Transformieren statt transformiert werden:
Chancen für den Kultursektor

29. Januar 2021

Wir erleben einen Epochenwechsel. Das globale Kultursystem ist lahmgelegt und überwintert nach jahrelanger Überhitzung in bedrohlicher Kühle. Seit Monaten leben Tausende von Kulturschaffenden und Kulturinstitutionen mit existenziellen Unsicherheiten. Die Pandemie zeigt die Ungleichheit und die Prekarität des Kultursektors ebenso schmerzhaft wie seinen Nachholbedarf in Sachen Lobbying und Digitalisierung. Und sie beginnt bereits die künftigen Strukturen zu prägen.

Die einzige Möglichkeit, aus dieser belastenden Situation eine Chance zu machen, liegt darin, die Bedingungen für die Zeit nach der Krise mitzugestalten. Wagen wir daher einen Blick in die Zukunft. Lernen wir von den Errungenschaften, die in vielen künstlerischen Aktionen aus Not entstanden sind. Nicht umsonst hat der Bund im Covid19-Gesetz[1] Finanzhilfen für Transformationsprojekte zur Verfügung gestellt, die gemeinsam mit den Kantonen unterstützt werden können. Denn Transformieren oder transformiert werden, das ist die entscheidende Frage für den Kultursektor. Fünf Themen sollten Kulturpolitik, Kulturinstitutionen und Kulturschaffende dabei berücksichtigen.

Bessere soziale Absicherung der kulturellen und kreativen Berufe

Der Kultursektor ist wesentlich geprägt von Freischaffenden[2], die sich in höchster Verwundbarkeit und Abhängigkeit befinden. Etwa 15.000 Kulturschaffende sind in der Schweiz mit hohem Einsatz und wenig Absicherung tätig, ihr Status ist in gängigen Berufskategorien schwer zu erfassen und folglich schlecht geschützt: Musiker*innen und Tontechniker*innen, Tänzer*innen oder Kurator*innen, allesamt Angestellte im Kulturbereich mit befristeten Arbeitsverträgen bei häufig wechselnden Arbeitgeber*innen. Dies ist die Realität einer sehr dynamischen Branche, die kaum Festanstellungen bietet.

Die Freischaffenden tragen in unzähligen Projekten zum Reichtum unseres Kulturlebens bei – leider bleibt auf ihrer Seite wenig davon hängen, selbst wenn sie erfolgreich arbeiten, fallen sie durch die Maschen der Vorsorge-, Hilfs- und Absicherungssysteme und stehen am unteren Ende der Lohnskala. Ihnen verdanken wir einen Großteil der Festivals, Bücher, Tanzprojekte, Ausstellungen und Clubabende.

Abgesehen von angemessenen Honoraren ist es dringlicher denn je, die Besonderheiten dieser Berufsgattungen endlich im Sozialsystem abzubilden und ihnen einen Anspruch auf Arbeitslosenversicherung zu sichern. Die Schweiz hat hier Nachholbedarf, die bisherigen Nothilfemaßnahmen zeigen dies eindrücklich. Mögliche Teilmodelle aus Deutschland oder Frankreich können als Diskussionsgrundlage dienen, Suisseculture und andere Verbände sind ideale Gesprächspartner, um eine tragfähige Lösung zu entwickeln:

Die Pandemie hat die beschriebene Problematik verdeutlicht und für viele Betroffene schmerzhaft gezeigt, wie schwierig es ist, in einem staatlichen Nothilfesystem die zahlreichen freischaffenden Kulturberufe angemessen und fair zu erfassen. Es scheint daher absolut naheliegend und zwingend, die Frage der sozialen Absicherung von freien Kulturschaffenden in einem größeren Kontext anzugehen und auf eine politische Lösung hinzuwirken. Gelingt dies nicht, droht ein Segment an Kreativen wegzubrechen, das in unzähligen zeitgenössischen Formaten das Kulturleben der Zukunft wesentlich mitprägen würde.

Nachhaltige Prozesse statt kurzlebige Produkte fördern

Die gegenwärtige Krise zeigt in zugespitzter Form, in welchem Maße der Kultursektor ein Output-orientiertes System ist, das international eine wachsende Produktionsdichte bei abnehmender Präsentationsdauer fördert: Heute ist ein Werk hier, morgen dort und übermorgen wird es durch ein neues ersetzt. Dies ist ökonomisch und ökologisch wenig nachhaltig und führt zu großem Verschleiß. Unter der Hektik leiden auch die kreativen Prozesse. Wer je einem Orchester beim Proben zugehört hat, weiß, wie wichtig die Momente des Suchens sind, denn Klang ist nicht gleich Klang, er muss gefunden werden.

Kulturmarkt und Subventionspolitik haben Institutionen und Kunstschaffende über Jahre auf Outputsteigerung, Hypermobilität und Kurzlebigkeit gepolt. Der Kultursektor braucht aber mehr Nachhaltigkeit, bessere Verwertungs- und Wirkungsketten. Dafür muss er auf die Langfristigkeit von Prozessen setzen, zum Schutz der Ressourcen, Kreativität und Natur. Die Pandemie hat dafür eine Art »in vivo«-Experimentierlabor geschaffen: Im Zentrum der kulturellen Arbeit steht momentan zwangsläufig der künstlerische Prozess, die Recherche, und weniger das fertige Produkt und dessen Präsentation.

Dadurch hat auch das Lokale und der direkte Einbezug der Menschen vor Ort an Bedeutung gewonnen. Kurze Wege sollen aber nicht Provinzialisierung bedeuten, denn gerade mit bewusster lokaler Verankerung muss es weiterhin darum gehen, einen internationalen Austausch zu pflegen: Kunst und Kultur entstehen aus dem Dialog mit anderen Realitäten. Für die Kulturförderung wird es künftig darum gehen, die Förderempfänger*innen nicht nur an Produktions-Ergebnissen, sondern auch an Prozessen zu messen. Recherchen, technologische Experimente oder offene Austauschprozesse sollten dezidiert Teil des Auftrags sein. Der Kulturbereich wird dadurch wesentlich an Qualität und Nachhaltigkeit gewinnen. 

Raum schaffen für Transdisziplinarität und neue Sprachen

Lange Zeit wurde der Begriff der künstlerischen Qualität von Institutionen nach bestimmten ästhetischen Filtern diktiert, die einer disziplinären Logik folgen und bis heute die Kulturförderung bestimmen. Mit zunehmender Popularität digitaler Praktiken entstehen neue soziale Konstruktionen von Qualität, die mit jenen der Institutionen konkurrieren. Im Reich von TikTok & Co. findet sich hierzu endloses Anschauungsmaterial.

Theaterregisseur Arne Vogelgesang experimentiert schon lange mit Netz-Formaten: »Man traut sich Live-Streams von den Proben oder Opern-Kommentare auf Twitch – wo beide Seiten erstmal verwirrt sind, sowohl das Internet-Laufpublikum als auch die Opern-Besucher. Diese Überkreuzung von Welten finde ich das Spannendste im Moment: mit dem zu experimentieren, was Publikum und Publikumsbeziehung bedeutet.«

Für die institutionelle Kultur und ihre Förderung stellt sich die Frage, wie und von wem das künftige Verständnis von Qualität erarbeitet wird. Das Verhältnis zum Publikum, auch der Einbezug von und die Interaktivität mit neuen Publika sind hier wichtige Herausforderungen. Transdisziplinäre Formate bereichern darüber hinaus den künstlerischen und außerkünstlerischen Dialog indem sie Kompetenzen aus verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten einbeziehen. Dies kann zu hybriden Produktionsformen und Prozessen führen. Der Tänzer, die VR-Spezialistin und der Modedesigner für eine Modeschau, der Klangforscher und die Geologin für ein Landschaftsprojekt interagieren und suchen eine gemeinsame, vielleicht neue Sprache. Transdisziplinarität fordert dazu heraus, die eigenen Verständnisräume und Denkkategorien zu verlassen und sich auf unvertraute Zusammenhänge einzulassen. Für Kulturinstitutionen liegt die Herausforderung darin, nicht in beliebige Aktivismen zu verfallen, sondern gezielt neue Sprachen zu lernen und die relevanten Akteure außerhalb ihrer ursprünglichen Bestimmung einzubinden.

Das Publikum findet seine Kultur nicht nur dort, wo die Kultur ihr Publikum sucht

Untersuchungen aus der Zeit der Pandemie belegen, dass die Menschen nicht weniger Kultur konsumiert haben, sie haben sie bloß anderswo gesucht und gefunden als bisher. Eine Studie des Unternehmensberaters Deloitte weist für Deutschland eine erhöhte Mediennutzung zwischen 38 % (Konsolen) und 55% (Mediatheken) aus. Dabei wirkt die Pandemie wie ein Katalysator: Digitale, qualitativ hochwertige Inhalte wurden stärker genutzt, zugleich beschleunigte sich der Rückgang bei traditionellen Medienangeboten.

Es gibt also entgegen unbelegten Gerüchten einen großen Appetit nach Kultur. Nur wird dieser Appetit nicht unbedingt dort gestillt, wo traditionellerweise die kulturellen Speisen offeriert werden. So stellt sich die entscheidende Frage, von wem und für wen künftig was angeboten und verbreitet wird. Das Geschäft mit der Veränderung des Publikumsverhaltens wird meist von Instanzen betrieben, die nicht zum herkömmlichen Kulturbetrieb gehören und sehr viel Einfluss auf das Kulturleben der Zukunft haben.

Amazon verdreifachte im 3. Quartal 2020 seinen Gewinn auf den bisherigen Rekordwert von 6,3 Mrd. Dollar. Aber was kann der Kultursektor tun, statt den Plattformkapitalismus zu beklagen und zugleich mangels Alternativen Youtube, Twitch und Spotify zu nutzen? Die Antwort ist etwas unbequem und lautet: Akzeptieren, dass das Netz für den herkömmlichen Kulturbetrieb kein feindlicher Raum ist und daran arbeiten, die Verteilverhältnisse zu verändern. Eine zentrale Aufgabe künftiger Kultur- und Institutionenpolitik könnte es sein, alternative, selbstorganisierte Plattformen zu ermöglichen, auf denen die Mittel- und Informationsverteilung, die Produktion und Distribution eigenständig und produzentenfreundlich organisiert wird. Das ist machbar und reizvoll, auch in der Schweiz. Die Erfahrungen während der Pandemie haben gezeigt, dass dies keine Utopie sein muss, es gibt Menschen in den Startblöcken.

Die Grenze des Digitalen beginnt bei der Realität des Körpers

Mit dem Zuwachs an digitalen Angeboten im Web kann das Bedürfnis nach Inhalten zeitgleich lokal und international sehr viel breiter bedient werden, auch partizipatorischer, als dies Kulturinstitutionen auf analoge Art schaffen. Die digitale Kulturwelt ist populär, divers und zugänglich, jederzeit und überall verfügbar. Diese Potentiale sind es, die sich die analoge Kultur vermehrt aneignen muss, um ihre inhaltlichen Stärken beim Publikum auszuspielen. Das Bedürfnis nach physischem Zusammenkommen, das Verlangen nach körperlicher Begegnung wird die zentrale Realität des Kultursektors bleiben, denn der Sinn von gelebter Kultur ist direkte Interaktion.

Alles zu Digitalisieren oder in virtuelle Formate zu bringen, wünschen wir uns nicht, es geht um ergänzende oder hybride Formate. Die Möglichkeiten der Interaktion zwischen analog und digital sollten deshalb vorurteilsfrei ausgebaut werden, so dass aus der noch platten Idee des Streamings mehr wird als eine Notlösung für die nächste Pandemie. Nur der direkte, gleichberechtigte Kontakt zwischen Menschen an einem gemeinsamen Ort – ob analog oder digital – ermöglicht offenen Dialog oder Widerspruch, die beide für unsere Gesellschaft existenziell wichtig sind. Kultur ist immer auch ein Angebot für Demokratiebildung. Kann man sich dabei nicht in die Augen schauen, fehlt etwas Entscheidendes zum Mitdenken, Mitfühlen und Mitstreiten.

Die bereits begonnene Transformationsphase wird eine Gelegenheit sein, uns darauf zu verständigen, welche kulturellen Werte wir als Gesellschaft fördern wollen. Für uns alle, hoffe ich, ob als Publikum, Kulturschaffende, Veranstalterinnen oder Kulturförderer, wird es darum gehen, den Weg zu öffnen zu einem Kulturbetrieb, der nachhaltiger, prozesshafter und verteilgerechter wird.

Autor:

Foto: Anita Affentranger

Philippe Bischof (1967) ist seit dem 1. November 2017 Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Nach Studien in Basel begann er seine Laufbahn als Regieassistent am Theater Basel. Anschließend arbeitete er als Regisseur und Dramaturg im In- und Ausland sowohl an Stadttheatern wie auch in der freien Szene.

Hinweis: Die Zeitung »Schweiz am Wochenende« hat den Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia eingeladen, in einer Carte Blanche seine Gedanken zur Zukunft des Kultursektors und der Kulturpolitik zu formulieren. Der dabei entstandene Text konzentriert sich bewusst auf einige Zukunftsthemen, die struktureller Art und eng miteinander verbunden sind, wohl wissend, dass es auch andere Dringlichkeiten gibt: Etwa Fragen der Diversität und Chancengleichheit, die ebenfalls in einer künftigen Kulturpolitik prioritär zu behandeln sind.


[1] Mit diesem Gesetz hat der Schweizer Bundesrat finanziellen Maßnahmen zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie beschlossen (vgl. https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2020/711/de, letzter Zugriff 26.01.2021). Art. 11 regelt die Maßnahmen im Kulturbereich, u.a. auch die sog. Transformationsprojekte: »Kulturunternehmen mit Sitz in der Schweiz können für Projekte, welche die strukturelle Neuausrichtung oder die Publikumsgewinnung zum Gegenstand haben, bei den Kantonen dafür Finanzhilfen beantragen. Bitte beachten Sie: Die Finanzhilfen decken höchstens 80 Prozent der Kosten eines Projekts. Sie betragen maximal 300 000 Franken pro Kulturunternehmen.« (vgl. https://www.bak.admin.ch/bak/de/home/themen/covid19/massnahmen-covid19/kulturelle-unternehmen.html, letzter Zugriff 26.01.2021) Transformationsprojekte umfassen zwei Kategorien von Vorhaben: Zum einen sind Vorhaben förderfähig, die eine strukturelle Neuausrichtung des Kulturunternehmens zum Gegenstand haben. Damit sind Vorhaben wie organisatorische Verschlankungen, Kooperationen verschiedener Kulturunternehmen oder Zusammenschlüsse (Fusionen) gemeint. Zum anderen können Projekte unterstützt werden, welche die Wiedergewinnung von Publika oder die Erschließung neuer Publikumssegmente bezwecken. Die Kantone haben bei der Auswahl der Projekte respektive der Beurteilung der Kriterien nach Artikel 8 einen großen Ermessensspielraum.

[2] Der Begriff »Freischaffende*r« ist in der Schweiz seit langem Gegenstand politischer Diskussionen rund um die Frage der sozialen Absicherung von Kunstschaffenden. Dies hat damit zu tun, dass die freischaffenden Berufsbilder jenseits des eindeutigen, offiziell anerkannten Selbständigen-Status oft nicht klar definiert bzw. erfasst sind und dementsprechend auch nicht anspruchsberechtigt im Zusammenhang mit sozialen Leistungen, Arbeitslosenversicherung. In Diskussionen wird oft auf den Status der Intermittence in Frankreich oder auf die Künstlersozialkasse Bezug genommen. Im Covid-19-Gesetz gilt folgendes: Unter den Begriff der Kulturschaffenden fallen alle Personen, die hauptberuflich im Kulturbereich tätig sind. Dazu zählt insbesondere auch technisches Personal (Ton, Beleuchtung usw.). Nicht erforderlich ist eine ausschließlich selbständige Tätigkeit. Erfasst sind auch Kulturschaffende, die eine Kombination aus selbständiger und angestellter Tätigkeit ausüben. Um den zahlreichen atypischen Arbeitsverhältnissen im Kulturbereich Rechnung zu tragen, können auch Kulturschaffende mit befristeten Anstellungen eine Nothilfe erhalten. Die Definition der hauptberuflichen Tätigkeit stützt sich auf Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 der Kulturförderverordnung (KFV; SR 442.11) ab. Hauptberuflich im Kulturbereich tätig sind damit Kulturschaffende, die mit ihrer künstlerischen Tätigkeit mindestens die Hälfte ihres Lebensunterhaltes finanzieren oder mindestens die Hälfte der Normalarbeitszeit für die künstlerische Tätigkeit einsetzen. Maßgebend sind dabei auch künstlerische Tätigkeiten (selbständig erwerbend oder angestellt) außerhalb des Kunstsektors gemäß vorliegender Definition (z.B. Tanzlehrerin an einer Tanzschule). Das Vorliegen einer hauptberuflichen Tätigkeit ist im Einzelfall gestützt auf die durch die Kulturschaffenden beizubringenden Unterlagen zu beurteilen (z.B. Steuerabrechnungen, Liste von Engagements, Ausstellungen usw.).

Was mache ich eigentlich hier?
Eine Rechtfertigung

27. Januar 2021

Mein Schriftstellerinnendasein in diesem deutschen Literaturbetrieb ist so unwahrscheinlich, dass ich immer wieder meinen Werdegang, diese unmögliche Strecke, gedanklich zurücklaufe. Die Vergangenheit ist eine Abfolge der mir bekannten Schritte, in der Gegenwart stehe ich und bekomme manchmal keine Luft, wenn ich an die Zukunft denke: Kann ich diesen Beruf weiterhin in Würde ausüben? Kann ich mir den Luxus erlauben, vom Schreiben zu leben?

Ich denke an den Satz von Guy Debord: »Paris war eine so schöne Stadt, daß viele [Künstler*innen] lieber hier arm sein wollten als anderswo reich.«

Ich denke: Guy Debord musste in seinem Leben nie hungrig ins Bett gehen.
Ich denke: Selbstgewählte Armut ist keine Armut.

Ein ehemaliger Mitstipendiat der Heinrich Böll Stiftung in Berlin fragte oder schlug vor – ich weiß es nicht so genau – ich sollte nach Berlin ziehen und so wie er Teil der Bohème werden, weil er um meine schriftstellerischen Ambitionen wusste. Ich wusste damals nicht, wo ich mit meiner Erklärung anfangen sollte. Heute weiß ich: Sein Vater ist Chirurg.

Wer begibt sich freiwillig in existenzielle Not, wenn er damit aufgewachsen ist, wenn er davor geflüchtet ist?

Eigentlich bist du Lehrerin, fragt man, oder sagt man, und dann weiß ich, ich muss erklären, warum ich Lehramt studiert habe: Kompromiss zwischen mir und meinen Eltern, aber das ist nur die Hälfte von dem, was wahr ist, denn der Kompromiss ist auch zwischen mir (heute) und mir (damals), meiner Angst vor Armut und meinem Wunsch zu schreiben.

In der achten Klasse lesen wir Sonia Levitins Buch Die Tote im Wald – in der Autor*innenvita steht, dass sie Lehrerin und Schriftstellerin ist.

Meine Klassenlehrerin weiß, dass ich Schriftstellerin werden möchte; meine Eltern wissen, dass ich schreibe, aber beide Parteien wissen auch: Ich werde nicht davon leben, ich muss mir etwas Anständiges suchen – das sind die Worte meiner Lehrerin; das muss ich mit meinen Eltern erst gar nicht besprechen. Levitins Doppelberuf suggeriert, ich könnte als Lehrerin nebenbei schreiben.

Wer sollte wo lernen?, werde ich gefragt. Ich finde es unangenehm darauf zu antworten, weil meine Antwort nur vermessen sein kann. Wie könnte ich darüber urteilen, wer wo lernen sollte, selbst wenn ich dies – im Rahmen dieses Essays – theoretisch könnte, als Gedankenexperiment. Die Implikation dieser Frage ist wahrscheinlich, dass ich als migrantisches Arbeiterkind schreiben soll: Wir brauchen mehr migrantische Arbeiterkinder im Kulturbetrieb, weil der Kulturbetrieb in Deutschland eine homogene Masse ist – zumindest kann ich das dem Literaturbetrieb attestieren. (Der Literaturbetrieb, auch im Jahr 2020, ist immer noch elitär, weiß, bürgerlich und sehr geschlossen, obwohl aufgeschlossener als zum Beispiel die Kunstszene, aber deutlich biederer als die Musikszene).

Wer sollte wo lernen?
Ich habe keine Antwort, aber ein paar Gedanken.

Ich denke: Zumindest gibt es einen sehr schmalen Korridor für solche Schriftstellerinnen wie mich, die kein Kreatives Schreiben studiert haben und ohne Netzwerk, trotzdem in der deutschen Gegenwartsliteratur einen Platz zugewiesen (!) bekommen. (Die Besprechungen meiner Bücher, die Interviews und Lesungen, die Anfragen lassen mich zu dem Schluss kommen: Ich bin eine Vertreterin einer Art Nischenliteratur, aber nicht der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, und jede weitere Erwähnung und Auseinandersetzung damit führt nur zu weiteren Verstrickungen.)

Wie kommt es, dass der Literaturbetrieb in Deutschland aus einer homogenen Masse besteht?, könnte eine selbstkritische Frage sein, die man sich stellte, würde einem die Homogenität auffallen. Auf der Bühne scheint zumindest seit den letzten Jahren die Homogenität aufgebrochen worden zu sein, aber hinter der Bühne werkeln immer noch ähnliche Akteure wie vor zwanzig und dreißig Jahren.

Ich denke: Würde man den Kanon abschaffen, würde man Goethe und Schiller und Büchner für eine Dekade aus dem Gedächtnis löschen, würde auch der Betrieb aufhören, nach der Stimme einer Generation zu suchen, endlich aufhören junge Männer, die nichts zu sagen haben, diese jungen Bohémien, diese Chirurgensöhne, zu feiern. Ich kenne die Gefühls- und Gedankenwelt dieser jungen Männer, in wie vielen Variationen soll ich das noch lesen? Keiner wird den nächsten Werther schreiben, er wurde schon geschrieben.

Wenn ich auf meine eigene Schreibbiographie schaue, sehe ich nur Frauen, die dafür gesorgt haben, dass ich schreibe, angefangen bei meiner Mutter bis Sandra Cisneros, dann Toni Morrison und Zadie Smith bis hin zu Shida Bazyar.

Ich weiß: Diversität als Marketingtool ist zu verachten, weil es die reelle Struktur nicht verändert, sondern kosmetische Veränderung ist.

Senthuran schreibt mir: Das Austauschen des Personals in einem Text, und der Marker, ist keine neue Literatur sondern nur Repräsentationspolitik. Ich like seine Nachricht. Wenn statt Kaffee Chai getrunken wird, wenn statt Alex Ahmet da steht, wenn Alltagsrassismus den Text schmückt, aber der Text in seiner Grundstruktur sich kaum von anderen Texten unterscheidet, stellt sich die Frage: Warum schreiben? Stell dir vor, du schreibst nicht für ein deutsches Publikum, sondern du schreibst. Wie würdest du schreiben? Stell dir vor, niemand wird deinen Text lesen, stell dir vor, du bist die einzige Person, die den Text lesen würde, würdest du immer noch deinen Text dir selbst erklären? Ich habe mich dessen auch schuldig gemacht:

In meinem Roman Beschreibung einer Krabbenwanderung erzählt die Protagonistin, im Irak würde man wegen der erdrückenden Sommernächte auf dem Dach schlafen, und man könnte auf den Dächern schlafen, weil diese flach sind.

Als ich das geschrieben habe, schrieb ich für ein deutsches Publikum, das möglicherweise (!) nicht weiß, dass Menschen im Irak auf dem Dach schlafen und dies auch architektonisch möglich ist. In dem Moment habe ich verraten, für wen ich schreibe, zu wem ich spreche; nämlich zu einem ausschließlich eurozentrischen Publikum, das sich nicht die Mühe macht, herauszufinden, wie die Architektur in Westasien ist.

Ich sehe das bei vielen Kolleg*innen, die etwas erklären, was sie nicht erklären müssten, wenn sie zu mir sprechen würden. Unbewusst schreiben wir also für ein Publikum, das uns nicht verstehen wird. Die Rezeption der Arbeit von migrantischen Schriftsteller*innen entlarvt, wie diese Literatur verstanden wird. (Und auch dieser Essay richtet sich größtenteils an ein ignorantes Publikum.)

Es ist völlig egal, worüber ich schreibe, das deutsche Publikum wird immer darin eine Zerrissenheit zwischen den Kulturen lesen – die Abwesenheit ›deutscher‹ Figuren, der deutschen Geschichte und Diskurse ist eine sehr bewusste Entscheidung von mir als Schriftstellerin, es ist keine politische Entscheidung, sondern eine dramaturgische, für die Themen, die ich behandle (nicht Integration, nicht Rassismus, nicht Ankommen, nicht Fremdgefühle) brauche ich schlicht und ergreifend nichts spezifisch Deutsches außer Deutsch.

Eine Rezensentin schreibt über mein zweites Buch und über mich, ich müsste als Schriftstellerin noch beweisen (sic!), dass ich über andere Figuren und Themen schreiben kann als über junge Migrantinnen, die zwischen den Kulturen und Geschlechterstereotypen ihre Identität suchen.

Das, worüber ich schreibe, wird nicht gesehen, weil migrantische Figuren ohne den Kulturkonflikt nicht existieren können. Die Abwesenheit des ›Deutschen‹ scheint das Publikum derartig zu stören, dass sie diese Abwesenheit als Konflikt lesen, als eine Zerrissenheit zwischen den Kulturen.

Eine Redakteurin verrät mir, ihre Kollegin wollte mein zweites Buch nicht lesen, weil es wieder um ›Kurden‹ geht.

Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke schreibt, der Wissenschaftsbetrieb vernichtet die Wissenschaft, ich denke: Auch der Literaturbetrieb vernichtet die Literatur.

Angefangen bei den berühmten Ärztekindern in Schreibschulen (s. Kessler-Debatte) bis hin zu einem sehr primitiven Verständnis von Literatur als Identitätspolitik in der Rezeption.

Ich schicke die Rezension meiner befreundeten Kollegin Rasha, sie antwortet mir lang und ausführlich – erzählt von ihren Erfahrungen und zwischen all ihren Sätzen stechen zwei besonders hervor:
Du schreibst, was du schreiben musst.
Es ist zu viel Arbeit, um Kompromisse einzugehen.

Wenn es einen Grund zum Schreiben gibt, dann um eine neue Sprache, einen neuen Ausdruck für das zu finden, was da ist oder was nicht da ist. Toni Morrison schreibt, Literatur sei eine »alternative language« als die Sprache, die uns tagtäglich umgibt. Wir müssen in die Lage versetzt werden, in einer anderen Sprache zu schreiben, in die Grammatik einzudringen, nicht der Alltagssprache zu verfallen, die Sprache, wie sie gesprochen wird zu brechen, in den Spalt zu schauen und das Gebrochene zu entdecken, gebrochen Deutsch zu schreiben.

Mittlerweile haben auch die Verlage verstanden, dass man nicht Kreatives Schreiben studiert haben muss, um schreiben zu können, aber es hilft für ein zukünftiges Netzwerk, es hilft auch, um diesen Betrieb zu verstehen und dann lese ich einen Tweet von dem Lektor Florian Kessler, der sich als Gatekeeper bezeichnet, weil er einen Debütroman über Obdachlosigkeit als »zu intrinsisch und umfangreich und zu kompliziert« empfand und deswegen ablehnte. Intrinsisch bedeutet hier: Es bedient nicht meine Vorstellung davon, was Obdachlosigkeit ist oder auch meine Vorstellung davon, was die Kaufkräfte sich unter Obdachlosigkeit vorstellen: Es bedient nicht meine Vorurteile.

Wie viele Schriftsteller*innen wurden und werden verhindert, weil ihre Arbeit als ›intrinsisch‹ beurteilt wird? Wahrscheinlich so viele wie es Chirurgensöhne in den Verlagen gibt.

We hunger for a way to articulate who we are and what we mean.
Toni Morrison, wieder.

Ich denke an die kurdische Künstlerin Zehra Doğan, die im türkischen Gefängnis mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, malte. Kunst war für sie kein Luxus, sondern ihre Rettung, vielleicht sogar Rettung davor wahnsinnig zu werden, ganz sicher.

Kunst ist eine Notwendigkeit, für diejenigen, die es erschaffen. Kunst ist Ausdruck, keine Pose. Das Beispiel soll nicht zu dem Vorurteil beitragen, leidende Künstler*innen wären die besseren Künstler*innen. Trotz der widrigsten Umstände entsteht Kunst, aber möchte das »Land der Dichter und Denker« wirklich die widrigsten Umstände als Arbeitsalltag für Künstler*innen akzeptieren?

Ich weiß: Kunst ist kein Luxus, den ich mir erlaube, sondern eine Notwendigkeit; Geld sollte nicht darüber bestimmen, was ich mache und doch entscheidet Geld über alles, und dies zu ignorieren, bedeutet die Realität zu leugnen.

Autorin:

Foto: Havin Al-Sindy

Karosh Taha wurde 1987 in Zaxo geboren. Seit 1997 lebt sie im Ruhrgebiet.
Ihr Debütroman ›Beschreibung einer Krabbenwanderung‹ erschien 2018 bei DuMont. Sie wurde mit zahlreichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet, darunter der Förderpreis des Landes NRW, das Stipendium Deutscher Literaturfonds und das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium 2019.

Über den eigenen Status hinaus. Produktive Irrelevanzerfahrungen

18. Januar 2021

Wann immer Kürzungen oder Umschichtungen in den Kulturetats von Städten und Gemeinden, auf der Landes- oder Bundesebene anstehen, beschwört jemand das Gespenst der gesellschaftlichen Verödung, die durch eine Verknappung kultureller Angebote oder gar der Schließung kultureller Institutionen entstehe. Das verrückte Jahr 2020 hat uns ermöglicht, so eine Situation zu erleben – und das ganz ohne Kürzungen in den Kulturetats. Oder wahrscheinlich: vor den Kürzungen in den Kulturetats.

Wie sich eine Gesellschaft anfühlt, in der es keine klassischen Kulturveranstaltungen mehr gibt, kein Theater, Oper, Ballett und Konzert, in der Museen geschlossen sind und Vorträge nicht stattfinden können, erleben wir nun seit mehreren Monaten, und ziemlich sicher noch weit bis in den Sommer 2021. Für mich und viele andere kultur-affine Menschen ist eine der interessantesten Erfahrungen im Shutdown kultureller Präsenzveranstaltungen, wie gut man mit ihm zurechtkommt – wenn man einen funktionierenden Internetzugang hat. Die Rhetorik von der Kultur als »geistigem Lebensmittel« oder »geistiger Tankstelle«, mit der sich die Staatsministerin für Kultur und Medien und andere Interessenvertreter*innen des Kulturbetriebs zu Wort meldeten, stand und steht im deutlichen Gegensatz zur eigenen persönlichen Erfahrung in der Pandemie.

Die Reichweite der Relevanz-Rhetoriken

Während ich der Relevanz-Rhetorik von Grütters et al. etwas irritiert gegenüberstehe, prallen an den Verantwortlichen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene die Appelle und Hinweise auf den bedeutsamen Beitrag, den Kunst und Kultur in dieser tiefgreifenden Krisensituation leisten könne, weitgehend ab. Der ein oder andere Kulturmensch schaffte es zwar in eine Talkshow, wo er/sie an den Hygiene- und Kontaktreduzierungsvorschriften Kritik üben durfte. Im Krisenmanagement oder in zentralen Entscheidungsprozessen werden diese Menschen aber offensichtlich nicht konsultiert. Die großen Worte von der »Systemrelevanz der Kultur«, von »Kultur als Ort der gesellschaftlichen Auseinandersetzung«, erweisen sich in der Krise zwar immer noch als wirkmächtig genug, um finanzielle Mittel zu aktivieren – immerhin! Sie klingen aber im Angesicht der sich bereits im Oktober dynamisch steigenden Infektions- und Sterbezahlen und der intensiven Diskussion darüber, wie sie wieder eingedämmt werden können, für viele auch nach Selbstüberschätzung.

Natürlich ist es unfair, Theateraufführungen mit dem zu vergleichen, was auf Intensivstationen getan und geleistet wird. In die Situation gebracht haben sich aber prominente Vertreter*innen des Kulturbetriebs selbst: Wer sich in einer lebensbedrohlichen Pandemie als »systemrelevant « behauptet, manövriert sich selbst in die paradoxe Situation, existenzielle Bedeutung für die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft ausgerechnet in dem Moment zu behaupten, in dem deutlich wird, wie wenig man für den Großteil der Gesellschaft tatsächlich bedeutet.

Denn es geht ohne Theater, Oper, Ballett und Konzert. Es geht sogar ohne öffentliche Bibliotheken – deren Schließung sehr viel mehr Menschen betrifft, die kaum Zugang zu mit Eintrittsgeld bewährtem Kulturkonsum haben. Massenhafter Protest ist ausgeblieben – und offensichtlich waren sich die Entscheider*innen dessen sehr sicher, so resolut wie man sich im Oktober für einen Shutdown der auf Präsenz ausgerichteten Kultur-Institutionen entschloss.

Tobias J. Knoblich interpretiert diese Nonchalance der Politik in seinem Essay »Kultur ist mehr als Freizeitgestaltung, Vergnügen und Unterhaltung« nicht nur als Hinweis auf den tatsächlich untergeordneten politischen Stellenwert von Kultur, sondern auch als Indiz für die kommenden Debatten um die post-pandemische Neuordnung von Kommunal-, Landes- und Bundeshaushalten – hier würden die Kulturetats zu den ersten Opfern gehören, – und prognostiziert, dass es wohl nicht gelingen werde, mittels der seit Jahren eingespielten kulturpolitischen Rhetorik der eigenen gesellschaftlichen Relevanz massive Kürzungen zu verhindern. Ich halte diese Voraussage für zutreffend: Zwar hat die Relevanz-Argumentation 2020 zwar noch einmal ausgereicht um erhebliche Einmal-Beträge beim Bund frei zu machen, aber spätestens ab 2022, wenn es nach der Bundestagswahl um strukturelle Entscheidungen in Kommunen und auf Länderebene geht, wird die Rhetorik der gesellschaftlichen Bedeutsamkeit der Kultur nicht weit tragen. Schließlich haben wir gerade erfahren, wie wackelig dafür die Faktenbasis ist.

Man wird nicht dümmer ohne Theater

Heavy User des prä-pandemischen kulturellen Präsenz-Angebotes wie ich haben seit dem 19. April 2020 die Erfahrung gemacht, die der größere Teil der Gesellschaft schon immer hat:

Man wird nicht dümmer ohne Theater, Oper, Konzert oder Museum.
Man wird auch kein schlechterer Mensch.
Man verpasst auch keine wichtigen gesellschaftlichen Debatten.
Man langweilt sich noch nicht einmal.

Digitale Angebote sind für die Bedürfnisse, die ich (und wahrscheinlich nicht nur ich) mit dem Besuch von Museen, Theater und Vorträgen befriedige, nicht nur ein guter Ersatz. Stattdessen ermöglichen sie oft ganz eigene Formen von Konsum und Teilhabe, mit denen viele klassische Präsenz-Formate nicht mithalten können. Zeitsouveränität ist nur eines davon. Wichtiger, weil dem Anspruch von Kultur an sich selbst viel näher: Digitale Formate haben eine deutlich niedrigere Zutrittsschwelle – und hier spreche ich nicht primär über Eintrittsgelder.

Es sich auf dem Sofa oder am Küchentisch mit Laptop oder Tablet gemütlich zu machen und sich eines von Igor Levits Pandemie-Mini-Recitals anzuhören oder gleich eine komplette Opernaufführung, die sich in mystischer Weise plötzlich auf den Webseiten oder YouTube-Kanälen mancher Häuser oder Musik-Labels finden, ist eine sehr andere, (und für viele Menschen wahrscheinlich auch sehr viel positivere) Erfahrung, als der Besuch eines Konzertsaales oder Opernhauses, bei dem bereits Architektur und Ambiente der Location verdeutlichen, welche Rezeptionshaltung und welcher Habitus hier gefordert werden. Das lässt sich selbst für Museen festhalten, die tendenziell bei der Öffnung gegenüber nicht-bildungsbürgerlichen Zielgruppen schon viel weiter sind als die performativen Kulturinstitutionen.

Dass Einübung, Affirmation und Privilegierung bestimmter Habitusformen (und damit Stabilisierung und Durchsetzung gesellschaftlicher Hierarchien gegen andere soziale Gruppen und Praxen) dem Präsenz-Kulturbetrieb leider nicht nur äußerlich sind und sich durch ein paar Diversity-Maßnahmen in den Inhalten begradigen ließen, zeigt sich in der Pandemie erstaunlich unverstellt: Keine der Stellungnahmen oder Kritiken am Shutdown der Präsenz-Kultur kam ohne den Hinweis aus, dass man doch schließlich etwas ganz anderes sei als ein Friseurbetrieb oder Bordelle. Diese Spitze ist nicht überall gut angekommen.

Überparteiliche Finanzkritik

Die Debatten darüber, für welche Art von Kultur in Zukunft überhaupt staatliche Mittel budgetiert werden sollen, werden nicht nur vor dem Hintergrund angeblich beschränkter Finanzmittel geführt werden. Sie werden sich auch in einem diskursiven politischen Raum abspielen, in dem die Besonderheit und Förderungswürdigkeit von Kunst und Kultur in ihren traditionellen Formen grundsätzlich in Frage gestellt werden kann – und dass nicht nur aus dem kulturellen Feld selbst heraus, durch die jeweiligen Avantgarden.

Schon vor der Pandemie sind große Kulturprojekte wie die Sanierung oder der Neubau von Opern- und Konzerthäusern (Bonn, Köln, Stuttgart) ins argumentative Schlingern gekommen, als aus bürgerlichen Kreisen und quer zum bekannten politischen Spektrum Stimmen laut wurden, dass man hier kein ausgeglichenes Kosten-/Nutzenverhältnis erkennen könne. Beispielsweise konnten sich in der Debatte um die Totalsanierung der Stuttgarter Oper schon vor der Covid19-Krise Menschen aus allen im Gemeinderat und in Landtag vertretenen Parteien hinter dem Argument versammeln, dass hier das Unterhaltungsbedürfnis einer sowieso schon privilegierten kleinen gesellschaftlichen Gruppe überproportional gegenüber anderen Gruppen gefördert wird.

Mit einigem Erfolg: Nicht nur haben sie den verantwortlichen Kultur- und Finanzpolitiker*innen überhaupt einmal eine Debatte über Sinn, Zweck und Umfang der Sanierungen aufgezwungen, sondern auch die Veröffentlichung einer einigermaßen realistischen Finanzplanung erreicht. Nachdem die Hausnummer der Sanierung all-inclusive auf eine Milliarde Euro beziffert wurde, steht die Debatte auf ganz anderen Füßen. Man merkt den Vertreter*innen aus Kultur und Kulturpolitik an, wie schwer es ihnen für diese Summe mit neun Nullen fällt, den gesamtgesellschaftlich bildenden und erhebenden Besuch einer Verdi-Oper glaubhaft zu machen, wenn für dieselbe Summe jede Schule Stuttgarts mit einer üppigen Bibliothek und alle Schüler*innen mit Premium-Laptops plus Internet Flatrate ausgestattet werden könnte.

2021, wenn die Debatte nach überstandener Pandemie weitergehen wird, steht neben dieser Milliarde auch noch die Zeit im Raum, die alle ohne Oper, Ballett und Konzerte überstanden haben. Welche Folgen dies zum Beispiel für die Abo-Abschlüsse haben wird, bleibt spannend. Vielleicht waren vor allem kulturtouristisch beworbene Großprojekte wie Elbphilharmonie und Humboldtforum die letzten ihrer Art.

Mangelnde Transformationsbereitschaft

Man kann die Stuttgarter Opernsanierungsdiskussion, die bereits eine Verfahrensänderung erreichte, beispielhaft als positives Zeichen für eine lebendige, wenn auch stellenweise ruppig geführte kulturpolitische Debatte verstehen, die vor allem auf kommunaler Ebene geführt wird, und quasi ein Vorschein gibt auf die zukünftigen Auseinandersetzungen über Erhalt und Erneuerung der Kulturlandschaft, die Tobias J. Knoblich im Start-Essay dieser Reihe bereits fordert und anmahnt. Pessimistisch stimmt mich aber die Sprachlosigkeit der Vertreter*innen des Kulturbetriebs, die zu diesem Gespräch bislang kaum mehr als unhinterfragte Besonderheits-Rhetorik von (traditioneller) Kultur beitragen konnten.

Die Erfahrungen, die ich hier in Stuttgart bisher in der Debatte um die Sanierung der Oper gemacht habe, sprechen eher gegen die Transformationsfähigkeit und -bereitschaft des kulturellen Feldes. Zumal sie nicht die einzigen sind, die einen skeptisch werden lassen. So kann man über die Ignoranz und die Sturheit nur erstaunt sein, die ausgerechnet Vertreter*innen des bundesdeutschen Kultur-Leuchtturm-Projektes Humboldt Forum in der Debatte um den angemessenen Umgang mit kulturellen Artefakten an den Tag gelegt haben, die durch kolonialistische Praktiken in die Berliner Sammlungen gelangt sind. Ein absoluter Tiefpunkt war ein Interview im Deutschlandfunk zum Thema, in dem Horst Bredekamp, einer der Gründungsintendanten des Humboldt Forums, bestritt, dass es überhaupt deutschen Kolonialismus gegeben habe. Fairerweise ist zu sagen, dass es gerade in diesem Feld aber auch positive Gegenbeispiele gibt: So haben das Land Baden-Württemberg und das Linden-Museum 2019 die Bibel und die Peitsche Hendrik Witboois an dessen Familie zurückgegeben. Witbooi war einer der Anführer des Aufstandes gegen die deutschen Kolonialherren im heutigen Namibia, die es laut Bredekamp gar nicht gab. Bibel und Peitsche wurden 1902 an das Stuttgarter Museum gegeben. Sie waren beim Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama von deutschen Soldaten erbeutet worden.

Das Linden-Museum und Landespolitiker*innen geben hier ein gutes Beispiel in Sachen Offenheit für Veränderungen und zeigen ein neues Verständnis für museale Artefakte und ihrer kulturellen Bedeutung. Trotzdem befürchte ich, dass sich die Tendenz der etablierten, auskömmlich finanzierten Institutionen eher verstärkt, die von außen angemahnten Veränderungsprozesse zu ignorieren. Dass sie sich Forderungen nach mehr Diversität bei den präsentierten Inhalten und den Arten der Präsentation, aber vor allem beim Fach- und Führungspersonal weiterhin verweigern und meinen, sich für diese Verweigerungshaltung auf die grundgesetzlich garantierte Autonomie und Freiheit der Kunst berufen zu können. Die Virtuosität, mit der die Gründungsintendanten des Humboldt Forums die sowieso hohe institutionelle Trägheit behördlicher Apparate wie sie Kulturbürokratien sind, genutzt haben, um die Debatte über eine Neukonzeption des Projektes museumspraktisch im Sande verlaufen zu lassen, ist für mich so ein Zeichen. Genauso wie der defensive Ton, der gerne in den Newslettern des Deutschen Kulturrates angeschlagen wird, wenn man sich – natürlich ganz selten offen aggressiv – mit Forderungen nach mehr Diversität oder nach deutlicher Positionierung kultureller Institutionen gegen diskriminierende Politikentwürfe auseinandersetzt. Oder dass Kulturstaatsministerin Grütters zu Fragen einer Kultur der Digitalität wenig mehr einfällt als die Klage über die Verrohung des Diskurses durch soziale Medien. Ganz praktisch und strukturbildend zeigt sich diese defensive Haltung gegenüber den Transformationen, die ja bereits ohne Budgetierung und Segen der obersten staatlichen Kulturrepräsentantin ablaufen, dann in den überschaubaren Beträgen, die Grütters in ihrem Etat 2021 für die Digitalisierung und den Aufbau digitaler Strukturen im Kulturbereich vorsieht: circa 22 Millionen Euro.

Funktionale Spaltung des Kulturbetriebs

Hier gäbe es also viele Ansatzpunkte zur Transformation. Stattdessen werden die Bereiche im kulturellen Feld, die bereits aktuell unter deutlich prekäreren Finanzierungs- und Arbeitsbedingungen, programmatisch und personell diverser und inklusiver zu arbeiten versuchen, noch stärker unter Druck geraten. Sie haben viel weniger Ressourcen und entsprechende Netzwerke, sind viel einfacher angreifbar – und vor allem sitzen sie nicht in einer gebauten Infrastruktur, die man nicht so einfach leer stehen lassen oder umwidmen kann. Gerade durch die institutionelle Kulturförderung mit festen Budgets für etablierte Häuser auf der einen Seite und einem großen, tendenziell intransparentem Projektmittelwesen auf der anderen, hat sich die funktionale Spaltung des Kulturbetriebs mittlerweile als reale bürokratische, finanzielle und bauliche Infrastruktur materialisiert: (relativ) gut finanzierte Traditionsbetriebe, die sich am Kunst- und Kulturbegriff des letzten Jahrhunderts festhalten, und flexible, von der Hand in den Mund lebende Innovationslabore, die sich ständig neu erfinden müssen, weil die Förderperiode beendet ist und die Gelder einen neuen thematischen Schwerpunkt bekommen.

Damit sich diese tief in das kulturelle Feld, seine Inhalte und sein Selbstverständnis versenkte Struktur nicht durch massiven ökonomischen Druck verstärkt, bräuchte es Netzwerke und Diskussionsräume, in denen sich Vertreter*innen aus beiden Sphären gleichberechtigt begegnen können. Gleichberechtigt hieße hier vor allem: In denen sich auch Opernintendanten und Museumsdirektorinnen der Frage nach der Existenzberechtigung ihrer Häuser und ihrer Arbeit stellen lassen, ohne dass das professionelle Konsequenzen für die Fragenden hat. (Die Intransparenz der tatsächlichen ökonomischen und finanziellen Verhältnisse innerhalb des Kulturbetriebs und die daraus folgenden Abhängigkeiten sind der große Gorilla im Raum dieser ganzen Debatte.) Für solche offenen Räume sehe ich, vor allem oberhalb der kommunalen Ebene, bisher wenige Anzeichen. Aber wer weiß: Um die Debatte herum kommt der Kulturbetrieb sowieso nicht. Und vielleicht eröffnet die schockhafte Erfahrung der eigenen gesellschaftlichen Irrelevanz doch Räume, in denen offener über die Funktionen von Kultur in einer Gesellschaft gedacht werden kann – und nicht nur über den Erhalt des eigenen Status.

Autorin

Fotoquelle: www.mag.de

Dr. Christina Dongowski

Geboren 1969. Hat an der JLU Gießen Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie studiert. Arbeitet als Ghostwriterin, PR-Texterin, Übersetzerin und Autorin und ist ehrenamtlich im Kulturbereich engagiert. Sie lebt in Stuttgart und im Internet.

Machen wir das Richtige richtig?

15. Januar 2021

Gedanken zur neuen Relevanz der kulturellen Infrastruktur und der Aufgabe der Kulturpolitik

Was heißt eigentlich Relevanz? Wenn man es dem Englischen entlehnt, sprechen wir von »Bedeutung«. Wenn wir uns am lateinischen Original orientieren, meint das Wort, etwas sei »schlüssig« oder »richtig«. Die Rede von der neuen Relevanz der Kultur bedeutet also in diesem Sinne, wir diskutieren die (neue) Bedeutung von Kultur oder aber wir fragen nach deren Schlüssigkeit oder der Richtigkeit. Folgen wir dem allgemeinen Verständnis (auch in Kultureinrichtungen), dann geht die Diskussion um die Klärung der »Bedeutung«. Wobei wir an dieser Stelle schon mittendrin in einem semantischen Problem sind. Denn die Bedeutung von Kultur steht außer Frage. Indem Kultur die Beschaffenheit unserer Gesellschaft beschreibt, die ihre Selbstvergewisserung in Symbolen und Formen, in Konventionen und Reflexionen, in der Speicherung und Vermittlung betreibt, hat sie eine grundsätzliche Bedeutung per se, die man zwar – und hier wird es strittig – mehr oder weniger sehen, betonen und fördern, gleichwohl aber nicht negieren kann. Dies umso mehr, da »die Kultur« in der Intention der neuen Relevanz wohl gleichbedeutend ist mit der kulturellen Infrastruktur. Die Rede der Relevanz im Verständnis von »Bedeutung« geht ja davon aus, dass es eine neue Art der Wahrnehmung und in deren Gefolge eine neue Art von Umsetzung gesteigerter Aufmerksamkeit durch Erhöhung der Förderung und der Beteiligung bedarf. Wenn man indes von »Schlüssigkeit« oder »Richtigkeit« spricht, dann müssen wir fragen, inwiefern die eben beschriebene Kultur noch zu den gesellschaftlichen Entwicklungen passt oder ob wir es nicht vielmehr mit unzähligen Friktionen zu tun haben, mit Leerstellen und offenkundigen Divergenzen in der Debatte und in der Realität.

Die Frage nach der Schlüssigkeit der kulturellen Infrastruktur ist eng verwoben mit den Stichwörtern »Effizienz« und »Effektivität« Bevor hier ein erster Aufschrei erfolgt: Es geht nicht um einen allzu ökonomisierten Blick auf die Einrichtungen, wiewohl doch die Entwicklung des Kulturmanagements gerade in den vergangenen zwanzig Jahren gezeigt hat, wie wichtig ein wirtschaftlicher Blick sein kann. Trotzdem soll hier keiner Unterwerfung der kulturellen Infrastruktur allein unter finanziellen Kriterien das Wort geredet werden. Die Kulturelle Infrastruktur stellt nämlich zweifelsohne einen Public Value dar, der sich niemals komplett refinanzieren wird. Aber wo wir gerade bei der Wortbedeutung sind, können wir die Begriffe Effektivität und Effizienz näher betrachten. Effektivität übersetzt heißt: »Machen wir das Richtige?«Effizienz kann man auch als »Machen wir das Richtige richtig?« formulieren. Womit wir nun wieder bei dem Punkt der Schlüssigkeit sind, der uns vielleicht näher dazu bringt zu formulieren, was eine neue Relevanz der Kultur ausmacht.

Die Rede von der kulturellen Infrastruktur – ein Terminus, der zurecht an Daseinsvorsorge und die dafür notwendigen Systeme erinnert – insinuiert, wir hätten es mit einem homogenen Gebilde zu tun. Das ist mitnichten der Fall. Die kulturelle Infrastruktur umfasst – je nach Lesart oder Interpretation – Theater, Museen, soziokulturelle Zentren, Bibliotheken, Archive, Volkshochschulen, Musikschulen und vieles mehr. Manche Institutionen sind gesetzlich geregelt (z.B. Bibliotheken oder Archive), manche basieren auf einem Markt (z.B. Verlage, Clubs). Die Frage nach der Relevanz im Sinne der Bedeutung stellt sich für diese Einrichtungen genauso unterschiedlich dar wie im Verständnis von Schlüssigkeit. Eigen ist all‘ diesen Einrichtungen nur, dass sie gemeinsam die Beschaffenheit unserer Kultur spiegeln, dies jedoch in unterschiedlichen Brechungswinkeln und, je nach Situation und Zeitläufen, in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Modellen und Konzepten.

Von daher wollen wir uns dem Thema zunächst nicht – wie so häufig – vonseiten der Institutionen der kulturellen Infrastruktur widmen, sondern aus gesellschaftlicher Perspektive. Denn so besteht die Möglichkeit, eine gute Verbindung aufzuzeigen. Überhaupt ist es sinnvoll für Kultureinrichtungen, die häufig vorherrschende Binnenperspektive zu verlassen und einen gesamtgesellschaftlichen Blickwinkel einzunehmen. Die Aufregung über die Beschlüsse des Bundes und der Länder, Kultureinrichtungen im Rahmen der Corona-Bekämpfung im Herbst 2020 als »Freizeit- und Veranstaltungsorte« zu subsumieren, war groß und kann geteilt werden. Verlässt man aber die institutionelle Blase, so ist es wohl im Alltag so, dass beispielsweise Theater, Volkshochschulen oder Museen von Teilen der Politik und Bevölkerung zunächst einmal wirklich (nur) als Freizeitangebote gesehen werden. Eine Differenzierung erfolgt häufig nicht. Die substanzielle Sicht hingegen entspricht der der Akteur*innen, die über die öffentliche Zuschreibung schnell in Larmoyanz verfallen könnten und sich abgewertet fühlen. Was heißt es aber, wenn diese öffentliche Zuschreibung besteht? Wenn es schwer ist, eine differenziertere Sicht zu vermitteln? Und wie müssen sich Kultureinrichtungen aufstellen, um hier nachsteuern zu können? Die Antworten beantworten auch die Frage nach der neuen Relevanz.

Nehmen wir also zunächst die gesellschaftliche Perspektive ein. Von vorherrschenden Megatrends ist häufiger die Rede. Sie variieren hier und da. Eine Schnittmenge besteht gewissermaßen in der digitalen Transformation der Gesellschaft, der fortschreitenden Globalisierung, der mit beidem verbundenen zunehmenden Beschleunigung und den daraus resultierenden Unsicherheiten. Während Bill Clinton noch mit dem Schlagwort It‘s the economy, stupid! in den Wahlkampf gehen konnte (und heutzutage analysiert wird, ob dieses Schlagwort noch stimmt – ob etwa Donald Trump aufgrund seiner äußerst liberalen Wirtschaftspolitik so viele Stimmen bekommen hat), muss man wohl konstatieren, dass der Satz abgewandelt werden muss. Nein, es ist nicht die Wirtschaft, die heute primär wahlentscheidend ist. It‘s the culture, stupid! muss es eigentlich heißen. Denn wir erleben einen – ja, so drastisch muss man es nennen – Kulturkampf, der eben nicht der von Samuel Huntington apostrophierte Clash of Culture ist (als Kampf unterschiedlicher Kulturen), sondern ein Kulturkampf innerhalb der Kultur, zwischen Kosmopoliten und »Endemiten«, zwischen neoliberalem und starkem Staat, zwischen denen, die alles regeln und verbieten wollen und denen, die alles erlauben, zwischen denen, die den Kapitalismus und das Wachstum ins Unendliche steigern wollen und denen, die den Kapitalismus am liebsten sofort abschaffen und das Wachstum stoppen wollen. Was uns zunehmend fehlt, ist die Mitte, verstanden als Ausprägung einer Gesellschaft, die über eine gesunde Balance von Eigenverantwortung und Solidarität verfügt; eine Gesellschaft, die Minderheiten wahrnimmt und demokratische Mehrheits­entscheidungen akzeptiert; eine Gesellschaft, die angesichts globaler Herausforderungen in einen vernünftigen Diskurs geht, eine Gesellschaft, die auch mit Kontingenzen und Unklarheiten zu leben vermag. Uns fehlt häufig das »Wir« und ein reflektierter Umgang mit dem »Nein«. Das ist eine gesellschaftliche Perspektive, wie sie derzeit treffend von Soziologen wie Nassehi oder Reckwitz analysiert wird – ohne deren Thesen hier im Einzelnen paraphrasieren und analysieren zu wollen.

Innerhalb dieser Gesellschaft agiert die kulturelle Infrastruktur. Das heißt, sie ist Teil derselben und die genannten Diskussionen schlagen auf sie durch. So muss sich zum Beispiel auch eine Kultureinrichtung der Frage der Nachhaltigkeit stellen, die nicht kongruent ist mit einem zunehmenden Wachstum, das einhergeht mit der Forderung nach immer mehr Mitteln. Andererseits: Unsere Wirtschaft ist noch dem Wachstumsmodell verhaftet und Kultureinrichtungen würden abgehängt, wenn sie auf Forderungen nach mehr staatlicher Zuwendung verzichten würden. Was also ist zu tun?

Was ist richtig?

Die Einrichtungen der kulturellen Infrastruktur unterliegen den gesellschaftlichen Entwicklungen. Sie sind zunächst einmal keine prägenden Akteure. Dadurch in eine defensive Position gedrängt, besteht entweder die Möglichkeit, sich zu unterwerfen, oder aber zu widerstehen. An diesem Punkt sind wir genau bei der Beantwortung der Frage angelangt, was das Schlüssige zu tun sei. Weder unkritische Unterwerfung noch bloßer Widerstand sind hier die richtigen Strategien. Gleichwohl gibt es Unsicherheiten und Suchbewegungen. Damit wären wir bei den Aufgaben der kulturellen Einrichtungen, da sie der intellektuellen Daseinsvorsorge gelten. Sie sollten sich als Diskurs- und Reflektionsräume profilieren. Nun werden viele Kulturinstitutionen sagen, dass genau dies selbstverständlich ist. Das soll an dieser Stelle bezweifelt werden, weil noch vielfach in der eigenen Logik gedacht wird, die gesellschaftliche Entwicklungen außer Acht lässt. Dabei wird weder der inhaltlichen Nivellierung das Wort geredet (»Nur noch Blockbuster spielen«) noch einer Anbiederung an Trends und Moden. Es erfordert viel Fingerspitzengefühl, den Diskurs zu organisieren, changierend zwischen Affirmation und Provokation. Die gesellschaftliche Analyse ist dafür unverzichtbar. Vielleicht ist schon dieser Schritt eine neue Erfahrung für viele Einrichtungen, nämlich aus der Binnensicht hinaus den Blick der Anderen einnehmen, eben weil die Kultureinrichtungen in Deutschland prinzipiell 80 Millionen Nutzerinnen und Nutzer haben. Wie gesagt, das gilt unterschiedlich für unterschiedliche Einrichtungen. Volkshochschulen sind, aufgrund ihrer Struktur per se darauf konditioniert, aktuelle Entwicklungen aufzugreifen. Ebenso Bibliotheken, wenn sie aktuelle Literatur anschaffen. Viele Museen tun sich manchmal schwer, Theater sind hier wieder weiter. Archive müssen sich nicht Trends anschließen, aber beispielsweise technischen Entwicklungen, die die Vermittlung von Archivalien unterstützen. 

Das Richtige ist also eine Abwägung zwischen den Notwendigkeiten, die sich durch gesellschaftliche Trends ergeben und dem eigenen künstlerischen Anspruch. Wer hier agiert, wird nicht nur die Relevanz der Schlüssigkeit steigern, sondern schließlich auch die Relevanz der Bedeutung, weil offenkundig werden wird, welchen eminenten Beitrag die kulturelle Infrastruktur leistet. In einem etwas wehmütigen Rückblick mag an die 1970er Jahre erinnert werden, als Erwachsenen­bildungseinrichtungen die Foren für die Wertedebatte waren. Was früher die Auslegeware einer Akademie war, ist heute ein gut organisierter, aktuell administrierter und Orientierung gebender Internetauftritt.

Wie macht man das Richtige richtig?

Das wiederum ist eine Frage der Strategie. Hier haben die Kultureinrichtungen beileibe Nachholbedarfe. Immer mehr desgleichen wird im oben beschrieben Kontext nicht funktionieren. Auch nicht mit immer mehr Geld. Vielmehr bedarf es einiger Anstrengungen, sich über die eigenen Strategien Gedanken zu machen, in dem Bewusstsein, die nötige Flexibilität zu entwickeln. Von Beschleunigung war bereits die Rede. Umso notwendiger wird ein agiler Ansatz und ja, hier kann durchaus von der Ökonomie gelernt werden. Wie Digitalkonzerne ihre Produkte in immer wieder reflektierenden Schleifen entwickeln und die Wirkung auf die Kundinnen und Kunden reflektieren, so brauchen auch Kultureinrichtungen ein Verständnis für die verschiedenen Stufen und möglichen Anpassungen einer Strategie. So kann es gelingen, das Richtige richtig zu machen.

Wie wird die kulturelle Infrastruktur aufs Neue relevant? Oder: Wie bleibt sie relevant?

Zu sehr wollen wir das Kulturlicht nicht unter den Scheffel stellen, denn die Sicht ist besser, als sie häufig propagiert wird. Wie wird, wie bleibt sie schlüssig? Indem sie sich aus dem eigenen Korsett befreit. Tradition und Kontinuität spielen heutzutage eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger wird es deswegen sein, schlüssige Strategien für heute und morgen zu entwickeln, sich neu aufzustellen, hinzuhören und – im Sinne des Audience Developments – die Nutzerinnen und Nutzer als Teilhaber*innen der kulturellen Infrastruktur zu verstehen. Das ist mit einem bloßen gemeinsamen Verständnis von »Kultur« nicht möglich, sondern bedarf der jeweiligen Adaption innerhalb der Institution. Auf jeden Fall wird es aber notwendig sein – dem Netzwerkgedanken in der Kultur der Digitalität geschuldet –, das Spartendenken zu überwinden und gemeinsam Projekte zu planen, an die bis dato niemand gedacht hat. Hackathons sind hier für ein treffendes Beispiel.

Wird sich dieser Angang finanziell auszahlen? Nicht, wenn man ihn von der jetzigen Situation aus einfach in die Zukunft kontinuierlich weiterdenkt. Aber es wird neue Finanzierungsmöglichkeiten geben und es muss auf jeden Fall (auch und gerade innerhalb der Kultureinrichtungen) Posterioritäten und Prioritäten geben, bevor diese kulturpolitisch eingefordert werden. Was gesellschaftlich relevant ist, wird prioritär, von manchem Liebgewonnenen wird man sich verabschieden müssen. Das ist ein schmerzhafter Prozess aber für die Gewinnung an Relevanz in jeglicher Bedeutung unverzichtbar. Die Kulturpolitik muss auf die neue Relevanz reagieren und die notwendigen Mittel in einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive auf das »Wir« bereitstellen.

Was bleibt, ist die Ungewissheit.

Theologisch gesprochen: die Kontingenz. Die wird dieser Gesellschaft niemand nehmen können (selbst, wenn es manch‘ politische Initiative verspricht). Genau das können Kultureinrichtungen offen präsentieren und thematisieren und selbst leben. Was wird? Hoffentlich eine Gesellschaft, die sich nicht überwältigen lässt, die um ihre Tradition weiß und um die Notwendigkeit, die eigene Kultur weiter zu entwickeln und vor allem auch zu pflegen, auf dass sie nicht zur Un-Kultur verkommt. Wer kann das schlüssiger aufzeigen, als Einrichtungen der kulturellen Infrastruktur? Hier gibt es die Kernkompetenz, um die eigentliche Zukunftsfrage zu thematisieren, die mit allen Megatrends zusammenhängt, nämlich die Frage nach der Transzendenz. Das ist nicht religiös gemeint, sondern im philosophischen Sinne als Übersteigen und Reflektieren dessen, was sinnlich wahrnehmbar ist. In diesem Prozess wird es Aufgabe der Kulturpolitik sein, mit Programmen zu unterstützen und insbesondere die individuelle strategische Beratung stärker zu flankieren, als dies bisher üblich ist.

Autor

Martin Lätzel, Kiel

Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek

In welchem System relevant?

13. Januar 2021

Ich beginne mit einer Frage. Sie ahnen es vielleicht schon. Sie lautet: Ist Kultur systemrelevant? Kulturschaffende und Politiker*innen sind seit Beginn der Pandemie in schier unendlichen Debatten gleichsam an ihr kleben geblieben wie ein vertrockneter Kaugummi an einer Museumswand. Es wurde gerufen, debattiert und geschrieben. Aber kaum jemand kam auf die Idee, eine wichtige Gegenfrage zu stellen: Welche Kultur ist überhaupt gemeint?

Für welches System relevant?

Denn es gibt nicht bloß eine Kultur, der diese oder jene Eigenschaft zukommt. Ich beobachte in unserer Gesellschaft Kulturen. Und ich beobachte, dass manche von ihnen äußerst systemrelevant zu sein scheinen, wie beispielsweise das Humboldt-Forum. Selbst die Pandemie sollte die für Dezember 2020 angesetzte (digitale) Eröffnung im wiederaufgebauten Berliner Schloss nicht verhindern. Die notwendigen Hygiene- und Schutzmaßnahmen für die planmäßige Fortführung der Baumaßnahmen ließen laut Bundesinnenministerium die Gesamtkalkulation von 644 Millionen auf 677 Millionen Euro steigen.

Warum ist das Humboldt-Forum also systemrelevant? Zumindest in dem Maße, dass die politisch Zuständigen 33 weitere systemrelevante Millionen Euro zur Verfügung stellen? Und für welches System ist es relevant? Eine Antwort lautet: Das Humboldt-Forum fügt sich nahtlos in ein System kolonialer Kontinuitäten und weißer Vorherrschaft ein. Und legitimiert sie im Gegenzug. Dazu gehört die Weigerung Deutschlands, sich mit der eigenen Kolonialgeschichte auseinanderzusetzen (oder aus ihr Konsequenzen zu ziehen). Bei vielen Exponaten, die auf den 1.500 Quadratmetern ausgestellt werden, handelt es sich um koloniale Raubkunst.

Auf der anderen Seite existiert eine Vielfalt an offensichtlich nicht-systemrelevanter Kulturen, die von solch einem Geldregen nur träumen können: Festivals, Kulturstätten, Initiativen und Veranstaltungsreihen, die sich queer, feministisch, inklusiv oder dekolonial verorten und jährlich um Förderzusagen bangen. Diese Kulturen adressieren kein breites bürgerliches, weißes und anders dominanzgesellschaftliches Publikum. Sie hinterfragen rassistische oder sexistische Kontinuitäten. Nicht systemrelevant also: Die freie, alternative, marginalisierte Kulturszene – und marginalisierte Künstler*innen. Die prekäre Situation vieler Solo-Selbstständigen hat sich in den vergangenen Monaten verschärft. Daran haben auch die halbgaren Hilfen durch Bund und Länder kaum etwas geändert. Und mehrfachmarginalisierte Kulturschaffende sind auch in der Corona-Krise mehrfachbelastet. Geflüchtete oder behinderte Künstler*innen fallen ebenso häufig aus dem Raster solcher Zuschüsse heraus wie ihre Arbeit oftmals von der Künstlersozialkasse nicht anerkannt wird. Von der ungerechten Verteilung von Ressourcen in unserer Gesellschaft – von etwa Geld, Sicherheit und Zeit – ist die Kulturbranche nicht ausgenommen.

Relevanz über das System hinaus

Dabei war 2020 nicht nur das Jahr der Corona-Krise. Es war auch das Jahr des anti-feministischen, antisemitischen und rassistischen Terrors, der am 19. Februar in Hanau seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Auch deswegen brauchen wir die Perspektiven marginalisierter und machtkritischer Künstler*innen für den Entwurf eines neuen, solidarischen Miteinanders dringender denn je. Sie sind konstitutiv für die Pluralität in unserer Gesellschaft. Etwa, weil sie Diversität nicht nur als Marketing-Gag und optischen Trend verstehen, sondern als Ausgangspunkt und Ziel ihres Handelns setzen. Sie sind vielleicht nicht-systemrelevant. Doch gerade deshalb umso wichtiger. Sie gefährden vorgezeichnete Grenzen, ritualisierte Handlungen und althergebrachtes Relevanzdenken von Systemen. Und deshalb sind sie umso gefährdeter.

Wie kann also eine machtkritische Kulturpolitik aussehen? Das ist die Leitfrage dieses Essays. Und die Antwort ist so einfach wie komplex: Wir brauchen eine Kulturpolitik, die sich den Schutz und die Förderung marginalisierter Kulturen und Künstler*innen als Maxime setzt.

Eine machtkritische Kulturpolitik

Ich verstehe unter Macht nicht nur die bereits erwähnte Akkumulation ökonomischer und sozialer Ressourcen. Macht wirkt auch im Hintergrund, sie naturalisiert diskriminierende Ausschlüsse und Hierarchien und erhebt sie zu einer scheinbar unumstößlichen Norm. Eine machtkritische Kulturpolitik spürt daher zwangsläufig nach, wie diese Ausschlüsse zustande kommen. Wie wirken Kapitalismus, Sexismus, Ableismus, Rassismus, koloniale Kontinuitäten und andere Diskriminierungsstrukturen in der Kulturbranche zusammen? Welchen Anteil haben sie an der Gestaltung von Inhalten? An der Repräsentanz von Künstler*innen? Welche Themen werden durch diese Machtstrukturen legitimiert? Und welche gelten als irrelevant?

Diversität kommt in der Führungsriege des Humboldt-Forums übrigens nicht einmal als Marketing-Gag vor. Intendanz, Kuration und Leitung verantworten vier weiße Männer. Und damit befinden sie sich in der Kulturbranche in bester Gesellschaft. Ein Blick auf die Theaterhäuser zeigt etwa, dass rund drei Viertel in (meist weißer) Männerhand sind, während laut Zahlen des Deutschen Kulturrats Niedriglohnjobs wie des Soufflierens zu 80% weiblich besetzt sind.

Eine machtkritische Position darf sich jedoch nicht auf der Frage ausruhen, wie mehr nicht-weiße oder nicht-cis-männliche Personen etwa in die Führungsriege des Humboldt-Forums aufsteigen. Sie muss weiterbohren, unbequem werden: Warum strukturieren sich Kulturinstitutionen überhaupt derart hierarchisch? Entsteht so die beste Kunst? Die wichtigsten Diskurse? Die relevanteste Kultur? Überhaupt: Ist es gerechtfertigt, ein Projekt in kolonialer Tradition mit so viel Geld zu subventionieren?

Relevante neue Systeme

»Wie positionieren wir uns [als marginalisierte Künstler*innen] gegenüber von Macht?« Diese Frage stellte die bildende Künstlerin Moshtari Hilal kürzlich in einer Podiumsdiskussion. Das Gespräch drehte sich um Ausschlüsse marginalisierter Künstler*innen aus Institutionen. Um Fremdzuschreibungen und die Instrumentalisierung von rassifizierten Künstler*innen für rassistische Debatten. Um den Umgang mit antisemitischen, kapitalistischen Strukturen innerhalb der Kunstwelt. Auch Galerien, Theaterhäuser und andere Bühnen müssen sich positionieren. Sie brauchen eine konsequente Auseinandersetzung und einen konsequenten Bruch mit rassistischen, antisemitischen, heteronormativen, sexistischen, ableistischen, klassistischen Strukturen und Logiken. Sie müssen sich neuorientieren, vorgezeichnete Grenzen verlassen, ritualisierte Abläufe neu choreografieren und ihr eigenes System überdenken. Diese Arbeit kann nicht wie ein weiterer vertrockneter Kaugummi an marginalisierten Künstler*innen kleben bleiben.

Wenn Künstler*innen wie Hilal sich fragen, wie sie sich gegenüber von Macht positionieren – etwa mit welchen Institutionen sie zusammenarbeiten und wem sie ihre Kunst verkaufen wollen – müssen sie eine Chance haben, sich positionieren zu können. Sie brauchen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsmacht. Das erfordert einerseits ein Mitspracherecht auf allen Ebenen der Kulturpolitik, in den Institutionen, Jurys und Ministerien. Hilals Frage lässt sich jedoch andererseits kaum ohne den Blick auf ökonomische Freiheiten und Zwänge beantworten: Eine machtkritische Kulturpolitik braucht Allianzen, um die materiellen Verhältnisse in unserer Gesellschaft von Grund auf anders zu denken. Die Corona-Krise habe bewiesen, dass es höchste Zeit für ein bedingungsloses Grundeinkommen sei, kommentierte der Theatermacher Milo Rau in einem anderen Podiumsgespräch. Es sind Ideen wie diese, die Teil kulturpolitischer Reflexionen sein müssen, damit nicht nur Künstler*innen selbstbestimmt auf diese Fragen antworten können: Wie positionieren wir uns gegenüber von Macht? Welche Ausstellungen wollen wir? Welche Kunsträume brauchen wir? Wer gehört aktuell zum System? Und was ist für eine pluralistische Gesellschaft wirklich relevant?  

Autorin

Foto: Elif Küçük

Şeyda Kurt schreibt und spricht über Kultur, Politik und intersektionalen Feminismus. Als freie Journalistin arbeitet sie für unterschiedliche Print- und Onlinemedien (ZEIT Verlag, taz.die tageszeitung) sowie fürs Radio. Als Kuratorin war sie unter anderem für das Goethe-Institut und verschiedene Kulturveranstaltungen tätig. Sie gibt regelmäßig Workshops, etwa zum journalistischen Schreiben und zu diskriminierungssensibler Sprache. Im Frühjahr 2021 erscheint ihr Sachbuch Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist (HarperCollins).

Wer wirklichen Wandel will, braucht einen langen Atem!

11. Januar 2021

Die Pandemie macht die Unsicherheit und Dynamik unserer Zeit erfahrbar. Sie zwingt uns zur Auseinandersetzung mit den großen gesellschaftlichen Herausforderungen – sei es Klimawandel, Nachhaltigkeit, Digitalisierung oder gesellschaftlicher Zusammenhalt. Auch für Organisationen im Kulturbereich werden die damit einhergehenden Veränderungen immer stärker spürbar, beispielsweise durch Fragen neuer gesellschaftlicher Legitimation, digitaler Technologien oder dem Wunsch nach anderen Formen der Zusammenarbeit. Um dieser Dynamik nicht nur passiv ausgesetzt zu sein, sondern sie aktiv mitzugestalten, braucht es in den Organisationen tiefgreifende Transformationsprozesse. Die Geschwindigkeit, mit der Wandel grundsätzlich möglich ist, zeigt die teilweise rasante Anpassung der Arbeitsabläufe in der aktuellen Krise. Warum brauchen Veränderungen im Kulturbereich dann dennoch oft so lange? Neben vielen guten Ideen braucht es ein erweitertes Verständnis von Transformationsprozessen in Organisationen, mit dessen Hilfe genauer justiert werden kann, an welchen Stellen Innovation gefördert werden kann.

Wandel als Evolutionsprozess

Niklas Luhmann beschreibt in seinen organisationssoziologischen Arbeiten Wandel als evolutionären Prozess mit drei Stufen: Variation, Selektion und Re-Stabilisierung (Luhmann, Niklas. 2000. Organisation und Entscheidung. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag GmbH.). Mit dieser Dreiteilung lässt sich ein besseres Verständnis dafür gewinnen, warum gute Ideen und einzelne Veränderungen oft nicht zu wirklichen Veränderungen der Struktur und des Arbeitsalltags führen. Denn entscheidend für strukturelle Veränderungen ist erst die Re-Stabilisierung und Integration von Neuerungen in den Arbeitsalltag. Was heißt das konkret?

Variationen sind Abweichungen von bisherigen Routinen. Dabei spielt es keine Rolle, ob neue Ideen von Mitarbeiter*innen oder aus der Führungsebene kommen. Gleichwohl macht es einen entscheidenden Unterschied, ob das Ausprobieren neuer Ideen gefördert wird oder Abweichungen eher Skepsis hervorrufen. In Kultureinrichtungen mit starkem Traditionsbewusstsein und einem hohen Anspruch an Exzellenz werden Abweichungen von bestehenden Routinen oft eher als Störung wahrgenommen und sanktioniert. Mit der Konsequenz, dass sich Mitarbeiter*innen zweimal überlegen werden, eine neue Idee vorzuschlagen oder ein neues Projekt anzustoßen. Produktiver wäre es, Irritation zu fördern, den Austausch mit unterschiedlichen Akteur*innen innerhalb und außerhalb der eigenen Organisation zu suchen oder eine gesunde Fehlerkultur zu etablieren. Verläuft beispielsweise ein neues Digitalprojekt anders als gedacht (Variation), könnte das Projekt nach Abschluss in der internen Kommunikation als gescheitert kommuniziert und damit negativ selektiert werden. Eine innovationsfördernde Maßnahme wäre, differenzierter zu überlegen, welche Lerneffekte das Projekt und sein Verlauf haben können: Vielleicht hat die erstmals ins Leben gerufene Zusammenarbeit zwischen zwei Abteilungen besonders gut funktioniert? Konnten möglicherweise Erfahrungen mit der Nutzung neuer Technologien gesammelt werden? So findet eine positive Selektion einzelner Elemente statt, mit denen im Anschluss weitergearbeitet werden kann.

Doch erst wenn die Neuerungen auch tatsächlich in den Arbeitsalltag integriert werden, findet auch auf struktureller Ebene eine Veränderung statt (Re-Stabilisierung). Wenn beispielsweise die mit viel Aufwand entwickelte neue Nachhaltigkeitsstrategie zwar kommunikativ von der Leitungsebene genutzt wird, um die Organisation in einem guten Licht darzustellen, heißt das eben noch nicht, dass sich in der Breite der Organisation auch tatsächlich etwas verändert.

Innovation als sozialer Prozess

Es braucht also alle drei Stufen, um nicht nur einzelne Experimente zu ermöglichen, sondern einen strukturellen Wandel in Organisationen voranzutreiben. (1) Die Förderung neuer Ideen, die Irritation bestehender Routinen und das Schaffen von Räumen zum Experimentieren, (2) die bewusste Selektion und Weiterentwicklung der Variationen und (3) die Integration, also Re-Stabilisierungen, der Abweichungen in die Organisationsstrukturen. Erst dann werden Innovationen tatsächlich nachhaltig in der Organisation verankert.

Mit Blick auf die aktuelle Krise und die großen Herausforderungen unserer Zeit wird immer deutlicher, dass ein Zurück in eine vermeintliche stabile Vor-Krisen-Normalität unmöglich der richtige Weg sein kann. Kultureinrichtungen dürfen nicht nur passiv auf diese Transformationsprozesse reagieren, sondern müssen sie aktiv mitgestalten, evaluieren und weiterdenken. Dabei wird ihre Transformationskompetenz sowohl während als auch nach der Krise zentral sein, um weiter gesellschaftlich relevant zu bleiben.

Autor

Julian Stahl, Friedrichshafen

promoviert am WÜRTH Chair of Cultural Production bei Prof. Dr. Martin Tröndle an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen an den Schnittstellen von Organisationstheorie und Kulturmanagement und ist Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Darüber hinaus verantwortet er seit 2016 den Digitalbereich von PODIUM Esslingen und ist Host des PODIUM Podcasts.

Neustart Kulturpolitik 2.0!
Schluss mit Kulturverwaltung, stattdessen Mut zur Gestaltung!

8. Januar 2021

Die Pandemie hat Gesellschaft und auch das Selbstverständnis von Kultur verändert! Die Krise hat Schwachstellen offengelegt und damit zugleich Zukunftsfragen zur gesellschaftlichen Transformation aufgeworfen. Die Krise hat unter anderem verdeutlicht, dass

  • Teilbereiche der Kultur unterfinanziert sind,
  • öffentlich geförderte Kultur aufgrund der Erwirtschaftung von Teilnahmegeldern und Projektmitteln in Krisenzeiten auf Rettungsschirme angewiesen ist,
  • kulturelle Bereiche in Krisenzeiten nur eingeschränkt in der Lage gewesen sind, Zielgruppen zu erreichen aufgrund fehlender digitaler Formate und
  • es an sozialer Absicherung für Künstler*innen fehlt

Gießkannenprinzip und Ökonomisierung fordern ihren Tribut …

Prekäre Verhältnisse sind möglicherweise ein Symptom für fehlenden kulturpolitischen Gestaltungswillen. Sehr sinnbildlich zeigte sich dies in Berlin, wo 2.000 Sonderstipendien für Künstler*innen in der Krise einfach verlost wurden. Hier offenbart sich die Achilles-Ferse der letzten Jahrzehnte Kulturpolitik: Dem stetigen Wachstum an kultureller Vielfalt wurde kein Mut entgegengesetzt, Rahmenförderkriterien entgegenzuzustellen. Stattdessen dominiert das Gießkannenprinzip.

Die Ökonomisierung der öffentlich geförderten Kultur und Bildung, wie die zunehmende Mischfinanzierung öffentlich geförderter Bereiche, hat gleichfalls ihren Tribut gefordert. Die Übernahme wirtschaftlicher Erfolgskriterien, wie die Quote oder Besucherzahlen, haben zu einem vermehrten Rückgriff der öffentlich Geförderten auf publikumsnachgefragte Angebote, die auch auf dem kulturwirtschaftlichen Markt angeboten werden, geführt und so Konkurrenzen geschaffen, die zugleich die Kulturwirtschaft schwächen. Fehlende finanzielle Spielräume und künstlerische Experimentierräume führen vielfach auch zu vermehrten prekären und zeitlich befristeten Arbeitsverhältnissen und auch dazu, dass Zukunftsaufgaben wie der digitale Wandel noch nicht adäquat umgesetzt wurden.

Notwendige Konkretisierung der Ziele und Aufgaben öffentlicher Kulturförderung …

Wie können die Aufgaben von öffentlich geförderter und privatwirtschaftlicher Kultur klar abgegrenzt werden? Hier gibt es Grundprinzipien wie Wahrung des Kulturerbes, Freiraum für künstlerische Weiterentwicklung oder kulturelle Teilhabe sowie in der Vergangenheit immer wieder Versuche der Abgrenzung wie E- und U-Kultur, die sich jedoch als wenig hilfreich erwiesen haben.

Ein Kriterium ist dabei auch die Frage: Was kann am Markt nicht bestehen? Ein Förderbedarf besteht beispielsweise, wenn die Strukturen, um spezifische Genres zu produzieren, wirtschaftlich nicht tragbar sind, ein anderer, wenn ein künstlerischer Beitrag nicht durch Publikumsinteresse getragen wird.

Darüber hinaus bedarf es jedoch weiterer Eingrenzungen. So wächst das kulturelle Erbe stetig. Eine nicht zu unterschätzende Herausforderung liegt darin, Kulturgeschichte zu bewahren und gleichzeitig dem kommenden kulturellen Erbe Raum zu geben.

Umgekehrt bringt kulturelle Vielfalt die Herausforderung mit, sich über konkrete Kriterien der Avantgarde zu verständigen. Hier bedarf es den Mut, diese sichtbar zu machen.

Dann gibt es noch das Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe. Eine Begründung aus Bürger*innenperspektive abzuleiten, ist ebenfalls schwierig: Wie viel Kultur braucht der Bürger, die Bürgerin? Und natürlich welche? Geht es bei kultureller Teilhabe stärker um Bildung, also die Vermittlung von Kunst jenseits des Mainstreams? Oder soll jede/r die Kultur bekommen, die sie/er möchte? Diese schwierigen Fragen stellen sich auch bei der Umsetzung des Rundfunkstaatsvertrags bezogen auf den Auftrag der Grundversorgung. Dass Kulturpolitik in der Vergangenheit einer konkreten Festlegung von Inhalt und Umfang öffentlicher Kulturförderung eher ausgewichen ist, liegt nicht zuletzt auch in der vielleicht nicht unberechtigten Angst begründet, wieder einen Kulturkanon zu manifestieren.

Wie könnte eine gestalterische Kulturpolitik 2.0 aussehen?

Anschaulich durchdekliniert werden kann dies am Beispiel der Forderung nach einer kommunalen Pflichtaufgabe Kultur, die in der Vergangenheit immer wieder gestellt wurde und aktuell in der Krise wieder an Fahrt aufnimmt. Mit der Verankerung von Kultur als Pflichtaufgabe ist nur ein kleiner erster Schritt getan. Stabilisierend kann diese Verankerung erst sein, wenn sie auch einen Bezugsrahmen erhält: Was bedeutet kulturelle Grundversorgung? Dabei eröffnen sich viele gestalterische Fragen: Wäre es im Sinne der kulturellen Daseinsvorsorge denkbar, den Zugang zum Museum kostenfrei für Bürger*innen einer Stadt zu ermöglichen, ähnlich, wie dies mittlerweile einige Städte für den ÖPNV praktizieren? Und dabei Eintritt nur von Zugereisten wie Touristen verlangen? Sollen kulturelle Bildungseinrichtungen, statt Dienstleistungsangebote wie der Instrumentalunterricht, nur noch gemeinwohlorientierte Angebote entwickeln? Beispielsweise die Integration der Musikschularbeit flächendeckend in Form von Modellen wie Klassenmusizieren in der Schule oder Musikinstrumentenkarussell in der Kita?

Und warum nicht auch Mut für neue Wege bei der inhaltlichen Ausgestaltung aufbringen, beispielsweise prozentual gleichberechtigt die Perspektiven lokal, global, kulturelles Erbe und künstlerische Innovation in der Förderung abbilden?

All dies sind Fragen, die es gilt, mit einer gestalterischen Kulturpolitik zu beantworten und vielleicht müssen diese Fragen in einem dynamischen Prozess angesichts des gesellschaftlichen Wandels in Zeitabständen immer wieder neu gestellt und beantwortet werden, um eine Agenda zur Transformation unter dem Motto »fordern« und »fördern« für eine gestalterische und nachhaltige Kulturpolitik zu ermöglichen!

Autorin

Fotoquelle: www.dkr.de

Prof. Dr. Susanne Keuchel, Remscheid

Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW, Präsidentin des Deutschen Kulturrats

The Artist Is Broke
Kulturarbeit zwischen Relevanz, Leerstelle und Zumutung

6. Januar 2021

In letzter Zeit schlafe ich schlecht. Ich will auch nie schlafen gehen. Es ist stressig, sich zu entspannen, die Gedanken rasen auf der Suche nach einer möglichen Ordnung, ich gehe alle Szenarien durch, verwerfe sie wieder. Wenn ich in endlich in Schlaf falle, träume ich von der Arbeit. Die Kulturlandschaft in einer Kälteschlafkapsel. Entschlossene bis verzweifelte Gesichter flimmern auf Bildschirmen.

Kannst du uns hören?

Wir können dich hören, aber nicht sehen.

Wir können dich sehen, aber nicht hören.

Es rauscht in allen Leitungen. Es ist so verdächtig still hier.

Ich wache auf, und alles ist wahr. Wir befinden uns in einer Warteschleife. Wir haben viele Namen: Ein-Personen-Unternehmen, Ich-AG, Soloselbstständige. Dass der Ausnahmezustand der Pandemie bereits vorhandene Missstände und Ungleichheiten vertieft und sichtbarer macht, wurde schon gesagt, und es wird immer wieder gesagt werden müssen. Ich erinnere mich an die Zahl, die ich im Dezember 2019 als geschätztes Jahreseinkommen 2020 in das Onlineformular der Künstlersozialkasse eingetragen habe. Bücher sind Lebensmittel, hieß es im März 2020, die Berliner Buchhandlungen durften offenbleiben. Im Juni ging ein Bild durch die Medien: das größte Opernhaus in Barcelona, auf der Bühne ein Streichquartett. Das Eröffnungskonzert vor vollen Rängen, 2.200 besetzte Plätze, – aber nicht mit Menschen – das Publikum besteht aus Pflanzen. Das grüne Publikum im Kontrast zum roten Plüsch und Gold. Die Schlussverbeugung der Musiker*innen vor den Pflanzen.

Nicht einfach zurück zum Alten

Im Dezember 2020 sagt Jagoda Marinić: »Auch in der Kultur können wir nicht einfach zurück zum Alten. Der Kulturbetrieb wird sich einer Selbstüberprüfung stellen müssen, statt über die eigene Relevanz zu predigen.« Das Publikum ist nicht verschwunden, aber es gibt keinen analogen Raum, in dem Künstler*in und Publikum einander begegnen dürfen.

Die Politik hat bereits entschieden, dass Kulturarbeit keine systemrelevante Arbeit ist. Sascha Lobo schreibt, dass die wahre Staatsreligion die Festanstellung sei und der Staat für Selbstständige und Kreative kaum mehr als Verachtung übrig hat. Wir befinden uns also hier: zwischen Relevanz, Leerstelle und Zumutung. Aber wer sind wir eigentlich, wir Kulturarbeiter*innen, wie sehen unsere Lebensrealitäten aus?

The Artist is jung, flexibel, ungebunden

Der Bereich, den ich am besten kenne, ist der der Literatur: Wenn wir uns die Kriterien für Literaturförderungen ansehen, waren diese schon vor der Krise schwierig genug. Um überhaupt die Möglichkeit zu haben, diese in Anspruch nehmen zu können, sollten alle Schreibenden weitgehend ungebunden, flexibel, frei von sozialen Verantwortungen und Verpflichtungen sein, dabei selbstverständlich reisefreudig, stets in der Lage, Hauptwohnsitz und gegebenenfalls Brotjob für ein Aufenthaltsstipendium in XYZ aufzugeben oder on hold zu stellen. Am besten sind Schreibende also jung, flexibel, ungebunden. Gut vernetzt unter unseresgleichen, aber dabei gern allein. Wir kommen selbstverständlich mit wenig Mitteln zurecht, wir brauchen nicht viel (alles für die Kunst!) oder haben ein Netzwerk (Angehörige, Partner*innen, etc.), das uns wirtschaftlich am Leben hält. Und auch wenn wir nicht nur in Krisenzeiten und überhaupt sehr überschaubare staatliche Unterstützung bekommen, werden wir bei jeder Zuwendung gern pejorativ als Staatskünstler*innen bezeichnet. Wir müssen hochproduktiv sein, auch wenn wir und die Allgemeinheit in einer pandemischen Krise stecken. Gleichzeitig sind wir persönlich verantwortlich dafür, local business zu retten, auf unsere Gesundheit zu achten und uns um unsere Nächsten oder Familien zu kümmern sowie Sorgearbeit zu leisten. Und das Wichtigste: Wir sind weiß, cis, hetero, abled, männlich. Oder? Es muss sein, denn kaum jemand ist sichtbarer als Menschen, die unter diesem Label laufen.

Im Frühling 2020 fand das Bachmannpreis-Wettlesen erstmals online statt. Ein wichtiges Echo auf diese Veranstaltung findet sich in der Aussage der Autorin und Bachmannpreis-Gewinnerin Helga Schubert, dass sie sich freue, dass der Wettbewerb in diesem Jahr im Netz stattgefunden habe und sie nicht nach Klagenfurt reisen musste, weil sie ihren bettlägerigen Mann pflegt. Eine 80-jährige Autorin, die aus jedem Literaturbetriebsklischee herausfällt und diesen Wettbewerb unter den üblichen strukturellen Bedingungen (der analogen Anwesenheitspflicht) nicht gewinnen hätte können, weil ihr schon die Teilnahme unmöglich gewesen wäre. Ein im Kulturbetrieb lang vernachlässigtes Thema wird hier zur Sprache gebracht: die durch die bestehenden Strukturen erzeugte Unvereinbarkeit von Sorgearbeit und künstlerischer Arbeit.

Wird die Zeit der Pandemie ein Umdenken schaffen, was Sorgearbeit leistende Menschen angeht? Wird es ein inkludierendes Umdenken geben, was Literaturveranstaltungen und Aufenthaltsstipendien angeht? Darf sich das Bild der Schreibenden vielfältiger zeigen, weg vom abgehobenen Geniekult? Wird uns endlich ein wunderbar profanes Privatleben zugestanden, das Sorgearbeit einschließt? Und wird dieser Tatsache auch entsprechend Raum gegeben und Respekt gezollt werden?

Nein, wir sind nicht alle weiß, cis, hetero, abled, männlich. Wir sind auch alles Andere, alles Mögliche. Wir fordern Sichtbarkeit und eine längst überfällige gesellschaftliche Wertschätzung. Schreiben ist Arbeit. Literatur ist Arbeit. Sorgearbeit ist Arbeit. Wir sind keine Genies, wir leben nicht in Elfenbeintürmen, wir sind Kulturarbeitende. Viele von uns können ihren Lebensunterhalt nicht allein durch die Kunst bestreiten, dennoch ist die Produktion von Literatur und Kunst keine Liebhaberei und muss dementsprechend fair und transparent vergütet werden. Aber, einmal mehr, bevor wir uns überhaupt an die Arbeit machen können: Welchen Produktionsbedingungen sind wir unterworfen?

The Artist is exzellent

Die Initiative Mehr Mütter für die Kunst hat ein Manifest in Form eines Forderungenkatalogs ins Netz gestellt, der auf die Schieflagen im Kunstbetrieb aufmerksam macht: den Mangel an Präsenz und Förderung von Frauen und Müttern. Und dass selbst dort, wo Frauen in gehobenen Positionen agieren, die strukturellen Benachteiligungen weiterbestehen. Und dass wir in einer Gesellschaft leben, die Frauen in der Kunstproduktion ihrer Mutterschaft wegen disqualifiziert. Im Rahmen der Vergabe eines Stipendiums für Künstler*innen mit Kindern unter 7 Jahren, dem Sonderförderprogramm 20/21 des Kunstfonds Bonn, wurde die verteilungspolitische Schieflage besonders deutlich: Das Stipendium wurde an 47 Männer, drei diverse Bewerber*innen und 44 Frauen vergeben. Das klingt gar nicht so schlecht? Sehen wir uns die Zahlen etwas genauer an. Aus dem offenen Brief der Initiative »Mehr Mütter für die Kunst« an den Kunstfonds Bonn geht hervor: Gestellt wurden 826 Anträge: 497 von Frauen, 323 von Männern, sechs von diversen Personen. »[…] 94 jener Anträge werden bewilligt. Entsprechend der Zahlen auf Ihrer Homepage erhalten 44 Frauen, 47 Männer und 3 diverse Bewerber*innen den Zuschlag. Das bedeutet, dass 8,6 % der Anträge von Frauen, 14,6 % der Anträge von Männern und 50 % der Anträge von diversen Bewerber*innen erfolgreich waren. […]«

Der komplexe Sachverhalt, der hinter dem in der Ausschreibung festgemachten Elternschaft-Kriterium steckt, wurde in der Auswahl außer Acht gelassen. Denn was bedeutet Elternschaft? Dass ein Teil seine künstlerische Produktion einschränken muss, also quantitative Arbeitszeit verliert, um den Sorgepflichten nachkommen zu können. Sollte es nun tatsächlich so sein, dass die Anträge der männlichen Bewerber qualitativ hochwertiger waren, könnte dieser Umstand damit zusammenhängen, dass die Aufgaben der Sorgearbeit nach wie vor überproportional von Frauen übernommen werden? Machen Männer qualitativ bessere Kunst als Frauen? Oder haben sie einfach mehr Zeit? Ist diese vemeintlich mangelnde Qualität vielleicht ein temporärer Einbruch in Produktion und Output? Und sollte ein Stipendium nicht vielmehr diesen Missstand fördern statt Geni und Exzellenz zu bemühen? Einmal mehr fallen wir rückwärts durch die Jahrhunderte. Es rauscht in den Leitungen.

Wir können euch hören, aber nicht sehen.

Wir können euch sehen, aber nicht hören.

Die Arbeits- und Produktionsbedingungen sind oftmals eine Hürde, die es zu überwinden gilt. Und dann? Aus welchem Material sind die Auswahlkriterien gemacht? Was wird für repräsentationswürdig befunden und dementsprechend repräsentiert? Welche Arbeiten schaffen es durch die offensichtlich von struktureller Ungleichheit bestimmten Auswahlfilter? Und welche Künstler*innenbilder werden dadurch als relevant in die Welt und damit an ein Publikum gebracht? Unter welchen Bedingungen werden Preise vergeben: Sind sie ›Belohnung‹ oder sollten sie nicht viel eher als Fördermöglichkeit im Hinblick auf ein zukünftiges Schaffen eingesetzt werden?

Die Kulturpolitik kann an der Besetzung von Entscheidungspositionen ansetzen, die Zusammensetzung von Jurys ebenso überdenken wie die Fragestellungen hinter den Auswahlprozessen und deren notwendige Transparenz. Künstlerische Exzellenz ist ein Kriterium, dass sich unhinterfragt durch künstlerische Biografien zieht: An die staatliche Kunst- oder Musikhochschule kommt, wer exzellent ist. Meisterschüler*innen werden die, die noch exzellenter sind. Literaturpreis, Schreibkurs, Stipendium? Bitte nur bei herausragender Leistung. Und an dieser Stelle treffen wir uns wieder bei der Frage: Wer beurteilt diese Leistungen? Und nach welchen Kriterien und Filtern?

Wahrscheinlich existieren wir gar nicht. Wie denn auch? Wir haben nicht alle dasselbe Leben, wir sind nicht alle gleich, wir haben unterschiedliche Bildungsgrade, Berufe, Lebenspositionen et cetera. Wir können nicht davon ausgehen, dass unsere Lebenswirklichkeit für alle gilt, für ein Wir. Wo beginnt Sichtbarkeit, Präsenz und Präsentation? Hier klaffen entsetzliche Leerstellen. Aber geht es nicht gerade in der Kunst- und Kulturarbeit um das Abbilden und Vermitteln von vielschichtigen Lebenswirklichkeiten und unterschiedlichen Erfahrungshorizonten? Und nicht nur in der Theorie, sondern in einer vielstimmigen Praxis. Was nur möglich ist, wenn wir die Räume und unsere Perspektiven öffnen, uns von Zuschreibungen und Klischees trennen. Vielfalt nicht im Sinne eines Exot*innenstatus, sondern aus der Notwendigkeit und der Erkenntnis heraus, dass wir die Unvollständigkeit begriffen haben, mit der wir die Welt künstlerisch erzählen.

The Artist is einsam

Schreiben ist Arbeit, eine oftmals einsame Arbeit. Es wird keine einfachen Lösungen geben. Es braucht die Eigeninitiative, das Aufstehen und ein vielstimmiges, solidarisches Lautwerden von Künstler*innen, um die Strukturen, Produktionsbedingungen und Bilder zu verändern. Auch wenn jede*r von uns für sich allein künstlerisch arbeitet, verbindet uns im besten Fall das Begehren nach Gerechtigkeit, nach einer Kulturlandschaft, die alte Selbstverständlichkeiten verwirft und in ihrer Vielschichtigkeit überraschende gemeinsame Räume schafft.

In einer Diskussionsrunde auf die Frage hin, mit welchen Erkenntnissen oder Begriffen ich das krisengeschüttelte Jahr 2020 rahmen würde, höre ich mich spontan antworten: »Eigenverantwortung und Solidarität«. Es wird gesagt, der Text ist klüger als die Autorin, aber oft scheint der Text hinauszulaufen, hinter den Fragen her, ohne ein Ende zu finden. Die Lösung beginnt in der Suchbewegung, im unermüdlichen Stellen von unbequemen Fragen, die Ungleichheiten sichtbar machen und endlich auch Veränderung herbeiführen können.

Autorin

Foto: Dirk Skiba

Sandra Gugić

*1976. Studium an d. Univ. für Angewandte Kunst Wien und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Debütroman »Astronauten«, C.H.Beck, 2015. Lyrikdebüt »Protokolle der Gegenwart«, Verlagshaus Berlin, 2019. Mitbegründerin des Autor*innenkollektivs »Writing with Care / Writing with Rage«. »Zorn und Stille«, Roman, Hoffmann und Campe, 2020. www.sandragugic.com

Info-Proletarier*innen of the world, unite!

4. Januar 2021

Als es noch möglich war, sah ich den Darsteller*innen in Kay Voges’ »Don’t be evil« dabei zu, wie sie sich in der Volksbühne mal so richtig übers Internet auskotzten und dabei eine Reihe männlicher Medientheoretiker zitierten. »Das ist eine schlechte Parodie darauf, wie man sich in den 10er-Jahren Digitalität vorgestellt hat«, resümierte meine Begleiterin.

Ein Jahr später sitze ich verzweifelt in einem Anfänger*innen-Kurs für die Programmiersprache Python. Ich weiß nicht, was das sein soll: ein Datentyp, eine Variable oder eine Schleife. Ich brauche eine Stunde, um meinen Namen zu schreiben. Beide Erfahrungen sind eng verknüpft – und sie sagen etwas darüber aus, mit welchen Vorannahmen wir uns dem sogenannten Digitalen nähern.

Mythos Big Tech

Dass ich Berührungsängste vor Coding habe, liegt auch an den Mythen rund um digitale Technologien. Die ehemalige Google-Mitarbeiterin Meredith Whittaker kämpft für die Demystifizierung von Big Tech. Dazu zählt Whittaker den Mythos vom (zumeist männlichen) Genie. Oder magische Formeln, die normale Menschen (und besonders Frauen) niemals begreifen können. Oder sogar eigenständige Entitäten, die menschliche Arbeitskraft überflüssig machen. 

Zur digitalen Mythenbildung passt, dass sich auch Kulturarbeiter*innen von digitalen Technologien allzu oft Rettung oder Untergang erhoffen. Und während sie in der semantischen Unschärfe zwischen AI, Algorithmus und Robotics versacken, produzieren sie staatlich gefördert eine Vielzahl sehr unterschiedlicher digitaler Produkte auf der Skala von »Kolonialwarenladen als digitales Erlebnis« bis zu einem von »tief lernende[n] Algorithmen und Künstliche[r] Intelligenz (KI) generierte[n] Tanzstück«.  

Dabei ist die Lernkurve in Sachen Tech-Mythen überraschend steil. So weiß ich schon nach ein paar Wochen Python-Kurs, dass Code != Algorithmus ist. Ich weiß, dass die Künstliche Intelligenz in Wahrheit ziemlich dumm ist und extrem viele Ressourcen braucht, um am Ende gefährliche sexistische und rassistische Muster zu reproduzieren. Und ich weiß, dass wir uns gegen die privatwirtschaftliche Vereinnahmung von Informationen stemmen1 und miteinander solidarisieren müssen. 

Irgendwas mit Digitalität

Vielleicht sollte Monika Grütters auch mal einen Python-Kurs besuchen. Die Kulturstaatsministerin steht der Digitalität jedenfalls hoffnungslos emotional gegenüber. Im letzten Jahr warnte sie beim Digital-Gipfel der Bundesregierung vor der »Allgegenwart der Algorithmen« und der daraus folgenden »Verrohung des öffentlichen Diskurses«. Einen ganz anderen Tonfall schlug sie Anfang Dezember in einer Pressemitteilung an, in der sie forderte, »jetzt künstlerische und künstliche Intelligenz zusammenzudenken«. Von Kultur und Medien erwarte sie »wichtige Impulse für die Debatte über Chancen und Grenzen dieser so vielversprechenden Technologie.« 

Um diese Pläne in die Tat umzusetzen, sind in Grütters’ Haushaltsplan für 2021 weniger als 20 Millionen Euro für »Aufträge und Dienstleistungen im Bereich Informationstechnik« eingeplant. Gemeint ist hiermit die Digitalisierung im engeren Sinne, also die Verfügbarmachung der Bestände in den Museen und Archiven, und die digitale Struktur (WLAN, Software) in den Einrichtungen. 

Für »Digitalpolitik und Strategische IT-Steuerung« sind zusätzlich zwei Millionen Euro vorgesehen. Dass damit eine durchschlagende strategische Positionierung möglich ist, ist zweifelhaft.2 Ein eigener Posten für eine kritische Auseinandersetzung mit Datenökonomie fehlt. Insgesamt machen die im Bereich Digitalisierung ausgewiesenen Mittel nur rund einen Prozent des Kulturetats aus. Zum Vergleich: Das Humboldt-Forum im Berliner Schloss kostet Stand heute 677 Millionen Euro. 

Informationsarbeiter*innen of the world 

»Künstlerische und künstliche Intelligenz« sind schon lange in eins gefallen und haben dabei die Arbeitsbedingungen von Kulturarbeiter*innen umfassend verändert. Ein Beispiel: Der Streaming-Dienst Spotify zahlt offenbar nur 0,00318 US-Dollar pro Stream – Tendenz sinkend. Und während Musiker*innen gerade angesichts der Corona-Krise mehr Geld fordern, hat der Konzern angekündigt, dass die Personen, die einen Großteil seiner Inhalte generieren, sich Reichweite erkaufen können, indem sie einer geringeren Tantieme zustimmen. Parallel dazu hat Spotify ein Patent für ein Programm eingereicht, das Musik-Plagiate aufdecken soll – zum großen Unmut von Musiker*innen, die fürchten, dass künftig nur große Firmen in der Lage sein werden, copyrightkornforme Musik auf den Markt zu bringen. 

Konzepte für diese Zusammenhänge liefert McKenzie Wark in ihrem Buch »Capital Is Dead. Is This Something Worse?«3. Darin argumentiert sie, dass die Mächtigsten nicht mehr die Produktionsmittel besitzen, sondern die Macht über die Informationen haben. Etwa die Kontrolle über den Warenstrom, das Eigentumsrecht über einen Code oder das Copyright einer mächtigen Marke. Den Profit macht diese neue »vectoralist class« aber streng genommen nicht qua ihrer Informationskontrolle, sondern, weil sie die Arbeitskraft des »Info-Proletariats« ausbeutet. Auf den Kulturbetrieb gemünzt sind das die Musiker*innen, die für ihre Plattenfirmen geistiges Eigentum produzieren, die Programmierer*innen die den Recommendation-Code schreiben4 und all diejenigen, die auf Twitter ihre Spotify-Bestenlisten posten. Doch bis zu einem gemeinsamen Klassenbewusstsein von Musiker*innen, Programmierer*innen und Twitter-Nutzer*innen ist es noch ein weiter Weg.

Kulturpolitik olé, Kulturpolitik adé

Fairerweise wäre es ziemlich unangebracht von Monika Grütters den digitalen Umsturz zu erwarten. Aber die Kulturpolitik könnte Rahmenbedingungen schaffen, die die Emanzipation der Kulturarbeiter*innen befördern. So könnten z. B. Instagram, Facebook und Co in die VG-Wort und -Bild einzahlen, so dass alle Nutzer*innen an dem durch ihre Posts erwirtschafteten Gewinn beteiligt werden. Ein Ministerium für Informationsarbeit könnte (mitsamt einer Zusammenführung der bisher getrennten Ausschüsse für Kultur und Medien / Digitale Agenda) via Bundesförderung in den öffentlichen und privaten Informationssektor hineinwirken. Denkbar wäre auch ein umfassendes Weiterbildungsangebot im Rahmen der Corona-Hilfen – Python-Kurse für alle!

Zugegebenermaßen: Revolutionen finden nicht in Behörden statt. Der digitale Klassenkampf bedarf einer gemeinsamen Anstrengung – es reicht nicht, wenn wir zwar alle coden lernen, aber nicht die kollektive Macht über die von uns produzierten Informationen haben.5 Das Info-Proletariat kann sich nur vereinigen, wenn es unwahrscheinliche Allianzen bildet.6 Umso tragischer ist es, wenn sich eine Autorin, deren Bücher zu 20% auf Amazon verkauft werden, sich nicht solidarisiert mit der Gig Workerin, die ihre Bücher im Amazon-Warencenter verpackt – zumal diese, wie in Heike Geißler es in ihrem Roman »Saisonarbeit« vormacht, sehr wohl dieselbe Person sein können. Info-Proletarier*innen of the world, unite!


1 Google macht einen Großteil seines täglichen 400-Millionen-Dollar-Umsatzes mit personalisierter Werbung, die auf den Daten der User*innen basiert. Wer seit zwanzig Jahren Google genutzt hat, hat dem Unternehmen somit ca. 350 US-Dollar Gewinn erwirtschaftet.

2 Vgl. die Bedarfe, die im Bericht des Wissenschaftsrats zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz genannt werden. Von den Beständen der Staatlichen Museen zu Berlin waren Mitte 2019 nur 4 % digital zugänglich. Einige der Museen verfügen nicht über WLAN. 2019 waren – auch „ohne Berücksichtigung größerer, zukünftiger Veränderungen im Rahmen der Digitalen Transformation“ – rund 4 Mio. Euro der Kosten für das IT-Rahmenkonzept der SPK unterfinanziert.

3 McKenzie Wark (2019), Capital Is Dead. Is This Something Worse? London / New York: Verso Books

4 Der Ruf der kreativen Selbstverwirklichung, der früher “the young, particularly young women, a feeling of going places” im Kreativbereich gab, tönt inzwischen analog aus Richtung Tech. “Women into Tech” ist somit die Kurzformel für ein neues Allheilmittel. Dabei sind die Arbeitsbedingungen von Coder*innen und Programmierer*innen nicht unbedingt geil, was z. B. ausgebeutete Gamer*innen unter Beweis stellen und die vielen Berichte über sexuelle Belästigung und Rassismus in der Tech-Industrie (vgl. Anna Wiener [2020], Code kaputt: Macht und Dekadenz im Silicon Valley. New York: MCD Books / Farrar, Straus & Giroux .) Zur Geschichte von Arbeitskämpfen in der Tech-Industrie siehe auch Marie Hicks in The Verge.

5 Beispiele für auf die Besitzverhältnisse abzielende Projekte an der Schnittstelle von Kunst und digitalem Aktivismus sind “Collectivize Facebook” von Jonas Staal und Jan Fermon, sowie “Google will eat itself” des schweizerisch-österreichisch-amerikanischen Medienkunstduos Ubermorgen.

6 McKenzie Wark, S. 96.

Autorin

Foto: Paul Niedermayer

Eva Tepest, Berlin

ist Autorin und Journalistin. Mit Lynn Takeo Musiol arbeitet sie an einem queeren Klimaroman. Über Literatur und Medien, Gender und Politik schreibt sie regelmäßig für die taz, den Tagesspiegel und das Missy Magazine. Sie arbeitet im Bundestag im Bereich Kulturpolitik.

Selbstbezüglichkeit statt Relevanz.
Transformationsdefizite öffentlich geförderter Kulturorganisationen

23. Dezember 2020

Der kulturpolitische Diskurs beschäftigt sich nicht erst seit der Corona-Krise mit den vielfältigen strukturellen Defiziten des Kulturbereichs. Eigentlich befinden wir uns schon seit Jahrzehnten in einem wiederkehrenden Dialog über die Transformationsdefizite des Sektors und einer fehlenden Anpassung kultureller Infrastrukturen an den immer schnelleren gesellschaftlichen Wandel. Insbesondere öffentlich geförderte Kulturorganisationen müssen sich den Vorwurf der Veränderungsunfähigkeit gefallen lassen, da wichtige Zukunftstrends – wie etwa die Digitalität, Diversität oder Nachhaltigkeit – angesichts bestehender Pfadabhängigkeiten alltäglicher Steuerungs-, Arbeits- sowie Produktionsroutinen nur unzureichend aufgegriffen werden. Es existieren eine Reihe institutioneller Blockaden, die oftmals ungewollt die Transformationsfähigkeit von Kultureinrichtungen reduzieren.


Ein wesentlicher Faktor für die vorherrschende strukturkonservative Ausrichtung sind die Mechanismen der öffentlichen Förderung durch Bund, Länder und Gemeinden, die wenig Anreize für eine Weiterentwicklung setzen, sondern den vorherrschenden Status quo zementieren. Der größte Teil der Förderung geht dauerhaft an bestimmte Kulturinstitutionen mit den darin verinnerlichten Spartenlogiken. Angesichts dieses in der Regel einigermaßen sicheren Finanzrahmens besteht innerhalb der Systeme keine Pflicht zur Legitimation gegenüber fördermittelgebender Instanzen und damit auch kein Anpassungsdruck. Die dauerhafte Förderung steigert vielmehr die Selbstbezüglichkeit und blockiert eine stärkere Reflexion externer Bedürfnisse im Sinne einer Professionalisierung des künstlerischen Produktionskontexts.


Dieser Aspekt wird dadurch verstärkt, dass sich die öffentliche Förderung durch den Aspekt der künstlerischen Autonomie selbst legitimiert. Eine direkte Beeinflussung der strukturellen Ausrichtungen von Kulturorganisationen durch externe Stakeholder wie Kommunen, Land oder Bund wird häufig kritisiert und die Freiheit zur Selbstgestaltung hochgehalten. Dieses Ideal kultureller Produktionen als Selbstzweck eröffnet dem Kulturbereich in der Selbstwahrnehmung erst den Raum für eine kritische Reflexion gesellschaftlicher Wirklichkeiten. Allerdings blockiert dieser Anspruch nicht selten eine fundierte Auseinandersetzung mit den sich verändernden gesellschaftlichen Legitimations- oder Relevanzkriterien. Sicherlich ist die hier gemeinte künstlerische Freiheit ein hohes Gut und absolut schützenswert. In ihrer derzeitigen Ausgestaltung wird sie als Totschlagargument ins Feld geführt und verhindert die dringend notwendige Debatte über Veränderungsprozesse im Kulturbereich. Auch der Kulturbetrieb ist geprägt von weißen Menschen aus der Mittelschicht, die tendenziell hohe Bildungsabschlüsse haben. Wenn im Kulturbetrieb also künstlerische Freiheit gefordert wird, sollte mindestens ebenso kritisch zurückgefragt werden, wessen Freiheit hier eigentlich gemeint ist.


Zur Fundierung des Diskurses braucht es eine gedankliche Trennung zwischen strukturellen und programmatischen Eingriffen kulturpolitischer Entscheidungsträger*innen. Externe Vorgaben und Unterstützungsleistungen für eine Neuausrichtung des Produktionskontexts sind mittlerweile notwendig, um zeitgemäße sowie relevante Produktionen zu stärken. Dadurch lässt sich auch das Handlungsfeld der Kulturpolitik professionalisieren, das sich – auch aufgrund der nicht akzeptierten Einflussnahme – zu einer Art Kulturförderpolitik entwickelt hat. Kulturorganisationen basieren oftmals auf einer akademischen Produktionslogik, sind nicht selten extrem hierarchisch ausdifferenziert und verinnerlichen dadurch eine starke Machtzentrierung auf wenige Funktionsträger. Diese althergebrachten Strukturen der Ablauforganisation stehen aufgrund ihrer Tradition zwar für Stabilität, allerdings sorgen sie auch für Trägheit bei der Neuausrichtung. In diesem Zusammenhang wirken auch die Verflechtungen und Pfadabhängigkeiten zwischen den unterschiedlichen Träger-, Verwaltungs- und Politikebenen als Barrieren für Veränderungen. Nicht selten werden etwa Digitalisierungsvorhaben durch bürokratische Vorgaben blockiert oder verhindert. Mahnende Beispiele sind die vielen kommunalen Kultureinrichtungen, die nur aufgrund ihrer Einbindung in die hierarchische Ordnungsstruktur der Verwaltung keine eigene Webseite und auch keine Social-Media-Kanäle betreiben dürfen.

Die hier gemeinten Verflechtungen und Pfadabhängigkeiten führen auch dazu, dass es im Kulturbereich an querschnitts- und damit ressortübergreifenden Prozessen mangelt, die Synergien durch vernetztes Denken und kollaboratives Arbeiten ermöglichen würden. Gerade der Aspekt der Kollaboration ist eine entscheidende Voraussetzung für mögliche Veränderungen im Kulturbereich, da in derartig organisierten Arbeitskontexten unterschiedliche Expertisen – auch außerhalb der Organisation – in den Produktionsprozess integriert werden und in der Regel auch Personen beteiligt werden, deren Ansprüche, Denkweisen oder Fähigkeiten in der Kulturarbeit noch zu wenig repräsentiert sind. Aus diesem Grund braucht es gerade heute eine starke Kulturpolitik, die neue Leitbilder, Vorgaben, Forderungen und Förderungen erarbeitet oder bereitstellt, mit denen Kulturorganisationen dazu gebracht werden können, die eigene Arbeit stärker zu überprüfen und neu auszurichten. Es bedarf veränderter Unterstützungsleistungen, wie Coachings, Beratungs- und Weiterbildungs- bzw. Kompetenzentwicklungsangebote für neues Arbeit oder Innovationen für Kulturschaffende und -institutionen. Im Kulturbereich gibt es indes – nach Abschluss der Berufsausbildung – aufgrund fehlender Budgets und Infrastrukturen kaum Möglichkeiten zur weiteren Qualifizierung für das eigene Wirkungsfeld. Es mangelt schlicht an einer Kultur der Weiterbildung und gezielten Kompetenzentwicklung.

Die Kulturpolitik versucht derzeit den Wandel im Feld der Kultur durch projektbasierte Innovations- oder Transformationsförderungen zu erreichen, die allerdings nur äußerst selten eine dauerhafte und damit nachhaltige strukturelle Anpassung des Kultursystems möglich machen – in der Regel nur dann, wenn in der Führung und bei den Beschäftigten ein Wille zur Veränderung sowie eine Akzeptanz damit verbundener Anpassungen der Strukturen vorhanden sind. Ernsthafte und langfristige Veränderungen müssen in Abstimmung zwischen den fördermittelgebenden Instanzen und den Organisationen erfolgen und auf Dauerhaftigkeit entsprechend gemeinsam entwickelter Zielstellungen ausgerichtet sein. Diese Prozesse der Abstimmung, Verhandlung und Koordination struktureller Anpassungen müssen mitsamt damit verbundener Methoden oder Strategien von den beteiligten Akteurinnen noch gelernt werden. Passend dazu braucht es – verstärkt durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie – einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs über Zukunftsfragen in Kunst und Kultur.


Angesichts der Vielzahl an Verflechtungen, Pfadabhängigkeiten und Bürokratien stellt sich durchaus die Frage, wie sich der Kulturbereich dauerhaft entsprechend des gesellschaftlichen Wandels weiterentwickeln kann. Die tiefgreifende Auseinandersetzung mit dieser Herausforderung wird in den kommenden Jahren einer der zentralen Schwerpunkte der kulturpolitischen Forschungsarbeit des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, das sich auf diese Weise stärker als Think Tank für die Transformation des Kulturbereichs positionieren und eine dringend notwendige Debatte über die Zukunfts- beziehungsweise Innovationsfähigkeit des Kulturbereichs führen möchte.

Autor

Foto: Roland Baege

Dr. Henning Mohr, Bochum

Leiter des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V.