa ist sogar eine Kulturpflicht der Kommunen gesetzlich festgelegt, allerdings an erhebliche Leistungen des Landes gebunden. Nur, wo es konkrete Maßstäbe gibt, ist eine Pflicht justiziabel. Kulturgesetze sind aber keine Bollwerke gegen den Wandel, sie können sogar Transformation objektiven und gestalten helfen.

Rettungsschirm für die Kultur – Erneuerung der Kulturlandschaft
Sicher bleibt der legitime Ruf nach Bund und Ländern im Augenblick bestimmend, sie mögen die Kommunen und Rechtsträger von Kultureinrichtungen, die freien Künstler*innen und Kulturunternehmen zusätzlich unterstützen, auch im kommenden Jahr und vielleicht darüber hinaus. Hier sind Förder- und Ausgleichsmittel natürlich gefragt, obwohl oder gerade weil der Bund, viele Stiftungen und andere Instanzen bereits vielfältige Unterstützungen gewährten.

Nachhaltige Stabilisierung der Kulturlandschaft erfordert langen Atem: Für den Übergang braucht es zusätzliche großflächige finanzielle Hilfen, einen nachhaltig wirksamen Rettungsschirm, der auch die Situation der Soloselbstständigen und kulturellen Kleinbetriebe im nichtstaatlichen Bereich berücksichtigt, Einnahmenausfälle kompensiert sowie unbürokratisch und schnell von den Kulturschaffenden in Anspruch genommen werden kann. Wir sprechen dabei auch und vor allem von Haushaltsproblemen über das Jahr 2021 hinaus. Ferner bedarf es aber auch Überlegungen, wie die »Neue Normalität« nach Corona gestaltet werden kann.

Dafür sollte die Devise gelten: Die kulturelle Vielfalt darf keinen Schaden nehmen! Doch wäre es völlig weltfremd und inadäquat, davon auszugehen, dass nach einer solch gravierenden Phase alles wieder so herstellbar ist, wie es vor der Krise existierte. Es gibt keinen Anspruch auf kompletten Risikoausgleich.

Weil das so ist, sollten die Kulturpolitiker*innen der Kommunen und Länder die Debatte darüber beginnen, was sie realistisch sichern können und wo sie auf die spätere Erneuerung der Kulturlandschaft setzen wollen. Das wäre eine ehrlichere Haltung, als nur auf kreditierten Finanzstrom zu setzen, als sei dieser bedingungslos und unversiegbar. Kriterien müssen lokal und partizipativ gewonnen werden, aber sie müssen von der Haushaltssituation ausgehen und realistisch sein. Jede Tabuisierung eines Umbaus, einer Konsolidierung der öffentlichen Finanzen jenseits zusätzlicher Finanzspritzen wäre zynisch.

Es ist also auch die große Stunde von Strukturveränderungen, Lastenteilungen und Kooperationen. Keine neuen Schlagworte, und es gibt freilich Beispiele gelungener Umsetzung all dessen – allerdings geht es nun um einen neuen Maßstab und um eine neue Geschwindigkeit. Ein Eckpfeiler, auf den heute schon zugearbeitet werden kann, wäre eine in Teilen reduktive Kulturpolitik, die den Bestand kritisch hinterfragt und Schwerpunkte festlegt.

Wir können in dieser Krise lernen, was wir schon lange versuchen, aber bisher nicht geschafft haben: Transformation zu gestalten, Angebote ehrlich einzuschätzen, Projekte auch einmal auslaufen zu lassen, ohne alles auf Dauer zu stellen. Hinterfragen wir das Wachstumsparadigma in der Kulturpolitik, ändern wir unsere Mentalität, das Aufhören zu skandalisieren. Daher ist es kontraproduktiv und setzt ein völlig falsches Zeichen, die »Rote Liste« bedrohter Kultureinrichtungen coronabedingt zu reaktivieren.

Wandel kann man aber auch auf der Verwaltungsseite vorantreiben: Staat und Kommunen sind derzeit oft unbürokratisch tätig, legen Haushalts- und Zuwendungsrecht großzügig aus oder widmen Haushaltsmittel um, um schnell helfen oder kompensieren zu können. Dies darf im Nachgang nicht beanstandet werden; zugleich könnten bestimmte Maßnahmen als Modellversuch verstanden werden, das Zuwendungsrecht zu modernisieren, vor allem zu flexibilisieren.

In der Krise zeigt sich, woran es tatsächlich fehlt und was passgenauem Handeln im Wege steht. Dies sollte im Zuge der Rückkehr zur Normalität aufgearbeitet, systematisiert und diskutiert werden, um förderrechtlich gestärkt aus der Krise hervorzugehen. Eine wichtige Zielgröße müssen Kulturbetriebe im gemeinnützigen Sektor sein, die über stabile Haushalte, Rücklagen und damit Krisenfestigkeit verfügen, statt auf einem quasi gesetzlich prekären Status gehalten zu werden. Das Thema ließe sich vertiefen.

Transformation und Resilienz
Wir müssen Veränderung neu denken und argumentieren können, ohne als Kulturpolitiker*innen als Belastung oder Zumutung für die gewachsene Kultur in diesem Land gebrandmarkt zu werden. Wir haben uns zu lange im Habitus des Gutmenschen eingerichtet: Kulturpolitik ist in der Regel für etwas, nie dagegen (es sei denn, es ist undemokratisch, rassistisch oder rein kommerziell). In Deutschland wuchs eine additive Kulturlandschaft heran, die bereits ohne Krise viel Unauskömmliches, Unterfinanziertes, Prekäres oder eigentlich nicht professionell Tragfähiges beinhaltet.

Auch die berechtigte Rede über die soziale Lage der Künstler*innen und ihre größtenteils extrem niedrigen Jahreseinkommen kontrastiert mit der sozialstaatlichen Leistung, durch Stipendien, Preise und andere Förderungen über 100.000 Menschen in diesem System zu halten, wenngleich nur extrem wenige tatsächlich auskömmlich davon leben können. Aber viele richten sich in diesem Habitus ein, können gar nicht anders, als Künstler*in zu sein. Gleichwohl haben sie eine Wahl. Künstler*innen sind also auch deshalb arm, weil sie im Wissen um den Kunstmarkt diesen weitgehend marktbefreiten Lebensentwurf gewählt haben, weil sie diese Nische jenseits notwendiger Erwerbsarbeit attraktiv finden (vgl. Hans Abbing 1999).

Qualitätsdebatten sind schwierig, Schwerpunktsetzungen auch, da alles irgendwie seine Berechtigung hatte, errungen war, bestimmte Akteur*innen band oder für den Frieden im Gemeinwesen verteidigt wurde. Nachhaltig war das nicht; es lebte vom Kontinuum außergewöhnlichen Wohlstands, von Wirtschaftswachstum, steigenden öffentlichen Einnahmen und folglich einem allzuständigen Wohlfahrtsstaat. Diese permissive, auf den Primat der Selbstverwirklichung fokussierte Haltung der Kulturpolitik ist nicht mehr zeitgemäß, auch nicht im Sinne der Nutzer*innen von Kulturangeboten und künstlerischen Erzeugnissen. Es muss möglich sein, zu hinterfragen, zu urteilen, nach Kriterien zu evaluieren und Angebote aus der öffentlichen Finanzierung zu nehmen, wenn sie keine hinreichende Wirkung für das Gemeinwesen haben.

Dies steht nicht im Widerspruch zum Demokratisierungsimpuls, der die Wachstumspolitik gezielt ausnutzte. Kulturelle Teilhabe kann definitiv auch unter veränderten Bedingungen organisiert werden. Mir ist bewusst, dass dies auch als Provokation aufgefasst werden kann, aber es ist die Erkenntnis, dass der Kulturbereich nicht durch den bloßen affirmativen Selbstlauf gestärkt wird, sondern nur durch das Ringen um das, was uns wichtig und was wirksam ist. Wir kommen in ein Fahrwasser, wo wir kritisch und ehrlich sein müssen. Darauf sollten wir vorbereitet sein. Kulturpolitik muss sich auf eine Postwachstumsgesellschaft einstellen und erkennen, dass nicht zuletzt der Klimawandel neue Maßnahmen nach sich zieht, die eine additive Politik negieren oder Beiträge für nachhaltiges Kulturschaffen einfordern.

Der Pfad muss sich ändern; die Krise kann ein Richtungsimpuls dafür sein, das Gespräch darüber zu entfachen. Kultur bleibt nur dann eine gesellschaftlich privilegierte Zone, wenn sie mit den Problemen der Gesellschaft Kontakt hält, eine Krise mitdurchläuft und Verluste miterleidet, ohne Immunität einzufordern. Die von der Kulturpolitischen Gesellschaft eingeforderte Systemrelevanz bezieht sich nicht auf den kompletten Bestand kultureller Infrastrukturen, sondern auf die konstitutive Bedeutung kultureller Infrastrukturen für unsere Gesellschaft.

Wir müssen Veränderung auch deshalb neu denken, weil sich die gesellschaftliche Realität massiv verändert und wir immer weniger selbst in der Hand haben. Durch die Globalisierung und weltweite Migrationsströme werden nationale Politiken herausgefordert. Um nur zwei kulturpolitische Auswirkungen zu nennen, denen wir uns stellen müssen: Kulturelle Vielfalt wird zur völkerrechtlich verbrieften Norm, die wir ausgestalten müssen und die von Menschen auch eingefordert wird, die zu uns kommen; Kulturerbe konstituiert sich unter dem emanzipativen Druck postkolonialer Aufarbeitung möglicherweise künftig ganz neu und supranational als Polyphonie aller Stimmen, also jenseits errungener Kanons und Bewertungsinstanzen (vgl. Bénédicte Savoy 2018, S. 52 ff.).

Diversität beginnt bei der Adressierung von Geltungsansprüchen und Mitsprache: Neue Ordnungslogiken, Umsortierung bisheriger Ordnungen des Wissens und Erinnerns, Emanzipation als »Welt-Druck«, dem wir uns stellen müssen. Die sich herausbildende Kultur der Digitalität verändert die Entstehungsbedingungen und Resonanzräume kultureller Produktion, Distribution und Rezeption, sie bedeutet nicht nur eine Medien-, sondern eine Kulturrevolution. Sie ändert unser Denken und Handeln ebenso wie die Funktionsweise der Institutionen. Schließlich pluralisiert sich unsere Gesellschaft immer weiter, erodieren Milieus und Bildungsbestände, die vor allem ererbte Kulturformen (Oper, Theater und Museen) herausfordern.

Kreativität wird zum Imperativ immer kürzerer Innovationszyklen in allen Bereichen, die »geschützte« Zone des Kulturbereichs wird zusehends entgrenzt; ästhetische Imperative bestimmen unsere Lebenswelt – was heißt das künftig für das Schöne der Kunst, die Zuständigkeits- und Regulierungsbereiche der Kulturpolitik? Schließlich: Wohin steuert die Demokratie, mit der viele Aktionsformen der Zivilgesellschaft und breitenkulturelle Akteurinnen eng verbunden sind? Transformation berührt uns also grundlegend, wir müssen sie mit unseren Überzeugungen, aber auch der Offenheit für Neues und Veränderung gestalten, nicht erdulden.

Dafür benötigen wir Kulturakteurinnen und -einrichtungen, die Wandel als Normalität begreifen, sich auf ihn einstellen. Auch Krisen gehören zweifelsohne zum Setting dessen, was vor uns liegt. Wenn wir sie als systemimmanent begreifen, werden wir robuster. Eine Kulturpolitik, die dies reflektiert, auch schmerzliche Veränderung aktiv gestaltet, nenne ich resilient. Sie bewahrt folglich nicht nur, sie baut auch um, verwirft, erfindet neu und erklärt ihren Bestand nicht für per se unverzichtbar.

Im Kontext des gesellschaftlichen Wandels und auch als Folge der Corona-Krise ist es an der Zeit, dass wir einen Dialog über neue kulturpolitische Leitbilder beginnen: wir brauchen einen Paradigmenwechsel und müssen diesen gemeinsam gestalten. Nötig sind Selbstbewusstsein, Utopiefähigkeit und die Einbindung der Nutzer*innen.

Literatur
Abbing, Hans (1999): Why Are Artists Poor?: The Exceptional Economy of the Arts, Amsterdam: Amsterdam University Press

Merkel, Angela (2004): Kultur und Nation, in: Norbert Lammert (Hrsg.): Alles nur Theater? Beiträge zur Debatte über Kulturstaat und Bürgergesellschaft, Köln: DuMont

Savoy, Bénédicte (2018): Die Provenienz der Kultur. Von der Trauer des Verlusts zum universellen Menschheitserbe, Berlin: Matthes & Seitz

Autor

Dr. Tobias J. Knoblich, Erfurt

Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V., Dezernent für Kultur und Stadtentwicklung der Landeshauptstadt Erfurt