»Zurück in die Zukunft IV«

2. März 2021

Was liegt jenseits von Big Tech?

In den frühen 1970er Jahren entstand in Chile zur Zeit Salvador Allendes eines der ersten Computernetzwerke überhaupt: Fabriken und Lagerbestände wurden mit einem System von Fernschreibern ausgestattet, die miteinander verbunden waren und ihre Daten an einen Computer in Santiago übermittelten. So sollte die Effizienz der zentral gesteuerten Wirtschaft in einer Zeit, in der es aufgrund von politischen Spannungen einen Mangel an alltäglichen Waren gab, gesteigert werden. Eine Gruppe junger, idealistischer Forscher*innen unter der Leitung des Ingenieurs Fernando Flores entwickelte dieses Projekt. Als Berater und Experte für Netzwerke wurde der britische Kybernetiker Stafford Beer an Bord geholt. Der geplante zentrale Steuerungsraum des Netzwerks in Santiago, in dem die Daten aus den Fabriken ausgespielt und durch Filmprojektoren grafisch dargestellt werden sollten, wurde vom Gestalter Gui Bonsiepe konzipiert. In seinem futuristischen Design spiegeln sich die Techno-Utopien und der Fortschrittsoptimismus der Zeit wider: Betrachtet man heute die Entwürfe, fühlt man sich unweigerlich an die Star Trek-Serie oder Stanley Kubricks Science-Fiction-Klassiker 2001Odyssee im Weltraum erinnert.

Doch warum dieser Exkurs ins tiefe 20. Jahrhundert, wenn es um heutige digitale Transformationen geht?

Während der Lektüre von Eva Tepests Essay, in dem sie unter anderem vorschlägt, die gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung vor dem Hintergrund von Arbeitskämpfen und Klassenbewusstsein zu lesen, fühlte ich mich unweigerlich an diese historische Episode erinnert. Das Cybersyn (»cybernetic synergy«) genannte chilenische Computernetzwerk – im Zuge des Militärputsches von 1973 stillgelegt – kann als ein erster Vorläufer des heutigen Internet gesehen werden. Doch es erinnert sich kaum jemand daran. Hätten nicht Wissenschaftler*innen und Künstler*innen im Bereich von Medienkunst und digitaler Kultur wie Eden Medina dazu publiziert und gearbeitet (und Autor*innen wie Sascha Reh in seinem Roman Gegen die Zeit), wäre dieser frühe Versuch der Vernetzung heute vergessen. Aufgabe einer Kulturpolitik im Kontext der gegenwärtigen digitalen Transformationen sollte es sein, dieses differenzierte und kritische Wissen fruchtbar zu machen und Räume für eine öffentliche Diskussion zu schaffen, in der – ähnlich wie von Eva Tepest gefordert – technischer und sozialer Fortschritt zusammengedacht werden.

Durch meine Familiengeschichte habe ich zugegebenermaßen ein besonderes, persönliches Interesse am kulturellen und auch technischen Aufbruch in dieser Zeit, der für einen kurzen historischen Moment andere Perspektiven eröffnete als diejenigen, die sich im digitalen Kapitalismus unserer Gegenwart manifestieren. Doch auch über die individuelle Biografie hinaus stehen Cybersyn und viele andere Projekte für mich sinnbildlich für die vergessenen oder unsichtbar gemachten Geschichten im Kontext der Digitalisierung.

Die Geschichtlichkeit digitaler Medien

In der öffentlichen Debatte ist die Tendenz erkennbar, technische Entwicklungen als disruptive Phänomene in einer scheinbar geschichtslosen Gegenwart zu verstehen und sie mithilfe von Innovationsrhetoriken in eine lineare, unvermeidbare Zukunft hinein zu projizieren. Die digitalen Medien jedoch, die für uns heute so selbstverständlich geworden sind, haben eine Geschichte, die unmittelbar verwoben ist mit politischen und ökonomischen Entwicklungen und Entscheidungen. Sie lassen sich nicht isoliert davon betrachten. Und somit stellen sie auch nur eine von vielen Möglichkeiten dar, was Technologie sein kann. Ein Beispiel: Forscher*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen haben schon seit geraumer Zeit offen gelegt, auf welchen, teils biologistischen Annahmen die Algorithmen der so wirkmächtigen sozialen Netzwerke basieren, über die ein Großteil der sozialen Kommunikation unserer Gegenwart läuft. Die Grundthese besagt, dass die Vernetzung nach dem Muster von Ähnlichkeit funktionieren soll – seien dies nun Klasse, Hobbies, Interessen, Positionierung im politischen Spektrum oder der Beruf. Doch welches Gesellschaftsverständnis liegt dem zugrunde? Ließe sich nicht auch ein anderes, weniger Homogenität suchendes und in sich geschlossenes Ordnungsprinzip dieser Plattformen denken? Wäre dies nicht auch ein möglicher Weg, um die Abkopplung der gesellschaftlichen Milieus voneinander zu verhindern? Anhand dieses recht simplen Beispiels lässt sich gut nachvollziehen, dass die gegenwärtigen Technologien immer auch politisch sind und einen Teil der Ideologie, die sie hervorgebracht hat, mittransportieren. Verändert man nur ein Element in der Gleichung, ist man manchmal schon in einer anderen Realität – mit sehr manifesten Konsequenzen und Möglichkeiten.

Alternative Technologieentwürfe gibt es nicht nur in der Science-Fiction: Der Bereich von Medienkunst und digitaler Kultur stellt in diesem Zusammenhang ein enormes Wissensreservoir dar. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts experimentieren und forschen Künstler*innen mit den Möglichkeiten digitaler Medien als Gestaltungs- und Ausdrucksmittel. Dabei entsteht ein differenziertes Verständnis der Zusammenhänge zwischen Technologie und Gesellschaft. Und es entwickelten sich selbstermächtigende technologische Praxen, zum Beispiel im Bereich der Hacker*innenkultur, der Open Source-Bewegung und des Critical Engineering – der Umgang mit Technologie also als Aneignung und kritische Auseinandersetzung.

Die frühen Netz-Avantgarden propagierten einen selbstbestimmten Umgang mit Technologie, der sich nicht mit den Voreinstellungen der damals gängigen Software und Hardware begnügte. Ähnlich der Umnutzung von Plattenspielern als Musikinstrumente und künstlerische Werkzeuge, zum Beispiel im Hip-Hop, ging es der kritischen Medienkultur stets darum, Technologie »gegen den Strich zu bürsten«, sie nach den eigenen Regeln umzufunktionieren und zu verändern, um auf diese Weise Potentiale freizulegen, die nicht nur einer kommerziellen Verwertbarkeit nützlich sind. Stets ging es darum, Grenzen auszutesten – manchmal auch die Grenzen der Legalität. Doch durch diesen Aktivismus konnten viele politische und technische Fragen und Probleme im Zusammenhang mit Technologie offengelegt werden, beispielsweise Fragen zu Datensouveränität und -missbrauch, Privatsphäre und Anonymität, Sicherheitslücken und viele weitere.

Die alten Ideale dieser Avantgarde wie der dezentrale Wissensaustausch, der freie Zugang zu Technologie, die Überwindung alter Diskriminierungsmuster im Netz, die Unabhängigkeit von wenigen, dominierenden Konzernen, die Fähigkeit Code zu lesen und ihn zu bearbeiten, sind heute wichtiger denn je, auch wenn sich in den Filterblasen und Echokammern der Fake News und Hate Speech heute das Gegenteil dieser Ideale zu manifestieren scheint. Critical Engineering und vergleichbare Praxen stammen aus einer Zeit, in der die Kommerzialisierung der digitalen Sphäre noch nicht völlig abgeschlossen war. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, sich an sie zu erinnern, sie auch im Kontext von Kunst und Kultur neu zu lesen und zu fragen, was sie heute bedeuten könnten.

Eine solche Diskussion lässt sich nicht bloß als nachträgliche künstlerisch-kulturelle Aufarbeitung oder Illustration von »cutting edge« technologischen Innovationen betreiben, sondern sie sollte – insbesondere vor dem Hintergrund der fortschreitenden Zerstörung unserer Lebensgrundlagen durch die Idee von grenzenlosem Wachstum – die Frage stellen, welcher Fortschritt für die globale Gesellschaft eigentlich wünschenswert ist. Sie sollte die durch »Convenience« und wolkige Wordings vernebelten neuen Ausbeutungsverhältnisse zum Beispiel in der Logistik und Rohstoffindustrie oder der Fertigung von Hardware sichtbar machen, die eine sehr materielle Grundlage dessen darstellen, was wir heute unter »Digitalisierung« verstehen. Sie sollte die Frage aufwerfen, welche neuen Begriffe von Arbeit, Sinnstiftung und Anerkennung wir brauchen, wenn sich das Versprechen auf Vollbeschäftigung durch die fortschreitende Automatisierung nicht mehr einlösen lässt. Und welche Logiken und Annahmen hinter den Diskriminierungsmustern und Machtverhältnissen stecken, die sich in den Algorithmen heutiger sozialer Medien und Plattformen manifestieren.

Rassismuskritischer Aktivismus hat in den letzten Jahren sichtbar gemacht, welche Körper in den digitalen Plattformen als Norm gelten und welche nicht. Der Grund liegt in der nach wie vor weitgehend homogenen Struktur der Gruppe der Autor*innen dieser Plattformen und Programme. Nicht zuletzt sollte es – neben vielen anderen Fragen – auch um das Verhältnis von privater und öffentlicher Hand im Zusammenhang mit der kritischen digitalen Infrastruktur gehen. Soll die Gestaltung der öffentlichen Räume im Digitalen und in den Smart Cities der Zukunft gänzlich wenigen Unternehmen mit vornehmlich kommerziellem Interesse überlassen werden? Die aktuelle Pandemie hat unter anderem auch gezeigt, welche Brüche es beim Zugang zu Technologie entlang der Linien von Klasse, Herkunft, Einkommen und weiteren Determinanten gibt – können wir uns damit begnügen, dass dies nicht zu ändern ist?

Jenseits von Big Tech

Eines der wesentlichen Anliegen der Arbeit im medienwerk.nrw, einem Netzwerk von Institutionen und freien Akteur*innen in Nordrhein-Westfalen, die sich mit Medienkunst und digitaler Kultur beschäftigen, besteht in der Pluralisierung der Erzählungen über Technologie. In individuellen und kooperativen Projekten gehen viele der beteiligten Partner*innen unter anderem der Frage nach, welche Technoimaginationen jenseits der libertär-kapitalistischen Erzählungen und Gründungsmythen von »Big Tech« liegen (vereinfacht gesagt, die Idee, dass in freien Märkten und Unternehmen allein die besten Ideen für gesellschaftlichen Fortschritt entstehen, der Staat sich am besten heraushalten sollte und Technologie in der Lage ist, so gut wie alle gesellschaftlichen Probleme zu lösen, wenn man sie nur machen lässt). Und nach welchen anderen Prämissen – jenseits von kommerziellen Interessen und Expansion – Technologien gestaltet werden können. Cybersyn, revisited, aber eben auch als Auseinandersetzung mit Medienkulturen in vielen weiteren Gegenden der Welt, die oftmals übersehen oder nicht ernst genommen werden.

Dies alles sind gesamtgesellschaftliche Fragen, die sich natürlich nicht allein im Kulturbereich diskutieren lassen. Eine gute Nachricht dabei ist, dass viel Wissen darüber bereits existiert und Kulturpolitik mit ihren Mitteln dabei helfen kann, es mit anderen Gesellschaftsbereichen zu verknüpfen und zu übersetzen. Natürlich braucht es einen angemessenen technischen Standard, um Institutionen und Bildungseinrichtungen zukunftsfähig zu machen. Hier ist selbstverständlich noch einiges nachzuholen. Eine offene, debatten- und experimentierfreundliche Kulturpolitik im Bereich des Digitalen hätte aber eben nicht nur mit der Anschaffung neuester (bald veralteter) Technik zu tun, sondern mit der Entwicklung neuer Schnittstellen für dieses Wissen, der Ermöglichung neuer Allianzen mit dem Ziel von Selbstermächtigung und Emanzipation im Kontext von Technologie und einer langfristigen und vielstimmigen Auseinandersetzung.

In vielen Kunst- und Kulturbereichen sind bereits seit Jahren und Jahrzehnten wesentliche Anliegen zur Stärkung der kulturellen Landschaft in der Region formuliert worden, die mit Möglichkeiten zu tun haben, längerfristig an Themen und Fragestellungen arbeiten zu können und somit Produktionsdruck herauszunehmen. Die Basis hierfür wäre wohl eine Kultur des Vertrauens in die Kulturproduzent*innen, die sich in einer größeren Zugänglichkeit zu strukturellen Förderungen und in einer Reduzierung des Verwaltungsaufwands bei Förderungen auf Seiten von Akteur*innen und Fördergeber*innen niederschlagen müsste. Auch die Stärkung von diverser Repräsentanz in Jurys, Gremien, Institutionen, Verwaltung und Positionen mit Entscheidungsmacht ist eine Forderung, die unbedingt unterstützenswert ist, um Künste und Kultur zu fördern, die in einem stetigen Stoffwechsel mit der vielfältigen gesellschaftlichen Realität stehen.

Wenn ich diesen bereits seit Längerem existierenden Ideen etwas aus Sicht von Medienkunst und digitaler Kultur hinzufügen dürfte, wäre es, die Debatte über Technologie nicht auf die bloße Anwendung von Technik zu verengen, sondern sie als lebendige soziale und politische Diskussion zu verstehen, die alle etwas angeht und auch für alle zugänglich sein sollte. Technologie ist zu einem Teil der Natur geworden, die uns umgibt und längst schon auch unsere Körper und unser Bewusstsein durchdringt. Wir sollten versuchen, diese Prozesse zu verstehen und zu gestalten – nicht nur nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Sehr viele der aktuell drängenden Fragestellungen lassen sich als technologische Fragestellungen diskutieren. Eine Öffnung der Debatte und eine Verknüpfung zum Beispiel mit den aktuellen sozialen und ökologischen Bewegungen wird uns dabei helfen, uns im Dickicht der Gegenwart zu orientieren und unsere Vorstellungskraft für das, was möglich ist, zu trainieren.

Autor

Foto: Anneke Dunkhase

Fabian Saavedra-Lara

ist ein deutsch-chilenischer Kurator im Kontext Medienkunst und digitale Kultur. Er leitet seit 2013 das Büro des medienwerk.nrw.

Handschlag mit der Realität. Gedanken zu einer Überholung des Kulturbetriebs

25. Februar 2021

These 1: Die Professionalisierung von Ein-/Ausschlussverfahren ist konstitutiv für den Kulturbetrieb.

Interkultur Ruhr arbeitet im Auftrag des Regionalverbands Ruhr seit 2016 daran, freie Kulturakteur*innen zu fördern, zu vertreten und sichtbar zu machen, die sich als BiPoCs, diasporisch, migrantisch oder migrantisiert positionieren.

ODER: die aufgrund von Rassismus und damit auch häufig Klassismus diskriminiert werden.

ODER: deren Kunst- und Kulturarbeit sich bewusst in den Zusammenhang einer grundsätzlichen migrantischen Situiertheit unserer Gesellschaft stellt.

Dabei sind es nur manchmal die Akteur*innen selbst, die ihre Arbeit so verstehen. Öfter ist die Bezeichnung Interkulturelle Arbeit eine Reaktion auf die Markierung von außen. Zwar ist das Ruhrgebiet ohne Migration nicht zu denken – aber auch immer noch nicht ohne das konstruierte Migrations-Andere. Das Wir des Projekts Interkultur Ruhr ist eine Reaktion auf das von den Regelsystemen konstruierte Ihr. Denn Ausschluss wird hier zum Identitätsprinzip erklärt und manifestiert eine Nische in der ansonsten weiß dominierten Kulturlandschaft. Das zeigt sich auch in der Ausstattung des Projekts: Im Hinblick auf die Vielzahl von Akteur*innen und Formaten, stellen wir das wohl größte Feld kultureller Praxis dar, sind aber im Hinblick auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen das kleinste Projekt der Nachhaltigkeitsmaßnahmen der RUHR.2010.

Die meisten der engen Kolleg*innen leben unter kontinuierlicher Bedrohung.
Hanau. Halle. Duisburg. Solingen. Krefeld.
Vor langer Zeit, gestern, heute, morgen.
Und die, die bestellt sind, zu schützen, sind oftmals auch gefährlich.
Die institutionalisierten Kulturräume sind weiß: Angefangen von den Leitungsetagen der Häuser, den Angestellten in der Administration, den Programm- und Förderjurys, bis hin zu den etablierten Akteurinnen der Freien Szene. Hier ist der strukturelle Ausschluss und damit einhergehende permanente Vorgang von Othering und Exklusiv Alltag. Interkulturelle Arbeit im Ruhrgebiet ist also nicht zu denken, ohne dass rassistische und antisemitische Gewalt angesprochen wird.

Das betrifft auch die Erinnerung. Nach wie vor ist die Kontinuität dieser Gewalt nicht in das kollektive Gedächtnis der Region eingetragen. Wir müssen über Ungerechtigkeit reden.
Über Vorteile, Vorurteile und Versäumnisse.
Darüber, wer meistens viel bekommt.
Darüber, in welcher Kontinuität das steht.
Darüber, was es bedeutet, weiß zu sein.
Über Kolonialismus, Zwangsarbeiter*innen und Gastarbeiter*innen.
Und wer wen verwaltet.

These 2: Arbeitsrealitäten von Mikrostrukturen handeln außerhalb der Förderlogik.

Doch: Es ändert sich langsam etwas.
Wir profitieren jetzt von der Arbeit der sozialen Bewegungen, der organisierten Minderheiten der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte. Sie haben ihre Arbeit mit geringster institutioneller Unterstützung verwirklicht, ohne strukturelle Förderung und medialem Konfettiregen.

Der Wunsch und die Dringlichkeit nach künstlerischem Ausdruck, und die Selbstsorge-Notwendigkeit von Communities führen dazu, dass ohnehin prekäre Arbeitsrealitäten historisch und aktuell an den äußersten Rand der Selbstausbeutung geraten. Lokale Projekte und Mikrostrukturen erledigen grundlegende Arbeit vor Ort und Stelle. Sie verfügen über Netzwerke, für die große Institutionen ansonsten Outreach-Kurator*innen und Community-Manager*innen temporär einstellen. Und doch erleben sie selten genügend (monetäre) Entlohnung.

Denn: In der Logik bürokratisch aufgeladener Projektförderung ist dieses Tätigsein kaum abzubilden. Spontane, bedarfsorientierte Kulturarbeit dieser Gruppen kann weder sprachlich noch formal dem Regelwerk öffentlicher Förderrichtlinien entsprechen. (Beispiele und Erhebungen zum Thema unbezahlter Arbeit sind in der Dokumentation zum Förderfonds (2018, S. 16) bzw. (2019, S. 13) zu finden.)

Auch hier zeichnen sich erste Veränderungen ab: Im vergangenen Jahr haben diverse Maßnahmenpakete Stipendien zur Unterstützung der Kunst- und Kulturarbeiter*innen ausgelobt. Sie motivieren dazu, die eigene Praxis jenseits von konkreten Projekten als förderwürdig zu verstehen. Selten hat ein so breites Spektrum von Akteur*innen die gleiche Förderung erhalten. Einen Moment lang wurde kaum selektiert, sondern vergeben. Das Anliegen und der Bedarf selbst werden eher vorausgesetzt als beurteilt.

These 3: Entscheidungen sollten auf Dissens und Heterogenität basieren.

Was es jetzt braucht, ist die gleichzeitige Reformation von Regelinstrumenten und –institutionen, sowie die Stärkung der Selbstorganisationen.
Wenn das Interesse daran wirklich ernst gemeint ist, dann muss in diesen Bereichen wesentlich mehr Geld in die Hand genommen werden.
Mehr Mut gesammelt werden, sich selbst aufs Spiel zu setzen.

Wie sieht eine Kulturförderung aus, die unterschiedliche ästhetische Vorstellungen anerkennt?

Ist die Grenzziehung zwischen professionellem und amateurhaftem Kunst- und Kulturschaffen dann überhaupt noch aufrechtzuerhalten?

Wir brauchen anti-hegemoniale und kontroverse Verfahren, um über die Verteilung von Ressourcen und Jobs zu entscheiden. Das heißt: Viele sehr verschiedene Leute sollten an diesen Entscheidungen beteiligt sein.

Wir müssen die angstvolle Vorstellung davor verlieren, dass eine Praktik des Vertrauens in die Breite existierender künstlerischer Formen und Qualitätsvorstellungen im Chaos endet.

Das tut es nicht: Im Gegenteil könnte so eine Kulturlandschaft entstehen, die der Pluriversatilität der Gesellschaft entspricht, in der wir leben.

Und mal ehrlich:
Die Arbeit wird ohnehin gemacht.
Es ist jetzt an der Zeit, dass die, die über die Ressourcenverteilung entscheiden, lernen, hinzusehen und als Arbeit anerkennen, was sich vielleicht den etablierten Kategorien von Wert in der Kultur entzieht. Ankunft in der Gegenwart!
Wir müssen ein genaues Hinschauen und Zuhören organisieren.
Vielleicht sollten Fördermittel sozialräumlich vergeben werden, nicht genrespezifisch.
Vielleicht können Stadtviertel Verfahren entwickeln, wie die dort lebenden Kunst- und Kulturschaffenden die Ressourcen verteilen.
Um hier fair miteinander umzugehen, ist viel Arbeit an der Selbsteinschätzung gefragt: Diskriminierungskritische Qualifizierung und Stärkung marginalisierter Strukturen sind Schlüssel, um neu hören und sehen zu können, um eingeübte Bewertungsaffekte zu überwinden. Deswegen müssen Auswahlgremien ihre künstlerisch-ästhetischen Kriterien enger an gesellschaftliche und politische Realitäten anknüpfen.

Es ist ein guter Moment um grundsätzlich zu werden, Zögerlichkeit zu überwinden und den eigenen Standpunkt zu konsolidieren. Dazu gehört auch: Eine permanente Überprüfung der Ausschlüsse, die man selbst produziert.

Das Ziel ist: Die institutionalisierten Verhältnisse poröser zu machen und die Potenziale und Praktiken selbstverwalteter und -organisierter Arbeit zu stärken und einzubringen.

Für eine gemeinsinnige Kulturlandschaft, die Platz für Viele schafft.

Autorinnen

Foto: Nana Hülsewig

Johanna-Yasirra Kluhs
ist freie Programm- und Produktionsdramaturgin. 2016-21 ko-leitet sie mit Fabian Saavedra-Lara das Projekt Interkultur Ruhr. www.interkultur.ruhr

Foto: Rabia Çalışkan

Fatima Çalışkan
ist freie Künstlerin und Kuratorin. Sie berät u.a. Projekte für den Förderfonds Interkultur Ruhr.

Teile dieses Textes sind am einem Vortrag unter dem Titel Seid ihr okay!? beim Branchentreff des Performing Arts Programs 2020 sowie den Kulturpolitischen Handlungsempfehlungen von Interkultur Ruhr entnommen.

Transformationsforderungen an die Kulturpolitik von Kulturschaffenden mit Behinderungen

23. Februar 2021

Das deutsche Feld der Disability Arts ist eine wachsende, lebendige und aufregende Sphäre. Trotzdem haben wir noch einen langen Weg vor uns, bis wir Kulturschaffenden mit Behinderungen das gleiche Maß an Unterstützung erhalten wie unsere internationalen Kolleg*innen. Ich bin mir aber sicher, dass mit der richtigen Kulturpolitik die Disability Arts in Deutschland in der Lage sein werden, ihr Potenzial als international anerkannter und integraler Bestandteil unserer zeitgenössischen Kulturlandschaft zu entfalten.

Diese Unterstützung ist von entscheidender Bedeutung: Trotz des gestiegenen Bewusstseins und Interesses an Disability Arts in Deutschland gibt es immer noch eine tiefgreifende Unterrepräsentation und Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in den Künsten – auch bekannt als Ableismus. Ein Weg, diese Diskriminierung zu überwinden, ist die Gründung von Kunstorganisationen für Menschen mit Behinderungen. Und insbesondere von Kunstorganisationen, die von Menschen mit Behinderungen geleitet werden, die die Solidarität zwischen Künstler*innen fördern und Ressourcen mit dem allgemeinen Kultursektor teilen. Solche Organisationen sind entscheidend, um den Bekanntheitsgrad behinderter Künstler*innen zu erhöhen.

Best Practice auf Organisationsebene

Weil sie in der Lage sind, auf deren Zugänglichkeitsbedürfnisse einzugehen, können sie dies auf eine empowernde Weise tun. Sie arbeiten daran, die Chancen und die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderung als Künstler*innen, Kunstschaffende und Publikum zu verbessern. Zum Beispiel bieten eine Reihe kleiner lokaler Organisationen wie Berlinklusion (Berlin), Diversity Arts Culture (Berlin), Platz Da! (Berlin) und EUCREA (Hamburg) dem deutschen Kultursektor Informationen, Beratung und in einigen Fällen auch Schulungen an, und geben Künstler*innen mit Behinderung eine Plattform, um sich Gehör zu verschaffen.

In ähnlicher Weise haben eine Reihe von Konferenzen und Symposien, die sich in jüngster Zeit mit den Themen Behinderung, Zugänglichkeit und Inklusion befasst haben, die Möglichkeiten zum Austausch von Wissen, Best Practice und Ressourcen auf nationaler und internationaler Ebene verbessert, wie zum Beispiel Meeting Place (organisiert von Berlinklusion im Jahr 2017), Disability Art & Crip Spacetime (organisiert von Noa Winter und Dr. Nina Mühlemann für das NO LIMITS Festival im Jahr 2020) und ARTivismus von Künstler*innen mit Behinderung (organisiert von Linda Müller und Jana Zöll für das Grenzenlos Kultur Festival im Jahr 2020).

Ableismus im Kultursektor

Allerdings muss auf Landes- und Bundesebene mehr getan werden, um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung an Kunst & Kultur zu erhalten und zu erhöhen. Organisationen, die durch behinderte Menschen geleitet werden und Disability Arts-Organisationen, haben enorm viel getan, um die Arbeit von Künstler*innen mit Behinderungen zu fördern und zu unterstützen. Es gibt aber im sogenannten »Mainstream«-Kultursektor einiges zu tun, um gegen Ableismus vorzugehen. Die Überarbeitung und Neuformulierung der Kulturpolitik auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene ist ein Weg, um solche Veränderungen endlich auf den Weg zu bringen.

Inklusion in politischen und künstlerischen Entscheidungsprozessen

Erstens müssen wir überprüfen, wie unsere gegenwärtige Kulturpolitik gemacht wird, und fragen, inwieweit dieser Prozess diejenigen einbezieht, denen diese Politik angeblich dienen soll. Warum spielt Zugänglichkeit nicht eine stärkere und zentralere Rolle in unserer Kulturpolitik? Bestehen die Berater*innen der politischen Entscheidungsträger auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene aus einem vielfältigen Team von Kulturschaffenden mit einem breiten Spektrum an Erfahrungen und mit unterschiedlichen Behinderungen? Wo dies noch nicht der Fall ist, müssen die Erfahrungen von Künstler*innen und Kulturschaffenden mit Behinderungen in künftige Kulturpolitik einfließen und diese mitgestalten. Insbesondere sollte unsere bestehende Kulturpolitik so umgeschrieben werden, dass die verschiedenen Arten der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen im Kulturbereich abgebaut werden – sei es beim Besuch von Kulturveranstaltungen als Teilnehmer*innen, bei der Suche nach einer Beschäftigung als Künstler*in oder Kunstschaffende*r, oder beim Erwerb einer Ausbildung oder Qualifikation in der Kunst oder Kultur.

Gesetzliche Rahmenbedingungen

Zweitens kann Kulturpolitik mehr tun, um die bestehenden gesetzlichen Anforderungen bezüglich der Rechte von Menschen mit Behinderungen auf Zugang zur Kultur durchzusetzen. Während andere Länder wie Großbritannien und Australien weitaus strengere Maßnahmen zur Durchsetzung dieser Gesetze haben, wie zum Beispiel die Kürzung öffentlicher Mittel für Kultureinrichtungen, die bestimmte Quoten bei der Teilnahme oder Beschäftigung behinderter Menschen nicht erfüllen, gibt es in Deutschland kaum Konsequenzen für Kultureinrichtungen, die Zugänglichkeit unzureichend umsetzen. Um hier Abhilfe zu schaffen, könnte die Kulturpolitik einen stärkeren Rahmen für die Rechenschaftspflicht öffentlich geförderter Kultureinrichtungen schaffen, um Barrierefreiheit für behinderte Zuschauer und Mitarbeiter*innen gleichermaßen umzusetzen. Abgesehen davon sollte Kulturpolitik auch bessere Unterstützung für Kulturorganisationen bereitstellen, damit diese den Übergang von der bisherigen Unzugänglichkeit zu zukünftig mehr Zugänglichkeit schaffen können. Beispielsweise können (vor allem kleinere) Kulturorganisationen dabei unterstützt werden, bauliche Zugänglichkeit zu verbessern, Schulungen für Mitarbeiter*innen durchzuführen und angemessene Vorkehrungen für Mitarbeiter*innen mit Behinderungen zu treffen. Kulturelle Organisationen, die Werke von Künstler*innen mit Behinderungen in Auftrag geben, präsentieren und/oder Kulturschaffende mit Behinderungen in (vor allen Dingen!) Führungspositionen beschäftigen, sollten ermutigt werden und verstärkt Orientierungsangebote erhalten.

Ausschließlich barrierefreie Zugänge

Schließlich kann Kulturpolitik dazu beitragen, die Kulturförderung des Bundes, der Länder und der Kommunen behindertengerecht zu verwalten und zu verteilen. Auch hier ist die Einbindung von Kunstschaffenden mit Behinderungen als Berater*innen in Fördergremien ein wichtiger Schritt. Wir müssen uns fragen: Wie können wir die Barrierefreiheit und die damit verbundenen Kosten als integralen Bestandteil der Kunstproduktion betrachten – und nicht wie bislang als Sahnehäubchen oder nachträgliches Element?

Auf lokaler Ebene hat es einige positive Schritte in die richtige Richtung gegeben. Zum Beispiel beinhalten sowohl die Förderungen der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin als auch des Hauptstadtkulturfonds Anforderungen zur Barrierefreiheit von Ausstellungen und anderen kulturellen Veranstaltungen. Neue Förderlinien wie Durchstarten und IMPACT-Fonds bieten auch eine barrierearme Förderung für einzelne Künstler*innen mit Behinderungen in Berlin. Das ist schön und gut, aber: Die gesamte reguläre Kunstförderung auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene muss für alle Künstler*innen und Kunstschaffenden zugänglich sein, die sich bewerben möchten – unabhängig davon, ob sie eine Behinderung haben oder nicht.

Die Kulturpolitik könnte sicherlich über die bloße Bereitstellung von Mitteln für die Kunstvermittlung oder die bauliche Zugänglichkeit für ein Kunstpublikum mit Behinderungen hinausgehen. Sie muss damit beginnen, die Finanzierung qualitativ hochwertiger kultureller Arbeit zu fördern und zu erleichtern, die von Künstler*innen und Kunstschaffenden mit Behinderungen produziert wird.

Autorin

Dr. Kate Brehme

ist freie Kuratorin und Kunstvermittlerin mit einer Behinderung. Sie hat in Australien, Schottland und Deutschland eine Vielzahl von Projekten, Ausstellungen und Veranstaltungen geleitet und als Kunstvermittlerin für Organisationen wie The Fruitmarket Gallery in Edinburgh und The National Galleries of Scotland gearbeitet. Seit 2008 leitet sie Contemporary Art Exchange, eine kuratorische Plattform für internationale Projekte, Ausstellungen und Veranstaltungen, die professionelle Entwicklungsmöglichkeiten für aufstrebende, junge und marginalisierte Künstler*innen bietet. Im Jahr 2017 gründete Kate zusammen mit Dirk Sorge, Jovana Komnenic und Kirstin Broussard Berlinklusion, das Berliner Netzwerk für Zugänglichkeit in Kunst und Kultur, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Berliner Kunst- und Kulturszene für Künstler*innen und Publikum mit Behinderungen zugänglicher zu machen. Seit Oktober 2020 arbeitet Kate Brehme als Disability Kunst und Kultur Referentin für Diversity Arts Culture.

Meine Kultur ist systemrelevanter als deine Kultur.
Umsehenlernen im Lockdown

18. Februar 2021

Kulturförderung ist ein heikles Thema, egal von welcher Seite man sich ihm nähert. Bei Kulturförderung denkt man zunächst an Förderungen durch die öffentliche Hand. An finanzielle Unterstützungen für Projekte, deren Förderungswürdigkeit von Bürger*innen, deren Steuergelder dabei zum Einsatz kommen, mehr oder weniger anerkannt wird. Kein Kulturprodukt oder -projekt gefällt allen, entsprechend gefällt auch geförderte Kultur immer nur einer mehr oder weniger großen Gruppe von Menschen. Insofern erscheint es sinnvoll, sich von der Vorstellung einer allgemeingültigen nationalen Kultur, die besonders förderungswürdig ist, zu verabschieden. Und als zeitgemäßeres Ziel zu definieren, möglichst vielfältig Kulturen repräsentieren zu wollen, um entsprechend viele im Land lebende Menschengruppen anzusprechen.

Dies heißt nicht, dass die überwiegend von ablen weißen cis hetero Männern geprägte Kultur des bürgerlichen Zeitalters keine Rolle mehr spielen soll. Sie soll nur nicht mehr unhinterfragt dominieren und den Blick auf ›die Anderen‹ und ihre Kulturen verstellen. Millionen Menschen sehnen sich nach angemessener Repräsentation in der Öffentlichkeit, auch als Kulturproduzierende, -rezipierende, -vermittelnde. Sie haben längst verstanden, dass die Wahrnehmung ihrer Kulturprodukte und -projekte nicht von Fragen gesellschaftlicher und ökonomischer Partizipation zu trennen ist. Wessen Musik, Literatur oder Kunst nicht als anschauenswürdig gilt, dem kommt in dieser Gesellschaft grundsätzlich eine Randstellung zu.

Mehr als ein guter Vorsatz

Eine Kulturförderung, die nominell die Öffentlichkeit repräsentiert, muss sich auch real an die Öffentlichkeit richten, sonst wird es absurd. Der nötige Perspektivenwechsel, der in Wirklichkeit eine Öffnung des Blicks meint, wird sich ganz unangestrengt von selbst einstellen, sobald Jurys und Gremien, die Förder- und Preisgelder vergeben, in einer Weise besetzt sind, die selbst wiederum gesellschaftliche Vielfalt repräsentiert. Sich Diversität nur als guten Vorsatz auf die Agenda zu schreiben, ist nicht nachhaltig. Sie muss strukturell und dauerhaft verankert werden, um mehr als ein einzelnes gelungenes Event mit wohlwollendem Pressespiegel hervorzubringen.

Gesellschaftliche Vielfalt ›geht nicht mehr weg‹: Die meisten Menschen leben in internationalen Stadtgesellschaften, wir alle leben in einer globalisierten Welt. Statt weiter Zukunftskonferenzen zu veranstalten, macht man Diversität besser sofort zum Maßstab, am dringendsten bei Jobbesetzungen und Auftragsvergaben. Das Wichtigste, was viele Entscheider*innen in der Kulturförderung zu lernen haben, ist der Umstand, dass sie aufgrund ihrer Herkunft und Bildung besonders schlecht über den Rand tradierter weißer europäischer, von der christlichen Aufklärung geprägter Vorstellungen blicken können. Beim Umsehenlernen brauchen sie dringend professionelle Hilfe. Das ist für Menschen mit erheblichem institutionellem und oft zusätzlich akademischem Prestige sicherlich ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke. Aber es geht ja um Veränderung, und ohne Aufgabe von Gewohnheiten ist diese nicht zu haben.

Schwarzer Rollkragen, flatternder Schal

Wenn man an die üblichen in klassischen Medien erscheinenden Cartoons über Kultur denkt, posieren alle Philosophen in schwarzen Rollkragenpullovern und mit aufgestütztem Kinn, haben alle Dirigenten flatterndes welliges Haar, tragen alle Intendanten ständig Schal, gibt es Frauen nur in sehr dünn (Tanz) oder sehr dick (Gesang) – und ausschließlich in darstellenden Künsten; Queere, BiPoC, Behinderte hat man hier noch nie gesehen. Diese Cartoons karikieren Vorstellungen von ›Hochkultur‹, zugleich geben sie Auskunft über machtvolle Bilder, die seit Jahrzehnten in unveränderter Form existieren. Für diese Beständigkeit können mehrere Ursachen vermutet werden.

Zum einen wird Kultur zwar in der Realität von ganz unterschiedlichen Menschen geschaffen, performt und rezipiert, doch der in der klassischen Medienöffentlichkeit gezeigte Ausschnitt ist immer noch vergleichsweise monokulturell. (Ausnahmen bestätigen die Regel.) Glücklicherweise sind hier bereits Veränderungen spürbar, aber es könnte, es sollte sehr viel schneller gehen. Die selbstverständliche kulturelle Repräsentation von gesellschaftlicher und ästhetischer Vielfalt ist ein äußerst wirksames Mittel gegen das allseitige Einsickern des Reaktionären. Wenn es keine gesetzte kulturelle Norm mehr gibt, sondern viele Varianten, fällt es schwer, den Mythos vom das Eigene bedrohenden Fremden aufrechtzuerhalten, mit dem Rassismus, Antisemitismus, Klassismus, Sexismus, Queer- und Behindertenfeindlichkeit unterfüttert sind.

Zum anderen partizipieren sehr viele Bürger*innen nur ›gefühlt‹ an weiten Bereichen öffentlich geförderter Kultur. Sie gehen nicht ins Theater, in die Oper, ins Konzert, ins Museum oder zu Literaturfestivals. Die Umfragen des Kulturbarometers zeigen, dass dennoch viele von ihnen die Förderung von Hochkultur und freier Szene, also die Existenz von Opernhäusern, Theatern, Philharmonien, Museen und das Stattfinden von Literaturfestivals als sinnvoll bezeichnen. Man kann ein gutes Gefühl daraus ableiten, dass die Kinder in der Schule Schiller lesen, jederzeit eine tolle Ausstellung besucht werden könnte, ein ›gutes Buch‹ vor einem auf dem Couchtisch liegt. Magisches Denken: Man muss es gar nicht wirklich tun, um sich an der Vorstellung zu erwärmen. An physische Orte und Objekte gebundene Kultur kann also auch unabhängig von konkreter Teilnahme positive Auswirkungen aufs individuelle Selbstbild haben, in einer diffusen Weise ›bedeutend‹ sein. Aus dieser Beobachtung lassen sich alternative Handlungsaufforderungen für Entscheider*innen ableiten. Sie können versuchen, diese ›passiven Kulturfreund*innen‹ zu aktivieren, sie ›zurückzuholen‹, ins Museum, in die Oper, die Bibliothek, zur Lyrik und so weiter. Solche Versuche hat es in den letzten Jahrzehnten vielfach gegeben, der Erfolg war mäßig. Sie können umsehen lernen, anerkennen, dass viele Leute ›einfach so sind‹ und sich freuen, dass ihr Schattenpublikum nichts gegen staatliche Kulturförderung hat. Sie können die kulturelle Repräsentation von gesellschaftlicher und ästhetischer Vielfalt durch ein divers besetztes Team strukturell verankern und so organisch Angebote entwickeln, die eine neue, große Zielgruppe ansprechen, die nicht ›zurückerobert‹ werden muss, sondern sich endlich willkommen fühlen wird.

Echtes kulturelles Leben im Internet

Was als bedeutende Kultur wahrgenommen wird, hat im deutschsprachigen Kulturraum auch sehr viel damit zu tun, in welchen Formaten und Medien etwas präsentiert wird. Und hier liegt ein Kernproblem. Das Geld, die Aufmerksamkeit, die Bedeutung im Bereich offizieller Kultur wird im geringsten Maße der Sphäre zugewiesen, in der gesellschaftliche und ästhetische Vielfalt am plausibelsten abgebildet wird: Auf Social-Media- und Streaming-Plattformen treiben Kulturschaffende und -konsumierende den notwendigen Wandel längst erfolgreich voran, gemeinsam. Die #metoo- und #metwo-Bewegungen etwa haben global das Bewusstsein für strukturellen Sexismus und Rassismus geschärft, was auf international operierenden Streamingplattformen schnell zu vielfältigeren Besetzungen von Serien und Filmen geführt hat. Für die Mehrheit der Menschheit findet das ›echte Leben‹ – kleine, aber einflussreiche Teile der Menschheit können sich dies partout nicht vorstellen – in fluiden Mischungen in der digital-virtuellen Sphäre statt und zwar aus Neigung, freiwillig, nicht wie jetzt im Lockdown erzwungen.

Ein Großteil der als öffentlich relevant geltenden, analogen Kultur in klassischen Konzert- und Opernhäusern oder Theatern könnte ohne erhebliche finanzielle Unterstützung durch Bund und Länder gar nicht existieren. Pandemiebedingt hat sich gerade eine Realität eingestellt, in der diese Angebote tatsächlich nicht existieren, und viele Kulturschaffende sich sorgen, dass das Publikum sich endgültig daran gewöhnen könnte, Videoaufzeichnungen (ohne oder mit stark reduziertem Publikum) als Live-Erlebnis zu empfinden – denn gestreamte Aufführungen sind zeitlich ja live. Man teilt die Zeit, in der eine Aufführung stattfindet, nur nicht in einem gemeinsamen physischen Raum. Verschieben sich Aufführungspraktiken notgedrungen und dann gewohnheitsmäßig, dauerhaft ins Virtuelle, verliert die Vorstellung einer Kultur im physischen Raum, die traditionell besonders förderungswürdig das Wahre, Schöne, Gute des jeweiligen Staates symbolisiert, weiter an Plausibilität.

Der Status des Besonderen

Die Trauer der Menschen, die an diese Form der Kultur gewöhnt sind, ist echt und verständlich, man kann sie mitfühlen. Gleichzeitig regt die aktuelle Situation stark zum Denken an, was sehr positiv ist. Dass man jetzt die wesentlichen Teile dessen, was Kultur ausmacht, verloren hat oder vollständig zu verlieren droht, erscheint übertrieben: Netflix streamt immer noch. Menschen lesen Bücher und Comics, hören Aufnahmen, und sehen Konzertfilme. Nur eine sehr bestimmte Ausprägung von Kultur muss aktuell pausieren beziehungsweise sich im Internet einrichten, so gut es geht. Damit hat sie vorübergehend, vielleicht auch permanent, ihren Status des Besonderen verloren. Schon jetzt scheint es weniger plausibel, dass wenige tausend Personen die Kultur eines ganzen Staates repräsentieren.

Die symbolische und ökonomische Macht greift im Netz weniger stark, aber auch im Lockdown sind nicht alle Menschen gleich, soziale Ungerechtigkeiten verstärken sich eher noch. Kultur jedoch wirkt im Internet während des Lockdowns und nicht zuletzt durch die Banalität der häufig zu sehenden heimischen Bücherwand plötzlich gleichgestellt. Zudem wird deutlicher, dass es ein kategorialer Unterschied ist, ob Kulturschaffende im klassischen Betrieb berühmt und im Netz ›gut sind‹, oder ob sie wirklich existenziell darauf angewiesen sind, im Netz zu sein. Viele Autor*innen beispielsweise würden ohne Fangemeinde in sozialen Netzwerken gar nicht existieren, viele kleine Verlage auch nicht. Die einen hatten mal die Wahl, die anderen nie. Selbst in Coronazeiten interessiert aber im Feuilleton mehr, was Vertreter*innen der Normkultur in der Krise erleben,– warum fragt man sich und fürs Publikum nicht, was von den Anderen im Netz gelernt werden könnte, von Kulturschaffenden und -vermittelnden, die im Lockdown relativ normal weiterarbeiten. Ist es, weil sie zu wenig den Cartoon-Images entsprechen? 

Es schadet nicht, jetzt gerade einmal im Netz zu erleben, wie es ist, wenn alle Kultur den gleichen Status hat. Es schadet nicht, als Zuschauende die Live-Lesung des preisgekrönten Autors, der sonst umstandslos in jedes Literaturhaus gebucht wird, direkt neben dem Live-Talk der Journalistin angezeigt zu bekommen, der regelmäßig mit der Bezeichnung ›Netzaktivistin‹ die Professionalität abgesprochen wird. Es schadet nicht, als Mensch zu erleben, wie einen die nicht kompetitive Gemeinschaft der Anderen im Netz durch die Krise tragen kann.

Exklusivität ist kein verlässliches Gütesiegel

Niemand kann sich jetzt in der Krise ernsthaft wünschen, nahtlos an das Vorher anzuschließen, nicht nur, weil es angesichts der kommenden Wirtschaftskrise unrealistisch ist. Warum nicht lieber sofort damit beginnen, repräsentative und performative, analoge und digitale, klassische und neue Kulturen so zusammenzudenken und zu vermitteln, dass viel mehr Menschen daran partizipieren können? Nicht nur, weil dabei die Zuschauer*innenplätze technisch weniger begrenzt sind. Nicht Menschen sind für Kultur, Kultur ist für Menschen. Mehr Kulturen sind für mehr Menschen. Mehr Kulturen in mehr Medien sind für noch mehr Menschen. Exklusivität ist kein verlässliches Gütesiegel besonders guter Kultur.

Es geht nicht darum, Kultur im physischen Raum vollständig durch virtuelle zu ersetzen. Es geht auch nicht darum, komplexe Kultur zu verflachen. Aber es sollte im nächsten Schritt der Kulturarbeit und -förderung um eine möglichst barrierefreie, lebendige Kulturvermittlung gehen, die mit digitalen Mitteln weltweit Menschen anspricht. Viel Geld für Kulturprojekte auszugeben, die jeweils nur eine Handvoll Menschen erreicht, ist konzeptuell nicht mehr akzeptabel. Live-Streams erreichten die breite Öffentlichkeit erst in der Krise des Lockdowns – warum sind sie nicht längst die Norm gewesen?

Im Netz führen Menschen seit Jahren vor, wie man digital Kultur wirkungsvoll vermittelt, in transnationalen Netzwerken zusammenarbeitet, gemeinsam Projektgelder aufbringt und Barrieren erkennt, Grenzen überwindet. Diese Expertisen werden gesamtgesellschaftlich kaum genutzt, weil das Netz entweder dämonisiert oder kleingeredet wird. Es ist aber ein konstitutiver Bestandteil unserer Welt, in der Digitales und Analoges, Virtuelles und Materielles sich längst verschränkt haben. »Es wächst zusammen, was zusammengehört« beschreibt auch, was man während des Lockdowns beobachten kann. Das muss man jetzt, wie im originalen Kontext des Zitats auch, nur noch positiv denken und gestalten. Dabei ist auch ausreichend Raum für interessante Kultur im traditionellen Sinne.



Autorin

Foto: Frohmann Verlag

Christiane Frohmann
studierte Literaturwissenschaft und Philosophie, ist Autorin und Verlegerin. In Texten und Vorträgen setzt sie sich für eine gelassene Digitalisierung und mehr strukturelle Vielfalt in Kultur- und Bildungsinstitutionen ein. Sie ist Botschafterin von #vielfaltdurchlesen. Der Frohmann Verlag wurde 2020 mit einem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet.


Hype oder Rettung?
Agilität im Kulturbereich

16. Februar 2021

Die Welt hat sich verändert und wir befinden uns in einer Phase, in der auch traditionsreiche Kulturinstitutionen und Strukturen auf ihre Anpassungs- und Zukunftsfähigkeit hin überprüft werden müssen. Im Hinblick auf eine nächste Gesellschaft sollte der Kulturbereich intensiv über den Wandel nachdenken. Nicht zuletzt bringt besonders die Digitalisierung historisch neue Rahmenbedingungen, auf die es zu reagieren gilt. Transformation muss als gemeinsamer Prozess von Kulturpolitik, Wissenschaft, Bildung, Sozialkultur und Kulturschaffenden sowie Kulturinstitutionen gesehen werden. Denn es geht um die Veränderung fest etablierter – um nicht zu sagen: verkrusteter – Strukturen und Konzepte.

Auch das Thema Innovation ist hier eine wichtige Denkfigur. In diesem Beitrag soll aber auf ein spezifisches Phänomen geschaut werden, das in den letzten Jahren von vielen Akteurinnen und Akteuren im Kulturbereich diskutiert worden ist. Die Rede ist von der Agilität. In der Tat ein Buzzword, aber es lohnt sich, die dahintersteckenden Gedanken einmal genauer zu beleuchten.

Was ist mit Agilität gemeint?

Grundsätzlich beschreibt man mit Agilität bestimmte Arbeitsmethoden und Prozesse, die sich in der Softwareentwicklung etabliert haben. 2001 haben sich aus diesem Bereich Expert*innen in einem Manifest geäußert, das vier grundlegende Werte beschrieben und zwölf unterschiedliche Prinzipien der Agilität festgelegt hat:

  • Individuen und Interaktionen vor Prozessen und Werkzeugen
  • Funktionierende Software vor umfassender Dokumentation
  • Zusammenarbeit mit dem Kunden vor Vertragsverhandlungen
  • Reagieren auf Veränderung vor dem Befolgen eines Plans

In den darunter vereinten Prinzipien geht es unter anderem um Selbstorganisation, Kundenorientierung, aber beispielsweise auch um die Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen. Flexible Strukturen, iterative Prozesse und Nachhaltigkeit sind weitere Leitplanken. Auf der Grundlage der agilen Prinzipien erwachsen agile Methoden wie zum Beispiel Scrum: Eine häufig angewandte Methode, die den Fokus auf Selbstorganisation der Mitarbeiter*innen legt und ein schrittweises Vorgehen im Arbeitsprozess vorschlägt. Immer im Austausch mit dem Bedürfnis der Nutzer*innen zu entwickelnder Produkte beziehungsweise Dienstleistungen. Solche als Feedback-Schleifen bekannten Rückkoppelungen sind essenziell im ständigen Lernprozess der Agilität.

Im Vergleich zu anderen Konzepten, beispielsweise des Lean Managements, wird noch einmal klar, worum es beim Thema Agilität geht: Der Output zählt, die Produktentwicklung, letzten Endes auch die Effizienz des Unternehmens. Deswegen muss Agilität auch als holistischer Ansatz begriffen werden und alle Unternehmensbereiche umfassen. Wobei man nicht dem Irrglauben erliegen darf, dass Agilität ein Sparprogramm ist, bei dem durch schnelle Prozesse weniger Ressourcen und Mitarbeiter notwendig sein könnten. Die Frage ist nun, ob es Sinn macht und überhaupt funktionieren kann, diese Management-Methoden auf den Kulturbereich zu übertragen.

Status quo und Transformation

Kulturinstitutionen und die Menschen, die mit und in ihnen arbeiten, haben verlässliche Wissensspeicher geschaffen. Einrichtungen wie Theater oder Museen sind Orte der Begegnung und der Auseinandersetzung mit den Künsten; sie bieten im Idealfall Orientierung und Möglichkeiten der Selbstvergewisserung. Es ist gut, dass mit ihnen Stabilität vermittelt wird und dass diese Stabilität beispielsweise auch mit entsprechenden Förderkonzepten gewährleistet werden kann.

Welchen Veränderungsdruck spürt der Kulturbereich also ganz konkret? Dies zu hinterfragen ist zentral. Eine mögliche Antwort ist, dass viele der Institutionen und ihrer Strukturen aus einer anderen Ära stammen, die von hegemonialen Ideen geprägt ist. Konfliktreiche hierarchische Strukturen treffen heute aber auf eine zunehmende Nachfrageignoranz des Kulturpublikums. Stabilität sieht anders aus!

Die Rolle der Kulturpolitik im Agilitätstheater

Es wäre wohlfeil zu sagen, dass Kulturpolitik die konzeptionellen Grundlagen für die Transformation schaffen muss. Dafür müsste Veränderung mit all ihren Auswirkungen schon zu Ende gedacht und mit entsprechenden Erfahrungen belegt sein. Und: Auch die Kulturpolitik bleibt ihrerseits von solchen Prozessen des Um- und Neudenkens nicht unberührt und muss sich überlegen, welche Schwerpunkte sie in den Kultureinrichtungen zukünftig unterstützen sollte. Ein Anfang ist daher gemacht, wenn der Diskurs beispielsweise auch über neue Ziele der Kulturförderung geführt werden kann. Als Nächstes müssen inhaltliche Programme folgen. Was es dringend braucht, sind Multiplikator*innen, die Akteur*innen aus Kulturverwaltung und Kulturinstitutionen durch unsichere Zeiten navigieren könnten und ihre Erfahrungen mit innovativen Ansätzen weitergeben.

Dabei gilt: Alles ist eine Frage der Haltung, und erst, wenn man das Weshalb genügend besprochen hat, kann man sich an das Wie wagen. Ein wesentlicher Aspekt ist eine positive Besetzung des Netzwerkgedankens, der ja ureigentlich auch ein Teil agilen Arbeitens ist. Wissen über erprobte Methoden sollte größeren Kreisen zur Verfügung gestellt, Talente identifiziert und in kollaborativen Prozessen eingebunden werden. Ein genauso wichtiger Punkt ist aber auch die Bereitschaft, Fehler zu tolerieren beziehungsweise Ambiguitäten auszuhalten. Denn wenn man zu neuen Formen der Arbeit auch im Kulturbereich kommen möchte, muss man unweigerlich unbekanntes Terrain betreten und Grenzen austesten.

Agile Prozesse mögen bisweilen durch schnelle Entscheidungen und mutige Experimente geprägt sein, sie dürfen jedoch nicht als blinder Aktionismus missverstanden werden. Das Bedürfnis vieler Menschen – besonders im Kulturbereich – nach Qualitätssicherung und nachvollziehbaren Identitäten darf nicht unterschätzt werden. Wenn die Rollen neu definiert werden, müssen Hierarchien abgebaut und Regeln über Bord geworfen werden, sind Instanzen gefragt, die das Denken und Handeln einordnen und bestenfalls auch kritisch diskutieren können.

Kochen ohne Rezept

Im Kulturbereich gibt es bis dato wenige bis gar keine Konzepte, einen Betrieb auf agiles Arbeiten umzustellen. Paul Spies hat dies am Stadtmuseum Berlin ausprobiert, indem er offene Teamstrukturen und agiles Projektmanagement für einen partizipativen Museumsansatz eingeführt hat. Sicher ist es schwierig, Anleitungen zu liefern, die für andere eins zu eins umsetzbar sind. Es gilt, einen individuellen Standpunkt zu definieren, an dem agile Prozesse gestartet werden. Dies geht in Arbeitsprozessen (z. B. mehr Meetings, aber kürzere, nachhaltiges Arbeitstempo, Kollaborationstools nutzen, Design-Thinking-Methoden) oder im Empowerment von Mitarbeiter*innen (abteilungsübergreifende Teams, Meilensteine feiern, neue Kollaborationen suchen, Talente identifizieren, Inhalte statt Zuständigkeiten), aber auch durch das verstärkte Denken in und Arbeiten mit Zielgruppen.

Netzwerk Agile Kultur

Seit gut einem Jahr haben sich verschiedene kulturelle Akteur*innen in einem Netzwerk Agile Kultur  zusammengefunden, das in wöchentlichen (Online-)Meetings Input und Diskussion zum Thema Agilität bietet. Am 16.12.2020 fand als Jahresabschlussveranstaltung des Netzwerkes Agile Kultur in Zusammenarbeit mit der Kulturpolitischen Gesellschaft ein digitaler Thinktank der besonderen Art statt. Dort wurde beispielsweise diskutiert, welche Voraussetzungen für eine agile Kulturentwicklung gegeben sein müssen (u. a. neue Lernkultur etablieren, Weiterbildungsbedarfe erfassen, Förder-Thinktank, regelmäßige Reflexion, Innovationsraum, Vertrauen, Empathie). Gefragt wurde nach ganz konkreten Schritten, um das Gewollte zu erreichen (z. B. sich vom Anspruch auf Vollständigkeit trennen, monopolisierte Macht abgeben, Rollen zu Prozessen umgestalten und neu verteilen), und nach Möglichkeiten, das Erreichte nicht verpuffen zu lassen (Dreiklang: Erproben – Prüfen – Anpassen, Personalentwicklung, Abbau von Barrieren).

Offen für den Diskurs

Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Thema Agilität bereits gemacht? Sind Sie eher skeptisch, was die Wirksamkeit solcher Ansätze betrifft? Denken Sie, dass sich der Kulturbereich hier Anregungen holen kann, aber viel eher zu einem eigenen Weg kommen muss? Ihre Meinung interessiert uns und wir freuen uns über Feedback per Mail oder in den sozialen Netzwerken unter dem Hashtag #AgileKultur.


Autorin

Foto: Sarah Bauer

Anke von Heyl M.A. ist Kunsthistorikerin und war unter anderem Redaktionsleiterin (teNeues Verlag) und wissenschaftliche Mitarbeiterin (Museumsdienst Köln). Seit 2002 arbeitet sie für Museen und Kultureinrichtungen deutschlandweit und betreibt ein erfolgreiches Kulturblog. Sie hat sich auf die Besucherorientierung spezialisiert und ist Social-Media-Expertin. Ihre Schwerpunkte sind partizipative Formate und digitale Wege ins Museum. Anke von Heyl war bis Ende 2020 als Beraterin für die Kulturentwicklungsplanung der Landeshauptstadt Wiesbaden tätig und moderiert die wöchentlichen Web-Talks der Kulturpolitischen Akademie.

Eine neue Sprache

12. Februar 2021

Neu.
Relevant.
UND divers.

Das sind Adjektive, derer sich die Kulturpraxis gerne bedient. Ob derartige Beschreibungen zutreffen und wenn ja, aus wessen Perspektive, das sind Fragen, die ich mir beim Blick auf die deutschsprachige und größtenteils weiße Kunst- und Kulturszene regelmäßig stelle.

Neu? Vielleicht. Relevant – für wen? Divers – weshalb/inwiefern?

Dass ein Transformationsbedarf besteht, um Kunst und Kultur für verschiedene Gruppen relevant und zugänglich zu gestalten, steht für mich außer Frage. Die Frage danach, wie sich eine kulturpolitische Neuausrichtung gestalten ließe, bedarf allerdings einer eingehenden Auseinandersetzung. Meine Einschätzung dazu, was konkret getan werden muss, damit marginalisierte Gruppen in der Kulturpraxis sichtbarer und hörbarer werden, ist keine, die nicht schon viele betroffene Menschen vor mir vorgenommen hätten. Ich werde mich im Verlauf dieses Textes daran versuchen, über eine Handlungsanleitung hinaus meine Utopie für diese Freiräume zu formulieren.

Auf den ersten Blick mag es scheinen, als seien Utopien leicht zu formulieren, jedoch wenig zielführend. Aus meiner Perspektive ist es so, dass wir auch in der Kunst nichts anderes tun: Wir schaffen Möglichkeitsräume, um damit Perspektiven auf eine Welt zu öffnen, die zu gestalten immer wieder neu möglich ist. Wenn ich hier also meine Utopie formuliere, dann, weil ich davon überzeugt bin, dass sich innerhalb der schriftlichen Auseinandersetzung schon Strukturen und Arbeitsansätze etablieren lassen, die in der Praxis wünschenswert wären.


Kurz: Die Zukunft lässt sich beeinflussen, indem mensch die Utopie jetzt zu denken und zu formulieren vermag. Damit verlangt die Zukunft der Gegenwart stets viel ab.

Möglichkeitsräume zu imaginieren hat für mich also immer etwas mit Mut zu tun, nie mit Naivität. Mut in der Gegenwart, an den »äußersten Rand« (May Ayim, 1990, S. 92) des Möglichen zu gehen, um damit die bestmögliche Zukunft greifbar werden zu lassen. Diesen Mut sollten vor allem jene, die das Privileg haben, diese Räume und Arbeitswelten neu zu definieren, finden.

Mein Blick auf diesen Themenkomplex ist erneut ein privilegierter. Beinahe bin ich geneigt, mich als zu deutsch, zu reich, zu heteronormativ einzuordnen, um mich an diese Fragestellung zu wagen. Beinahe. Denn natürlich liegen auch für mich als junge Schwarze Frau, die sich in entsprechenden Kontexten bewegt, Betroffenheiten und Erfahrungswerte vor.

Einen meiner Erfahrungswerte hat Nayyirah Waheed bereits wie folgt auf den Punkt gebracht:

»in your arrogance
you presume that i want your
skinny language.
that my mouth is building
a room for
it
in the back of my throat. it is not.« (Nayyirah Waheed, salt., 2013)

In eurer Arroganz nehmt ihr an, dass ich eure dünne Sprache möchte. Dass mein Mund einen Raum dafür in seinem Rachen bildet. Er tut es nicht.


Dieses Zitat der afro-amerikanischen Poetin fasst meine persönlichen Erfahrungen im Kulturbetrieb perfekt zusammen. Es geht in diesem Zitat zwar ganz konkret um alltägliche Sprache – doch lässt es sich auch gut auf die Sprache, den Diskurs übertragen, auf den sich der deutschsprachige Kulturbetrieb geeinigt zu haben scheint.


Der normative Kulturbegriff ist innerhalb dieses Diskurses scheinbar immer noch Teil des Selbstverständnisses.

Das geltende Verständnis davon, was Kunst ist, wer sie wie in welchem Rahmen schafft und wer eben auch nicht, fußt auf der Annahme, es gäbe nur einen Diskurs, eine Sprache in der zu erschaffen ›richtige Kunst‹ möglich sei. Zu erwarten, Menschen mit verschiedensten Hintergründen, Realitäten und Betroffenheiten seien daran interessiert, sich in einem von einer homogenen Masse geformten Raum zu bewegen, den dort geltenden Regeln zu folgen und sich nach ihnen bewerten zu lassen, ist tatsächlich arrogant.

Davon auszugehen, dass sich nicht-weiße Künstler*innen an ein westliches Kunstverständnis anpassen und ihre Perspektiven dankbar in ein Narrativ zwängen, das sie in eindimensionaler Weise zeigt, ist absurd.

Zu glauben, dass die Aneignung von Worten, Praktiken und Ästhetik mit Freude aufgenommen und als Annäherung und respektvolle Begegnung wahrgenommen wird, ist sprechend. Es ist sprechend für das neokoloniale Gedankengut, dass viele weiße Menschen auch im Kulturbetrieb verinnerlicht haben.


Doch wie ist dem beizukommen?

Ich könnte jetzt vorschlagen, andere Gruppen in die Räume einzuladen, die staatlich gefördert werden, innerhalb derer mensch Kunst schaffen kann. Das sei wichtig, da Kunst sich immer denjenigen öffnen sollte, die eines Schutzraumes bedürfen.

Ich könnte an dieser Stelle außerdem formulieren, dass es unabdingbar ist, neue Stoffe auf die Spielpläne zu setzen, damit sich endlich auch die Geschichte(n) migrantischer Menschen auf den Bühnen wiederfinden.

Ich könnte fordern, die Leitungsebenen divers zu besetzen und die Regie- und Dramaturgie-Teams sowieso, damit die Machtgefälle endlich schrumpfen.
Ich könnte verlangen, dass es Workshops geben muss.
Und Expert*innen an jeder Kultureinrichtung, die dafür bezahlt werden, dass sie die Strukturen, auf denen die Diskriminierung(en) fußen, sichtbar machen und an ihrer Auflösung arbeiten. Sodass dadurch eine ganz direkte Umverteilung der (finanziellen) Ressourcen stattfinden könnte.

Dass für solche Umverteilungsprozesse zusätzliche Stellen geschaffen und besetzt! werden müssen, ergibt sich daraus ebenfalls.

Ich könnte auch formulieren, dass ich von Ausbildungsstätten erwarte, dass sie es sich zur Aufgabe machen, marginalisierende Strukturen zu erkennen und ihnen in Form von Quoten entgegenzuwirken.

Dass es IMMER mehrsprachige Angebote geben muss, dass sich auch künstlerische Studiengänge darum bemühen müssen, zugänglich für Menschen mit Fluchtgeschichte zu sein, dass Klassismus und intersektionale Betroffenheit immer eine Rolle dabei spielen, wie zugänglich (Ausbildungs-)Orte sind und deshalb stets beides mitgedacht werden muss; dass kulturelle Einrichtungen auch finanziell zugänglich sein müssen (und dass das nicht den Wert der Kunst mindert!); dass ein ermäßigtes Studierendenticket keine Lösung ist, sondern erneut Klassismus reproduziert; dass, dass, dass…


Das alles wurde aber schon oft formuliert.

Für mich ergibt sich: Eine Gesellschaft, die sich so zögerlich mit der eigenen Kolonialgeschichte und dem daraus resultierenden Rassismus auseinandersetzt, hat kein übergroßes Interesse an derartigen Veränderungen. Kulturpolitische Akteur*innen und Institutionen, die sich bezüglich der Rückgabe von Raubkunst so zurückhaltend oder gar unwillig zeigen, sind keine Instanz, der ich eine tatsächliche Auseinandersetzung zutraue.
Dennoch hoffe ich genau darauf.


Ich hoffe – oder bestehe auf meine Utopie, denn:

Ich werde keinen Raum mehr für euren dünnen Kunstbegriff in meinem Rachen oder in meinem Geist bilden.
Ich fordere ein Neudenken dessen, was Kunst ist. Eine neue Definition, die von all denen mitgestaltet wird, die sich vorher außerhalb des Rahmens bewegen mussten. Die sogenannten »Problemkinder«, die »Migrant*innen«, die »Armen«, die Nicht-binären und die Transpersonen, die, die be_hindert werden, die Rom*nja und Sinti*zze.

Weiße, bürgerliche, intellektuelle Kulturschaffende: Hört auf, den Raum zu vereinnahmen. Und dann gütig eine Nische zur Verfügung zu stellen, als gelte es, ›Entwicklungshilfe‹ zu leisten. UND als wüsstet ihr nicht, dass sich Kunst eben nicht in zugewiesenen Nischen schaffen lässt. Künstler*innen wissen doch am besten, dass sich Kunst Bahn brechen muss, Raum braucht, sich nie endgültig definieren lässt, sondern mäandert und immer wieder neu sein wird.

Mehr diverse Menschen in die bestehenden Räume einzuladen, kann helfen. Ihnen Raum zu geben, sie dort mit einzubeziehen, wo Entscheidungen getroffen werden und ihnen die Möglichkeit zu geben, Einfluss zu nehmen, ist sicher ein Teil der Lösung.

Wichtiger als all das ist jedoch das Eingeständnis, dass die Deutungshoheit darüber, was Kunst ist, sich nicht weiterhin auf eine privilegierte Klasse beschränken darf.

Da wo entschieden wird, welches Narrativ dominiert, da wo entschieden wird, wer diese Deutungshoheit innehat und da, wo die Entscheidung fällt, eine höchst subjektive, historisch gewachsene Wahrnehmung zum Maßstäbe dessen werden zu lassen, was zu bewerten niemals objektiv möglich ist, da stoßen wir auf die Wurzel des Problems.
Da stoßen wir auf White Supremacy.
Meine ganz banale Utopie ist also die Überwindung dieses Überlegenheitsgefühls. Die Dekolonialisierung des Geistes mit allem, was dazugehört.


Relevante Kunst entsteht da, wo Menschen Dinge verarbeiten, den Schmerz, die Wut, die Liebe mit Inbrunst zu etwas formen. An den Gefühlen und Erfahrungen herummeißeln.

Dieser Vorgang begegnet mir so viel mehr da, wo Menschen tatsächlich betroffen sind.

Der einzig schlüssige Weg, um der Kulturpraxis nicht ihre Relevanz abhandenkommen zu lassen, ist dorthin zu gehen, wo die Kunst passiert, die so oft übersehen wird. Und dort ein Theater zu bauen, dass den Schauspieler*innen und dem Schauspiel entspricht. Eine Konzerthalle für die Musik, der so oft die Musikalität aberkannt wird, die angeeignet, vereinnahmt und ausgebeutet wurde. Eine Fläche für die Performance, die für viele weiße Menschen nicht lesbar erscheint, bedient sie sich doch anderer Codes, einer anderen Sprache.

Also: Lernt eine neue Sprache.
Jede neue Sprache eröffnete ja bekanntlich eine neue Welt. Lernt eine neue Sprache. Lauscht aufmerksam auf die neuen Laute, habt Geduld, lasst euch Zeit zu erkennen, dass die neue Sprache nur neu für euch und mindestens genauso komplex ist, wie die, derer ihr euch sonst bedient.

Und verlernt die Arroganz, zu glauben, marginalisierte Menschen würden weiterhin Raum für euer Kunstverständnis und eure Begrifflichkeiten bilden.
Das tun wir nicht.
Unsere Sprache. Unsere Welt. Unsere Kunst.
Deutungsräume für alle.
Deutungshoheit für niemanden.


Autorin

Foto: Agnes Nagy

Sarah Elisabeth Braun, (geb. 1997)
ist eine afro-deutsche Künstlerin und Aktivistin.
Sarah ist Mitbegründerin des BIPoC-Netzwerks und seit 2018 Regieassistentin am Theater Bonn.
Sie ist in verschiedenen politischen und /oder kulturellen Strukturen aktiv und arbeitet dort zu Rassismus, Klassismus, Feminismus und Intersektionalität. Der Fokus ihrer Arbeit in künstlerischen und in politischen Kontexten liegt darauf, migrantische und Schwarze Perspektiven sichtbar zu machen und zu stärken.

KUNST ODER KULTUR – EINSAM ODER GEMEINSAM

9. Februar 2021

Kunst ist ein Testfall unserer Kultur.
Kultur ermöglicht Verbreitung und Dauer der Künste.

Kulturpolitische Debatten bedürfen sinnvoller Unterscheidungen von Kunst und Kultur.

Auf der Website von kulturrat.de lese ich Kunst und Kultur als Lebensnerv. Stellungnahme des Deutschen Kulturrates zur Kulturfinanzierung vom 08.10.2010. Fast zehn Jahre vor Anbruch des Coronazeitalters beginnt der Text mit den Zeilen: »Kunst und Kultur haben eine herausragende Bedeutung für die Gesellschaft. Sie spiegeln gesellschaftliche Debatten wider, sie bieten Reibungsflächen zur Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, sie weisen über das alltägliche Geschehen hinaus.«

Kunst und Kultur werden hier gleichermaßen auf Vergangenheit mit überlieferten Werten und auf Visionen einer künftigen Gesellschaft bezogen. Kurz darauf folgt der Satz: »In einer multiethnischen Gesellschaft gewinnen Kunst, Kultur und kulturelle Bildung eine zunehmende Bedeutung, um Integration zu befördern und die positiven Elemente kultureller Vielfalt herauszustellen.« Die Bereitstellung der kulturellen Infrastruktur für Bund, Länder und Gemeinden möchte der Deutsche Kulturrat sichergestellt wissen.

Angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008–2009 mit sinkenden Steuereinnahmen kommt man zum Schluss: »Insgesamt ist zu befürchten, dass die Schließung von Kultureinrichtungen und ein weiterer Beschäftigungsabbau im Kulturbereich drohen.«

Außerdem heißt es, das »Staatsziel Kultur muss im Grundgesetz verankert werden«.

Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern, wird schon viele Jahrzehnte immer wieder diskutiert. Auch Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien, bekannte sich zu dieser Zielvorgabe. Nachzulesen beispielsweise in der Wochenzeitung Das Parlament vom 15.10.2018: »Es wäre eine Selbstverpflichtung des Staates, die die fundamentale Bedeutung der Kultur für das Gemeinwesen betont.«

Auf kulturrat.de lese ich den Text Mut zur Zukunft. Die Kultur in der Coronakrise von Gerhart R. Baum vom 30.11.2020. Er beginnt mit einer aktuellen Lockdown-geprägten Essenz: »Kunst ist kein beliebiges Freizeitvergnügen.« Kurz darauf der Satz: »Kultur ist Lebenselixier der Demokratie.« Was ich hierbei immer wieder vermisse, ist eine zeitgemäße Unterscheidung zwischen Kunst und Kultur. Was versteht man unter Kunst und was unter dem Begriff Kultur? Macht es wirklich Sinn, beides in einem Atemzug nebeneinanderzustellen oder böte sich hier eine fruchtbare Chance der Differenzierung?

Noch einmal sei Gerhart R. Baum ein paar Zeilen weiter zitiert: »Kunst und Kultur geben Orientierung, sind anstößig und stoßen an, sind zukunftsorientiert und weltoffen. Gustave Flaubert hat es einmal wunderbar auf den Punkt gebracht mit den Worten, Kultur sei eine subventionierte Revolte.«

Kunst und Kultur werden oft völlig gleichrangig in Anspruch genommen und eine möglicherweise bedeutende Differenz mit dem schönen Zitat von Gustave Flaubert verdeckt. Meiner Meinung nach sollte sich eine Revolte mit ästhetischen Mitteln auf die Künste beziehen, nicht aber auf unsere kulturellen Rahmenbedingungen. Kunst darf überraschen, irritieren und als Testfall mit ästhetischen Mitteln Kultur und Kulturen in Frage stellen.

Wäre es nicht sinnvoll, unter Kunst beziehungsweise den Künsten das Differenzierende, das Singuläre, das Individuelle und das möglicherweise innovative Moment zu begreifen?

Etwas, das auch scheitern darf. Wäre es nicht ebenso sinnvoll, unter Kultur(en) etwas die Gesellschaft Verbindendes zu verstehen, zumindest im Sinne einer gemeinsam funktionierenden Streit- und Debattenkultur? Ich denke an eine pluralistische Gemeinsamkeit kultureller Rahmenbedingungen und Erfahrungen. Dann wäre es auch kein Widerspruch, wenn Kultur Menschen in Krisenzeiten und im Alltag Trost spendet und einzelne Äußerungen der Kunst verstörend und irritierend daherkommen – als Probehandeln oder als Interventionen innerhalb der Gesellschaft mit ästhetischen Mitteln. Der Prüfstand für Dauer wäre unsere Kultur, die sich wiederum in einem stetigen Wandel befindet!

Auch die Spielfelder der Dynamiken von Kunst und Kultur sollten meiner Meinung nach deutlicher unterschieden werden. In der Generaldebatte im Bundestag am 30.09.2020 äußerte Monika Grütters: »Das ist, finde ich, das Mindeste, das wir Künstlerinnen und Künstlern schuldig sind; denn Kultur ist keine Delikatesse für Feinschmecker, sondern Brot für alle. (…) Kunst, Kultur und Medien sind unverzichtbar für Verständigung.« Ich frage mich nun: Wäre es nicht eine große Chance zur besseren Verständigung und Gemeinschaftsfindung, wenn man verbindende kulturelle Elemente zum Zwecke stabilisierender Rahmenbedingungen und künstlerische Mittel sowie Strategien individueller Äußerungen benennbar unterscheidet?

Kurze Zwischenbemerkung: Abgesehen von der Tatsache, dass hinreichende Absicherungen von Soloselbstständigen in Krisenzeiten wie der Coronapandemie fehlen, sollte nicht vergessen werden, dass Künstler*innen wie viele andere Soloselbstständige nicht nur sehr unterschiedlich hohe Betriebsausgaben haben, sondern auch für ihren Lebensunterhalt aufkommen müssen. Es bleibt zusätzlich zu bedenken, dass ein Vermögen beispielsweise von 60.000 Euro oftmals nicht ausreicht, um Einkommensschwankungen auszugleichen, unvorhersehbare Rechnungen zu bezahlen und gegebenenfalls auch noch investitionsfähig zu bleiben.

Das Verhältnis der Kulturpolitik zu den Künsten bzw. Künstler*innen wird durch die Anforderungen einer offenen Gesellschaft mit ständig sich verändernder Relevanz zu bewerten sein.

Von wem stammt eigentlich die Idee, Künste und Künstler*innen dem Freizeitsektor zuzuordnen und nicht der Bildung?
Was erwartet unsere plurale Gesellschaft, die sich in ständigem Strukturwandel befindet, von den Künsten?
Sucht sie einen verbindlichen Halt, um ihre eigenen fortgeschrittenen Individualisierungstendenzen auszugleichen?

Haben einsame Lockdown-Erfahrungen im Coronazeitalter uns der separierenden, fortgeschrittenen Singularisierung überdrüssig gemacht? Entsteht aus dieser Monologisierung eine Dialogarmut? Sprechen die Künste für sich weiter ausdifferenzierende Identitäten an? Oder helfen sie uns wiederzuvereinen im Rahmen einer inklusiven demokratischen Gesellschaftsordnung? Sichert Kulturpolitik monadische Freiheiten einst autonomieverhafteter selbstbestimmter Künstler*innenträume – oder soll sie Steuervorteile für einige äußerst erfolgreiche Monopolisten eines übersättigten Kunstbetriebs verschaffen?

Nach welchen Kriterien werden Mittel verteilt, Stipendien vergeben? Wie viele Künstler*innen wollen wir? Regelt sich das über Angebot und Nachfrage oder nach staatlichen Förderungen? Sollten wir eine Inzidenzrate für Künstler*innen pro 100.000 Einwohner festlegen und uns dann ihren Angeboten und Einflüssen bereitwillig öffnen?

Wenn wir uns fragen, wie wir das Verhältnis von Kulturpolitik und den Künsten beziehungsweise Künstler*innen zeitgemäß anpassen und weiterentwickeln wollen, dann sollten wir uns auch fragen: Was wollen wir von den Künsten? Diese Frage stellen wir analog auch täglich in Bezug auf die Wissenschaften und den Sport. Warum sollten wir Zeit mit etwas verbringen und Geld ausgeben, wenn wir nicht wissen, was wir davon haben? Wenn jetzt die Antwort lautet: Wir möchten unsere Kulturpolitik von künstlerischen Angeboten überraschen lassen, dann dreht sich die Geschichte im Kreis. Das verstünde kein echter Sportsfreund.

Autor

Foto: R. Schappert

Dr. Roland Schappert

arbeitet als Künstler und Autor, erforscht die Bildwerdung der Schrift zwischen Poesie und Politik und veröffentlicht Essays über einen zeitgenössischen Kunstbegriff. 2005 erhielt er zusammen mit Michael Ebmeyer den Videonale-Preis 10 im Kunstmuseum Bonn. Ausstellungen und Interventionen im In- und Ausland. 2007–2010 Gastprofessur für Malerei an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Veröffentlichungen, Vorträge und Lehre über Aspekte eines zeitgenössischen Kunstbegriffs, Kunst & Wirtschaft. Zuletzt erschienen: Unsichtbarkeit Bildender Künstler*innen, Essay, Kunstforum International, Bd. 272, 2020; YOU, Künstlerbuch, Salon Verlag, 2020; Du fällst mir leicht, Gedichte, parasitenpresse, 2020.

Falsche Kultur-Reflexe.
Über die Pflicht Opferdiskurse und Neid-Debatten zu vermeiden

5. Februar 2021

In der vergangenen Woche jährte sich das Bekanntwerden der ersten Corona-Infektion in Deutschland. Seitdem hat die Pandemie unseren Alltag völlig verändert. Nach einem stillen Advent, einem Jahr der ausgefallenen Beethoven-Sinfonien im Jubiläumsjahr und komplett gestrichener Weihnachtskonzerte sind wir mit einer historisch nie dagewesenen Sang- und Klanglosigkeit in das neue Jahr gestartet. Besonders im Musikbereich, der durch die Übertragung von Aerosolen weiterhin als besonders kritisch eingestuft wird, sind neben vielen Profi-Musiker*innen und -Ensembles gerade auch zahlreiche Amateurmusizierende besonders hart betroffen.

Die Amateurmusik wird im kulturpolitischen Diskurs leider immer noch viel zu sehr belächelt. Dabei gibt es in Deutschland circa 14 Millionen Menschen, die in ihrer Freizeit musizieren. Über 100.000 Amateurmusik-Ensembles im instrumentalen und vokalen Bereich sind durch die Corona-Pandemie in Mitleidenschaft gezogen – Chöre und Orchester, die mit ihren Konzerten nicht nur zu Weihnachten ein ganz entscheidendes Fundament der deutschen Musiklandschaft bilden.

Zahlreiche Musizierende haben in den letzten Monaten Programme geprobt, die sie nun nicht singen oder spielen können. Die komplette Weihnachtszeit – sonst musikalische wie ökonomische Hochsaison der vokalen und instrumentalen Amateurmusikszene – verstummt. Mehr noch: Bereits jetzt ist absehbar, dass die momentane Sang- und Klanglosigkeit eine nachhaltige Stille produzieren wird. Ein schnelles Hochfahren der Konzerttätigkeit wird es nach Lockerung der Corona-Maßnahmen nicht einfach geben, da Musikaufführungen im Profi- wie im Amateurbereich das Ergebnis eines intensiven und kontinuierlichen Probenprozesses über Wochen hinweg sind. Die Auswirkungen der Corona-Krise werden alle Chöre und Orchester daher bis weit in das neue Jahr hinein spüren. Sie werden zu einem deutlichen Rückgang der Konzertangebote und der außerschulischen musikalischen Jugendbildung führen.

1. Verärgerung, Enttäuschung und Frustration aber bitte nicht persönlich nehmen

Die immer wieder verschärfte Unterbrechung der Proben- und Konzerttätigkeit im Amateurmusikbereich hat schon in den vergangenen Monaten viele Menschen demoralisiert. Vielen fehlt nicht nur die Kraft der Musik, ihre Hoffnung spendende Energie, die Freude, die sie einem schenkt und die gerade jetzt in der Krise so wichtig wäre. Viele Chöre und Orchester verstummen in Sorge um den Nachwuchs, fragen sich, ob es nach der Krise überhaupt weitergehen wird. Verärgerung und Sorgen vergrößern sich besonders dann, wenn die Erfahrung von Ungerechtigkeit dazukommt. Warum werden andere gesellschaftliche Bereiche als systemrelevanter angesehen als die eigene kulturelle Praxis? Warum wird unser Wert nicht anerkannt?

Haben wir ein Kommunikationsproblem? Ist die Krise auch die Chance jetzt erneut zu erklären, warum wir so wichtig sind? Oder sind diese Fragen zynisch bis nachrangig in Anbetracht des Überlebens vieler Solo-Selbständiger oder der berechtigten Sorge vieler älterer Menschen, ob wir jemals wieder so unbeschwert zusammen musizieren können?

2. Die Wertdebatte – Zur Bedeutung der Amateurmusik außerhalb der Freizeit

Gemeinsames Musizieren verbindet Bürger*innen und Kulturen; es fördert insbesondere in ländlichen Räumen den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dieser Dialog und die gegenseitige Verständigung sind die Fundamente einer starken Zivilgesellschaft.

Erst Ende November hat der Bundestag das Infektionsschutzgesetz geändert und dabei auch die besondere Bedeutung der Kunst- und Kultureinrichtungen für die demokratische Gesellschaft betont. Vorangegangen war in der politischen Begründung der Maßnahmen einige Wochen zuvor eine höchst unsensible Gleichsetzung der Kultur mit bloßem Freizeitvergnügen.

Aber auch das gemeinschaftliche Musizieren in Chören und Orchestern, das in Deutschland eine lange Tradition hat, kann man nicht nur als Freizeitgestaltung, Vergnügen oder Unterhaltung abtun, wie es in der ersten fatalen Begründung neuerlicher Corona-Schutzmaßnahmen im November geschah.

Wie im Fall fehlender Konzerte zur Weihnachtszeit wird uns die Bedeutung der Kultur aktuell besonders durch ihr Fehlen spürbar. Sie wäre jetzt genau jene Kraftquelle, die wir bräuchten, um Zuflucht und Trost zu finden, neue Diskussionsmöglichkeiten zur Verarbeitung der Alltagsbelastungen, gemeinschaftliche Foren des Austauschs, Reflexions- und Vergewisserungsmöglichkeiten.

Der Wert der Amateurmusik wird daher dort offenbar, wo Aspekte der Freizeitgestaltung und des Vergnügens, die ohne Frage auch eine Rolle spielen sollen und dürfen, zurücktreten, um der zivilgesellschaftlichen Bedeutung gemeinsamen Probens Platz zu machen. Amateurmusik garantiert breiten Schichten die aktive Teilhabe und Teilnahme an Kultur. Darüber hinaus erbringt sie eine Menge von Leistungen, die in der Krise nicht einfach beiseitegeschoben werden können.

Die Amateurmusik stiftet gerade auch fernab der großen Metropolen generationsübergreifende Bildungsorte. Menschen, die sich regelmäßig treffen, um gemeinsam an einem Musikstück, der Einstudierung einer Melodie oder der Erarbeitung und Planung eines ganzen Konzerts zu arbeiten, stehen im Austausch, sie diskutieren, stimmen sich ab, verwerfen, favorisieren und beleben damit an zahlreichen Orten dieses Landes, was die Politik sonst gern als gesellschaftlichen Zusammenhalt preist. Als Orte der Selbsterfahrung und kulturellen Partizipation ermöglichen Gemeinden und Musikvereine ein durch die Kultur gestütztes Forum zwischenmenschlichen Austauschs. Hier kommen Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit zusammen, werden Teil eines künstlerischen und immer auch demokratischen Aushandlungsprozesses. Im besten Sinne erzeugt die Diversität der Menschen, ihre Mitsprache und die Polyphonie ihrer pluralen Stimmen hier zugleich eine politische Praxis, die überaus schützenswert erscheint.

Leider wird in den aktuellen Krisenzeiten viel zu oft ausgeblendet, dass kulturelle Praktiken wie das Amateurmusizieren auch diese Art von Räumen der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung schaffen. Diskussionen, die unter dem Stichwort der »Systemrelevanz« geführt werden, um eine Priorisierung einzelner gesellschaftlicher Bereiche vorzunehmen, übersehen den außergewöhnlichen Beitrag solch scheinbar »entbehrlicher« kultureller Betätigungen. Letztlich bilden sie allerdings das Fundament unseres bürgerschaftlichen Gemeinwesens schlechthin.

Zum einen ist es also richtig, in der aktuellen Corona-Pandemie den eigenen Stellenwert zu betonen. Umso mehr, je deutlicher dem kulturellen Bereich in der aktuellen Krise die Wertschätzung, die sich allzu oft nur an ökonomischen Parametern orientiert, entzogen wird. Dabei bräuchte es gerade jetzt von der Politik eine ausdrückliche Bejahung und Wertschätzung der Kultur, insbesondere für den Beitrag, Kontakte weiter zu minimieren und der dadurch demonstrierten Unterstützung bei der Bewältigung der Krise.

Wo diese ausbleibt und mit den aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie leichtfertig eine Degradierung des gesellschaftspolitischen Auftrags und Wertes der Kultur in Kauf genommen wird, werden sich die Fronten weiter verhärten.

Dabei stellt auch innerhalb der Amateurmusik niemand die Maßnahmen grundsätzlich in Frage: Alle Kulturschaffenden wissen, dass auch wir in dieser schwierigen Situation Verantwortung dafür tragen, wie wir durch diese Krise kommen. Zum jetzigen Zeitpunkt kann die Notwendigkeit von Kontaktminimierungen nicht mehr durch existierende Hygienekonzepte wegdiskutiert werden. Um exponentiell steigende Infektionszahlen zu verhindern, genügen die bisher erarbeiteten Schutzmaßnahmen nicht mehr aus, die auch viele Chor- und Orchestermusizierende in den vergangenen Monaten erarbeitet hatten.

3. Krise als Chance?

Die Verlängerung und Verschärfung des zweiten Lockdowns über den Monat November hinaus trifft uns alle gleichermaßen hart. Wir müssen uns zurückziehen, vereinzeln, sollen liebe Menschen gerade nicht mehr treffen. Mit dem Wegfall gemeinsamer Begegnungen verstummt vielerorts zwangsweise auch das menschliche Grundbedürfnis des Musizierens.

Aber sind die gegenwärtigen Musizier-Verbote tatsächlich in der Lage, unsere weltweit einmalige Musik-Vielfalt in Deutschland zu bedrohen? Steht die herausragende und zugleich besonders schützenswerte Bedeutung unseres immateriellen Kulturerbes, zu welchem die Chormusik in deutschen Amateurchören (seit 2014) und Instrumentales Laien- und Amateurmusizieren (seit 2016) gehören, wirklich in Abrede?

Es ist berechtigt, große Geschütze aufzufahren und mahnende Worte zu wählen. Dennoch habe ich im Gespräch mit Kulturpolitiker*innen gerade die Erfahrung gemacht, dass dort der Ernst der Lage absolut verstanden wird. Wir sollten uns die Kraft sparen, Menschen von etwas überzeugen zu wollen, die längst zu unseren größten Unterstützer*innen zählen.

Was wir derzeitig erleben ist eine wichtige und notwendige Wertdebatte über die gesellschaftliche Bedeutung der Kultur im Allgemeinen. Es ist zu begrüßen, dass neu über den eigenen gesellschaftlichen Beitrag vieler Kulturschaffender und ihrer besonderen Sparten nachgedacht wird. Dass diese Diskussion nun breiter gefasst ist und noch mehr Menschen als die üblichen Verdächtigen erreicht, ist weiterhin wichtig. Denn eine Quintessenz dieser zum Teil sehr emotional geführten Debatte ist dabei doch auch die Erkenntnis eines kommunikativen Problems, das uns selbst betrifft. Die Kulturschaffenden und Kreativen dürfen gern öfter klarer und deutlicher erklären, welchen wichtigen Beitrag sie leisten. Drei Dinge helfen dabei jedoch nicht:

Erstens auf die eigene Unverzichtbarkeit zu pochen in Anbetracht einer absoluten Ausnahme-Situation, die aus Solidarität von anderen Mitmenschen eher Rücksichtnahme als lautes Poltern bräuchte.

Zweitens immer nur neidvoll auf die anderen zu blicken, die mehr bekommen, andere Privilegien genießen oder von den Einschränkungen weniger hart getroffen sind.

Drittens es sich zu einfach zu machen, und folglich nur als Opfer dieser Ausnahmesituation zu gerieren, anstatt jene Herausforderungen zu fokussieren, die auch vor der Krise schon da waren und die jetzt nur eklatanter die eigenen Versäumnisse offenbaren.

In den stillen Räumen der Sang- und Klanglosigkeit ist also viel Platz für neue Ideen. Anstatt sich darüber aufzuregen, warum der Einzelhandel lange offenbleiben durfte, der Kirchenchor aber nicht extra gefördert wird, gilt es Lösungen auf grundsätzliche Zukunftsfragen zu finden. Speziell für den Bereich der Amateurmusik ergeben sich wichtige Fragen im Bereich der Nachwuchsförderung, der Digitalisierung, des Engagements und Ehrenamts.

Die Corona-Krise setzt den Kulturbereich also nicht nur punktuell in Bedrängnis, indem sie ihn über einen längeren Zeitraum lahmlegt. Sie spült auch Probleme und Herausforderungen nach oben, die lange vor der Krise bereits virulente Themen einer grundsätzlich breiter angelegten Transformation unserer Lebenswelten waren. Neue Relevanz kann der Kulturbereich deshalb gerade dann entwickeln, wenn er einen Neustart fokussiert, der weniger Selbstbeschäftigung als ein Finden neuer Antworten ist. Denn ganz entscheidende Fragen und die Kommunikation unserer Antworten werden Kunst und Kultur auch in Zukunft sehr fordern: Wie können wir in einer Welt des rasanten Wandels unseren wertvollen Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt klar auf den Punkt bringen?

Autor

Foto: Studio Stivali

Dr. Stefan Donath

ist seit Juli 2020 Geschäftsführer des Bundesmusikverbands Chor & Orchester e.V. in Berlin. Er studierte Theater-, Politik- und Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin und der Université Paris VIII. Als Wissenschaftlicher Mitarbeiter forschte er lange Zeit am Internationalen Forschungskolleg »Verflechtungen von Theaterkulturen« in Berlin u.a. zu Aufführungen antiker griechischer Tragödien, Formen künstlerischen Aktivismus und internationaler Kulturpolitik.

Der gemeinsame Nenner und die politische Ästhetik der Differenz

2. Februar 2021

Am 10. Dezember 2020 gaben ein gutes Dutzend Vertreter*innen staatlich geförderter Kulturinstitutionen ein gemeinsames sowie zwölf individuelle Statements ab. Die Überschrift ihrer Stellungnahmen: Initiative GG 5.3 Weltoffenheit. Über zwanzig weitere Institutionen und Einzelpersonen bekräftigten öffentlich ihre Unterstützung für diesen Aufruf, in dem sich die Unterzeichneten wie folgt positionieren:

»Da wir den kulturellen und wissenschaftlichen Austausch für grundlegend halten, lehnen wir den Boykott Israels durch den BDS ab. Gleichzeitig halten wir auch die Logik des Boykotts, die die BDS-Resolution des Bundestages ausgelöst hat, für gefährlich. Unter Berufung auf diese Resolution werden durch missbräuchliche Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs wichtige Stimmen beiseitegedrängt und kritische Positionen verzerrt dargestellt. (…) Mit dem Namen (Initiative GG 5.3 Weltoffenheit, Anm.d.R.) verweisen wir auf Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes, in dem die Freiheit von Kunst und Wissenschaft garantiert wird. Weltoffenheit, wie wir sie verstehen, setzt eine politische Ästhetik der Differenz voraus, die Anderssein als demokratische Qualität versteht und Kunst und Bildung als Räume, in denen es darum geht, Ambivalenzen zu ertragen und abweichende Positionen zuzulassen. Dazu gehört es auch, einer Vielstimmigkeit Freiräume zu garantieren, die die eigene privilegierte Position als implizite Norm kritisch zur Disposition stellt.«

Eine Woche später zirkulierte ein offener Brief, der Solidarität mit dem Ursprungsstatement ausdrückt, aber auch eigene Akzente setzte und der von über 1.300 Künstler*innen und Akademiker*innen (Stand 19.12.2020) unterschrieben wurde. Seitdem tobt eine Debatte im klassischen Feuilleton und den sozialen Medien, die sich, mit offenem Ausgang, noch weit ins nächste Jahr ziehen wird. Auch die Unterzeichner*innen der Liste müssen sich für ihre Unterschrift rechtfertigen. Am überzeugendsten macht das der in Jerusalem geborene und in Berlin lebende Künstler und Kurator Boaz Levin, wenn er am 8. Januar das Unvermögen moniert, »sich mit einer Realität zu befassen, die ungleich verschlungener ist als die mundgerechten Dichotomien, die Boykott und Anti-Boykott heraufbeschwören: gut und böse, Inklusion oder Exklusion.«

Aus der Frage nach einem adäquaten Umgang mit der Bewegung BDS (Boycott, Divest, Sanctions) leitet sich ein Bündel weiterer Fragen zur politischen und Erinnerungskultur ab, die zu relevant sind, um sie nur innerhalb bestehender Diskursdichotomien zu verhandeln. Eine #neueRelevanz kann nur in neuen Diskursräumen entstehen. Doch wie behauptet man diese?

Initiative GG 5.3 Weltoffenheit

Ausgehend von einer als problematisch wahrgenommenen Resolution des Bundestages zum Thema BDS äußern einige der größten Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen (von der Kulturstiftung des Bundes bis zu den Berliner Festspielen bis zum Goethe-Institut und dem Wissenschaftskolleg) ein Unbehagen bezüglich einer hieraus resultierenden politischen Grauzone, was den Umgang von Kultur mit BDS betrifft. Ich möchte hier nicht en détail oder erschöpfend die inhaltlichen Argumente der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit oder deren Kritiker*innen wiedergeben (die zentralen Argumente sind in den Links zu finden), sondern einen Blick auf die Architektur einer kulturpolitischen Konstellation werfen, die in ihrer Komplexität schwer auf eine einfache Formel zu bringen ist.

Wie lassen sich differenzierte Diskursräume behaupten in einem Klima der Verkürzung, des Konsums, der Komplexitätsreduktion oder Polarisierung? Wirkliche Transformationen in der Kultur sind ohne Veränderungen in der Debattenkultur kaum zu bewerkstelligen. Nach der Pressekonferenz der Initiative scheint jedoch bereits die Debatte darüber, was debattiert werden kann, merkwürdig unproduktiv und verhärtet.

In der Vergangenheit schrieb ich über eine Positionierung von Kulturinstitutionen als soziale Kraftzentralen (im Sinne Alexander Dorners) – also als Orte der Begegnung und Verständigung auf der Basis gemeinschaftlicher Ideale. Aus dieser Praxis und Haltung heraus möchte ich hier für eine konstruktive Debatte plädieren, die mit Perspektivübernahmen, Vielstimmigkeit und sozialer Verantwortung operiert, um kulturpolitische Debatten nicht für politische Grabenkämpfe zu instrumentalisieren. Die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit dient momentan sozusagen als lebendiges Anschauungsmodell – es lohnt sich ein Blick auf die Debattenführung.

Dem Folgenden ist vorauszuschicken, dass ich für eine der beteiligten Institutionen, das Haus der Kulturen der Welt, arbeite und mein Arbeitsfokus in der intersektionalen Vermittlungspraxis und nicht der politischen Analyse liegt. Da es der Initiative aber um Vermittlung von Positionen geht, möchte ich mit diesem Text auf Schnittstellen verschiedener Debattenaspekte hinweisen, da Kulturpolitik in meinem Verständnis ebenfalls viel mit Vermittlung zu tun hat.

Kulturpolitische Solidargemeinschaften

Es ist bekannt und leicht nachzuprüfen, dass bestimmte Blogs, seriöse wie unseriöse Presseorgane sowie Trolls[1], sogar politische Parteien am rechten Rand sehr schnell und vehement Antisemitismusvorwürfe äußern. Die Kontroversen um das Jüdische Museum Berlin (2019) und die Kunsthochschule Weißensee (2020) können als Beispiele dienen. Das ist ihr gutes Recht, allerdings ist die Folge, dass der Antisemitismusvorwurf teilweise als ausgehöhlt wahrgenommen wird. Dass dies in einer Zeit des erstarkenden Antisemitismus problematisch ist, halte ich für wichtig zu betonen. Es ist also wichtig, über die sich stets im Wandel befindliche Antisemitismusdefinition zu sprechen – mit dem Ziel, die Integrität des Begriffes zu schützen, vor allem angesichts der Verantwortung gegenüber der deutschen Geschichte.

Einzelne Institutionen schaffen es jedoch kaum, neue Vorschläge zu formulieren. Das mediale Gegengewicht ist stärker, auch das zeigen die erwähnten Beispiele. Allianzen zu bilden ist also eine logische Vorgehensweise für kulturelle Akteur*innen, um politische Sorgen und Wünsche zu formulieren. Initiativen wie Die Vielen zeigen erfolgreich die Bedeutung und auch die Funktionalität von Solidargemeinschaften innerhalb der Kultur. Als Gegenkonzept zu einem wirtschaftlich orientierten Konkurrenzmodell von Kulturinstitutionen vereinen sie auf Basis eines gemeinsamen Nenners eine Vielzahl diverser Positionen; in diesem Falle: Den Glauben an eine demokratische Gesellschaft, den offenen und kritischen Dialog über rechte Strategien, die Weigerung, völkisch-nationalistische Propaganda oder Rechtsnationalen eine Bühne zu geben und die Solidarisierung mit Menschen, die durch eine rechtsextreme Politik immer weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.

Eine weltoffene Debattenkultur

Nicht wenige Institutionen, die das Plädoyer der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit unterzeichnet haben, sind auch involviert bei Die Vielen. Das bedeutet, dass sie auch eine Verpflichtung unterzeichnet haben, aktiv gegen Rassismus und Antisemitismus vorzugehen: In der programmatischen Arbeit durch Projekte für verschiedene Publika, in ihrem kulturpolitischen Engagement, schlägt sich diese Haltung nun in einer Kritik der Folgen der BDS-Resolution des deutschen Bundestags von 2019 nieder.

Diese Resolution wird in der praktischen Umsetzung vielfach als problematisch empfunden – da aktives Werben für BDS-Ziele mit ›Kontaktschuld‹ verwechselt wurde. Als Folge entstand eine Praxis der Denunziation, der Schriftsteller Doron Rabinovici schreibt: »(…)im Plädoyer der ›Initiative GG 5.3 Weltoffenheit‹ beklagen kulturelle und wissenschaftliche Institutionen, dass unter Berufung auf den Bundestagsbeschluss kritische Stimmen allein aufgrund ihrer politischen Positionen zu Israel des Antisemitismus bezichtigt werden, um sie so in Misskredit zu bringen. Wir sind mitten in einer Inszenierung der exzessiven Auslegungen und der wechselseitigen Verdächtigungen.«

Die Initiative sieht die Integrität des Antisemitismusbegriffs gefährdet, für deren Wahrung sie sich einsetzen will. Das eigentlich bezweckte Ziel der Resolution, deutsche Verantwortung für die Sicherheit Israels zu übernehmen, greift nicht. Statt einer differenzierten Auseinandersetzung wird ein Feinbild, hier in Form von BDS, aufgebaut. Dass dieses Vorgehen für eine weltoffene Debattenkultur problematisch ist, darauf weist die Initiative hin. Es treffen Staatsräson auf politischen Pragmatismus, kulturelle Praxis auf politische Ideologien – ein vielschichtiges Problem oder, im Sinne von Schmidt-Linsenhoff, eine fehlende Deckung von politischer Ideologie und praktischer Erfahrung.

Vielen Pressemeldungen zum Thema ist fälschlicherweise zu entnehmen, dass es den Initiator*innen darum geht, die BDS-Initiative salonfähig zu machen. Vielmehr ist das Ziel der Gruppe, Einladungspolitik und politischen Druck zu diskutieren. Ist eine Ausladung von Achille Mbembe Selbstzensur? Oder kritische Programmgestaltung? Wann wird es eine rassistische Beleidigung? Auch hier gilt es, Antwortnuancen zuzulassen und Pauschalisierungen entgegenzutreten, um kulturelle Lernprozesse einzuleiten.

Wenn eine große Anzahl von Institutionen, die für kulturellen Dialog standen und stehen, auf verschiedene Problematiken hinweisen, die sich in der praktischen Umsetzung der BDS-Resolution des deutschen Bundestags bündeln, verdient diese Kritik meiner Meinung nach zumindest eine genauere Analyse statt einer reflexhaften Ablehnung. Besonders dann, wenn in den Verlautbarungen der Initiative eine Ablehnung der Boykottpraxis von BDS mehrfach deutlich formuliert wurde und wird.
Kritik bei Beibehaltung des Dialogs.

Doch diese Diskursposition (Ablehnung der BDS-Praktiken bei Aufrechterhaltung des Dialogs), sorgt für Skepsis. Gleichwohl ist dies ein Grundsatz demokratischer Diplomatie und gehört, wie die bereits unterschiedlichen Positionen innerhalb der Initiative betonen, zur »politischen Ästhetik der Differenz«[2]. Die besondere Herausforderung liegt darin, dass das Thema Erinnerungskultur komplex, traumabeladen und politisch umkämpft ist. Dass hier aber ein produktives und relevantes Arbeitsfeld für die Kultur besteht, zeigt auch die Debatte zum Thema Erinnerungskulturen in den Kulturpolitischen Mitteilungen 171.

Diese Komplexität in Programme umzusetzen, ist die tägliche Aufgabe von Kunst und Wissenschaft. Gemeinsamer Nenner innerhalb dieser Differenz ist das Grundgesetz, genauer gesagt §5, Absatz 3, in dem es heißt: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.«

Der Name der Initiative gibt also an, in welchem Rahmen man sich bewegt: Die Initiative verteidigt diesen Absatz des Grundgesetzes, fordert ihn ein, aber bekennt und verpflichtet sich auch zu all ihren Grundsätzen. In ihrem Beitrag vom 22.12.2020 in der Frankfurter Rundschau legt Aleida Assmann die Bedeutung einer demokratischen »Streitkultur« auf Basis des Grundgesetzes überzeugend dar, ebenso wie die Rolle von Privileg und Machtposition bei der Äußerung von Forderungen und Ablehnungen:

»(…) zur Demokratie gehört der Streit. Genau das garantiert der Artikel 5.3. des Grundgesetzes, nämlich die Meinungsfreiheit, auf die sich die Gruppe beruft. Medien haben ein ganz besonders enges Verhältnis zum Streit. In einer Demokratie sind sie mit dafür verantwortlich, ihn zu entfachen und am Leben zu halten.
Das Problem ist heute allerdings das umgekehrte: Wie kann man den Streit demokratisch einhegen? Wer verhindert, dass er nicht umgehend in hemmungslose Attacken und Diffamierungen abgleitet? Wo sind die Schiedsrichter, die die Übersicht behalten, ab und zu mal abpfeifen, zur Mäßigung gemahnen und, wenn nötig, hier und da eine gelbe oder rote Karte ziehen? Eigentlich gibt es ein ganz einfaches Rezept, um hysterische Aufwallung zu dämpfen, und das heißt: Zuhören, bevor man nach der Keule greift. Das wäre die Rückkehr zum guten alten Streit.«

Ein wichtiges Thema – und gerade mit Blick darauf, dass viele Kritiker*innen der Initiative die Privilegien staatlicher geförderter Institutionen selbst kritisieren, eine nötige Debatte über staatliche Aufträge, Repräsentation und Fördermechanismen, der sich die so genannte Hochkultur natürlich stellen muss.

Ästhetische Differenz in beide Richtungen

Felix Klein, Beauftragter für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, hat nach den ersten Kontroversen zur Thematik ein Gutachten der wissenschaftlichen Dienste des Bundestages beauftragt. Der Bericht, der kurz vor Weihnachten veröffentlicht wurde, konstatiert interessanterweise verfassungsrechtliche Problematiken in der Umsetzung des BDS-Beschlusses des Bundestags, gleichwohl der Bericht rechtlich nicht bindend ist.

Bezogen auf die von mir dargelegte Problematik kann man also sagen, dass eine rechtliche Grauzone entstanden ist, die eben nicht zu einer fundierten Debatte zum Thema und somit wohl auch nicht zum Schutz einer Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland beiträgt. Konkret: Sollte man nicht kritisch nachfragen, wenn eine Resolution des Bundestages nicht verfassungskonform wäre, wenn sie Gesetz wäre? Eine tiefgehende Analyse von Ursachen des unverkennbar steigenden Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft sowie der Rolle von Kulturinstitutionen liefert Itay Maschiach in einem Beitrag in der Haaretz, auf Deutsch nachzulesen in Der Freitag vom 14.12.2020, in dem er Strukturen einer Kultur des subtilen Druckes und der Selbstzensur nachzeichnet.

Man könnte innerhalb dieser Debatte das Grundgesetz oder auch das Recht von Israelis und Palästinenser*innen auf Leben in Freiheit und Sicherheit sowie Selbstbestimmung als den gemeinsamen Nenner bezeichnen. Diese müssen unberührt bleiben. Die Gespräche darüber, wie beides am besten und konstruktivsten behauptet werden können, müssen innerhalb einer ästhetischen Differenz in alle Richtungen möglich sein.

Man sollte darüber sprechen, wo die Intersektionen aber auch die Differenzen von Erinnerungspolitik, Außen- oder Innenpolitik und eben der Kulturpolitik liegen – regelmäßig. Dies erfordert eine Kommunikationskultur der Vielstimmigkeit und eine politische Praxis der klaren Farben statt Grauzonen – eine Transformation als Entwicklung statt als Regression.

Es bleibt abzuwarten, ob sich die glücklicherweise zunehmend differenzierte Diskussion dieses Themas Vorbild für weitere überhitzte Diskussionen erweisen wird und damit über den aktuellen Sachverhalt hinaus kulturpolitische Relevanz haben wird. Viele Institutionen der Initiative GG 5.3. Weltoffenheit planen für 2021 Projekte zur weiteren Vertiefung und Ausdifferenzierung der Thematik.

Autor:

Foto: Silke Briel

Daniel Neugebauer ist seit April 2018 Bereichsleiter Kommunikation und Kulturelle Bildung am Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin. Er ist als Literaturwissenschaftler ausgebildet und interessiert sich für die Schnittstellen von Kommunikation und Bildungsarbeit. In seiner institutionellen Praxis, mit Stationen in der Kunsthalle Bielefeld, dem Van Abbemuseum Eindhoven sowie der documenta 14, beschäftigt er sich unter anderem mit Themen wie Inklusion, Queering oder transnationale Kooperationen.


[1] Als Trolls werden Online-Präsenzen bezeichnet, die auf eine bestimmte politische Mission angesetzt werden. Klassischerweise belästigen sie andere Nutzer*innen oder stören Diskussionen durch provozierende, beleidigende oder schlicht vom Thema ablenkende Zwischenrufe.

[2] Der Begriff »Ästhetik der Differenz« ist dem gleichnamigen Buch (2010, Jonas Verlag) von Viktoria Schmidt-Linsenhoff zu postkolonialen Perspektiven entnommen. Die These der Autorin ist, dass die Inkongruenz politischen Bewusstseins und persönlicher Erfahrungshorizonte durch ästhetische Produktionen reflektiert werden können. Bezogen auf die in diesem Essay skizzierte Problematik bedeutet das, dass kulturelle Praxis wie die Praxis von Kulturinstitutionen nur dann #neueRelevanz und produktive neue Ideen hervorbringen kann, wenn sie in der Lage ist, zwischen Positionen zu vermitteln und über die Zementierung der eigenen Position hinausdenken und -arbeiten will. Das heißt: Auch wer Boykott ablehnt, kann mit Menschen sprechen, die das nicht tun.

Transformieren statt transformiert werden:
Chancen für den Kultursektor

29. Januar 2021

Wir erleben einen Epochenwechsel. Das globale Kultursystem ist lahmgelegt und überwintert nach jahrelanger Überhitzung in bedrohlicher Kühle. Seit Monaten leben Tausende von Kulturschaffenden und Kulturinstitutionen mit existenziellen Unsicherheiten. Die Pandemie zeigt die Ungleichheit und die Prekarität des Kultursektors ebenso schmerzhaft wie seinen Nachholbedarf in Sachen Lobbying und Digitalisierung. Und sie beginnt bereits die künftigen Strukturen zu prägen.

Die einzige Möglichkeit, aus dieser belastenden Situation eine Chance zu machen, liegt darin, die Bedingungen für die Zeit nach der Krise mitzugestalten. Wagen wir daher einen Blick in die Zukunft. Lernen wir von den Errungenschaften, die in vielen künstlerischen Aktionen aus Not entstanden sind. Nicht umsonst hat der Bund im Covid19-Gesetz[1] Finanzhilfen für Transformationsprojekte zur Verfügung gestellt, die gemeinsam mit den Kantonen unterstützt werden können. Denn Transformieren oder transformiert werden, das ist die entscheidende Frage für den Kultursektor. Fünf Themen sollten Kulturpolitik, Kulturinstitutionen und Kulturschaffende dabei berücksichtigen.

Bessere soziale Absicherung der kulturellen und kreativen Berufe

Der Kultursektor ist wesentlich geprägt von Freischaffenden[2], die sich in höchster Verwundbarkeit und Abhängigkeit befinden. Etwa 15.000 Kulturschaffende sind in der Schweiz mit hohem Einsatz und wenig Absicherung tätig, ihr Status ist in gängigen Berufskategorien schwer zu erfassen und folglich schlecht geschützt: Musiker*innen und Tontechniker*innen, Tänzer*innen oder Kurator*innen, allesamt Angestellte im Kulturbereich mit befristeten Arbeitsverträgen bei häufig wechselnden Arbeitgeber*innen. Dies ist die Realität einer sehr dynamischen Branche, die kaum Festanstellungen bietet.

Die Freischaffenden tragen in unzähligen Projekten zum Reichtum unseres Kulturlebens bei – leider bleibt auf ihrer Seite wenig davon hängen, selbst wenn sie erfolgreich arbeiten, fallen sie durch die Maschen der Vorsorge-, Hilfs- und Absicherungssysteme und stehen am unteren Ende der Lohnskala. Ihnen verdanken wir einen Großteil der Festivals, Bücher, Tanzprojekte, Ausstellungen und Clubabende.

Abgesehen von angemessenen Honoraren ist es dringlicher denn je, die Besonderheiten dieser Berufsgattungen endlich im Sozialsystem abzubilden und ihnen einen Anspruch auf Arbeitslosenversicherung zu sichern. Die Schweiz hat hier Nachholbedarf, die bisherigen Nothilfemaßnahmen zeigen dies eindrücklich. Mögliche Teilmodelle aus Deutschland oder Frankreich können als Diskussionsgrundlage dienen, Suisseculture und andere Verbände sind ideale Gesprächspartner, um eine tragfähige Lösung zu entwickeln:

Die Pandemie hat die beschriebene Problematik verdeutlicht und für viele Betroffene schmerzhaft gezeigt, wie schwierig es ist, in einem staatlichen Nothilfesystem die zahlreichen freischaffenden Kulturberufe angemessen und fair zu erfassen. Es scheint daher absolut naheliegend und zwingend, die Frage der sozialen Absicherung von freien Kulturschaffenden in einem größeren Kontext anzugehen und auf eine politische Lösung hinzuwirken. Gelingt dies nicht, droht ein Segment an Kreativen wegzubrechen, das in unzähligen zeitgenössischen Formaten das Kulturleben der Zukunft wesentlich mitprägen würde.

Nachhaltige Prozesse statt kurzlebige Produkte fördern

Die gegenwärtige Krise zeigt in zugespitzter Form, in welchem Maße der Kultursektor ein Output-orientiertes System ist, das international eine wachsende Produktionsdichte bei abnehmender Präsentationsdauer fördert: Heute ist ein Werk hier, morgen dort und übermorgen wird es durch ein neues ersetzt. Dies ist ökonomisch und ökologisch wenig nachhaltig und führt zu großem Verschleiß. Unter der Hektik leiden auch die kreativen Prozesse. Wer je einem Orchester beim Proben zugehört hat, weiß, wie wichtig die Momente des Suchens sind, denn Klang ist nicht gleich Klang, er muss gefunden werden.

Kulturmarkt und Subventionspolitik haben Institutionen und Kunstschaffende über Jahre auf Outputsteigerung, Hypermobilität und Kurzlebigkeit gepolt. Der Kultursektor braucht aber mehr Nachhaltigkeit, bessere Verwertungs- und Wirkungsketten. Dafür muss er auf die Langfristigkeit von Prozessen setzen, zum Schutz der Ressourcen, Kreativität und Natur. Die Pandemie hat dafür eine Art »in vivo«-Experimentierlabor geschaffen: Im Zentrum der kulturellen Arbeit steht momentan zwangsläufig der künstlerische Prozess, die Recherche, und weniger das fertige Produkt und dessen Präsentation.

Dadurch hat auch das Lokale und der direkte Einbezug der Menschen vor Ort an Bedeutung gewonnen. Kurze Wege sollen aber nicht Provinzialisierung bedeuten, denn gerade mit bewusster lokaler Verankerung muss es weiterhin darum gehen, einen internationalen Austausch zu pflegen: Kunst und Kultur entstehen aus dem Dialog mit anderen Realitäten. Für die Kulturförderung wird es künftig darum gehen, die Förderempfänger*innen nicht nur an Produktions-Ergebnissen, sondern auch an Prozessen zu messen. Recherchen, technologische Experimente oder offene Austauschprozesse sollten dezidiert Teil des Auftrags sein. Der Kulturbereich wird dadurch wesentlich an Qualität und Nachhaltigkeit gewinnen. 

Raum schaffen für Transdisziplinarität und neue Sprachen

Lange Zeit wurde der Begriff der künstlerischen Qualität von Institutionen nach bestimmten ästhetischen Filtern diktiert, die einer disziplinären Logik folgen und bis heute die Kulturförderung bestimmen. Mit zunehmender Popularität digitaler Praktiken entstehen neue soziale Konstruktionen von Qualität, die mit jenen der Institutionen konkurrieren. Im Reich von TikTok & Co. findet sich hierzu endloses Anschauungsmaterial.

Theaterregisseur Arne Vogelgesang experimentiert schon lange mit Netz-Formaten: »Man traut sich Live-Streams von den Proben oder Opern-Kommentare auf Twitch – wo beide Seiten erstmal verwirrt sind, sowohl das Internet-Laufpublikum als auch die Opern-Besucher. Diese Überkreuzung von Welten finde ich das Spannendste im Moment: mit dem zu experimentieren, was Publikum und Publikumsbeziehung bedeutet.«

Für die institutionelle Kultur und ihre Förderung stellt sich die Frage, wie und von wem das künftige Verständnis von Qualität erarbeitet wird. Das Verhältnis zum Publikum, auch der Einbezug von und die Interaktivität mit neuen Publika sind hier wichtige Herausforderungen. Transdisziplinäre Formate bereichern darüber hinaus den künstlerischen und außerkünstlerischen Dialog indem sie Kompetenzen aus verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten einbeziehen. Dies kann zu hybriden Produktionsformen und Prozessen führen. Der Tänzer, die VR-Spezialistin und der Modedesigner für eine Modeschau, der Klangforscher und die Geologin für ein Landschaftsprojekt interagieren und suchen eine gemeinsame, vielleicht neue Sprache. Transdisziplinarität fordert dazu heraus, die eigenen Verständnisräume und Denkkategorien zu verlassen und sich auf unvertraute Zusammenhänge einzulassen. Für Kulturinstitutionen liegt die Herausforderung darin, nicht in beliebige Aktivismen zu verfallen, sondern gezielt neue Sprachen zu lernen und die relevanten Akteure außerhalb ihrer ursprünglichen Bestimmung einzubinden.

Das Publikum findet seine Kultur nicht nur dort, wo die Kultur ihr Publikum sucht

Untersuchungen aus der Zeit der Pandemie belegen, dass die Menschen nicht weniger Kultur konsumiert haben, sie haben sie bloß anderswo gesucht und gefunden als bisher. Eine Studie des Unternehmensberaters Deloitte weist für Deutschland eine erhöhte Mediennutzung zwischen 38 % (Konsolen) und 55% (Mediatheken) aus. Dabei wirkt die Pandemie wie ein Katalysator: Digitale, qualitativ hochwertige Inhalte wurden stärker genutzt, zugleich beschleunigte sich der Rückgang bei traditionellen Medienangeboten.

Es gibt also entgegen unbelegten Gerüchten einen großen Appetit nach Kultur. Nur wird dieser Appetit nicht unbedingt dort gestillt, wo traditionellerweise die kulturellen Speisen offeriert werden. So stellt sich die entscheidende Frage, von wem und für wen künftig was angeboten und verbreitet wird. Das Geschäft mit der Veränderung des Publikumsverhaltens wird meist von Instanzen betrieben, die nicht zum herkömmlichen Kulturbetrieb gehören und sehr viel Einfluss auf das Kulturleben der Zukunft haben.

Amazon verdreifachte im 3. Quartal 2020 seinen Gewinn auf den bisherigen Rekordwert von 6,3 Mrd. Dollar. Aber was kann der Kultursektor tun, statt den Plattformkapitalismus zu beklagen und zugleich mangels Alternativen Youtube, Twitch und Spotify zu nutzen? Die Antwort ist etwas unbequem und lautet: Akzeptieren, dass das Netz für den herkömmlichen Kulturbetrieb kein feindlicher Raum ist und daran arbeiten, die Verteilverhältnisse zu verändern. Eine zentrale Aufgabe künftiger Kultur- und Institutionenpolitik könnte es sein, alternative, selbstorganisierte Plattformen zu ermöglichen, auf denen die Mittel- und Informationsverteilung, die Produktion und Distribution eigenständig und produzentenfreundlich organisiert wird. Das ist machbar und reizvoll, auch in der Schweiz. Die Erfahrungen während der Pandemie haben gezeigt, dass dies keine Utopie sein muss, es gibt Menschen in den Startblöcken.

Die Grenze des Digitalen beginnt bei der Realität des Körpers

Mit dem Zuwachs an digitalen Angeboten im Web kann das Bedürfnis nach Inhalten zeitgleich lokal und international sehr viel breiter bedient werden, auch partizipatorischer, als dies Kulturinstitutionen auf analoge Art schaffen. Die digitale Kulturwelt ist populär, divers und zugänglich, jederzeit und überall verfügbar. Diese Potentiale sind es, die sich die analoge Kultur vermehrt aneignen muss, um ihre inhaltlichen Stärken beim Publikum auszuspielen. Das Bedürfnis nach physischem Zusammenkommen, das Verlangen nach körperlicher Begegnung wird die zentrale Realität des Kultursektors bleiben, denn der Sinn von gelebter Kultur ist direkte Interaktion.

Alles zu Digitalisieren oder in virtuelle Formate zu bringen, wünschen wir uns nicht, es geht um ergänzende oder hybride Formate. Die Möglichkeiten der Interaktion zwischen analog und digital sollten deshalb vorurteilsfrei ausgebaut werden, so dass aus der noch platten Idee des Streamings mehr wird als eine Notlösung für die nächste Pandemie. Nur der direkte, gleichberechtigte Kontakt zwischen Menschen an einem gemeinsamen Ort – ob analog oder digital – ermöglicht offenen Dialog oder Widerspruch, die beide für unsere Gesellschaft existenziell wichtig sind. Kultur ist immer auch ein Angebot für Demokratiebildung. Kann man sich dabei nicht in die Augen schauen, fehlt etwas Entscheidendes zum Mitdenken, Mitfühlen und Mitstreiten.

Die bereits begonnene Transformationsphase wird eine Gelegenheit sein, uns darauf zu verständigen, welche kulturellen Werte wir als Gesellschaft fördern wollen. Für uns alle, hoffe ich, ob als Publikum, Kulturschaffende, Veranstalterinnen oder Kulturförderer, wird es darum gehen, den Weg zu öffnen zu einem Kulturbetrieb, der nachhaltiger, prozesshafter und verteilgerechter wird.

Autor:

Foto: Anita Affentranger

Philippe Bischof (1967) ist seit dem 1. November 2017 Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Nach Studien in Basel begann er seine Laufbahn als Regieassistent am Theater Basel. Anschließend arbeitete er als Regisseur und Dramaturg im In- und Ausland sowohl an Stadttheatern wie auch in der freien Szene.

Hinweis: Die Zeitung »Schweiz am Wochenende« hat den Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia eingeladen, in einer Carte Blanche seine Gedanken zur Zukunft des Kultursektors und der Kulturpolitik zu formulieren. Der dabei entstandene Text konzentriert sich bewusst auf einige Zukunftsthemen, die struktureller Art und eng miteinander verbunden sind, wohl wissend, dass es auch andere Dringlichkeiten gibt: Etwa Fragen der Diversität und Chancengleichheit, die ebenfalls in einer künftigen Kulturpolitik prioritär zu behandeln sind.


[1] Mit diesem Gesetz hat der Schweizer Bundesrat finanziellen Maßnahmen zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie beschlossen (vgl. https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2020/711/de, letzter Zugriff 26.01.2021). Art. 11 regelt die Maßnahmen im Kulturbereich, u.a. auch die sog. Transformationsprojekte: »Kulturunternehmen mit Sitz in der Schweiz können für Projekte, welche die strukturelle Neuausrichtung oder die Publikumsgewinnung zum Gegenstand haben, bei den Kantonen dafür Finanzhilfen beantragen. Bitte beachten Sie: Die Finanzhilfen decken höchstens 80 Prozent der Kosten eines Projekts. Sie betragen maximal 300 000 Franken pro Kulturunternehmen.« (vgl. https://www.bak.admin.ch/bak/de/home/themen/covid19/massnahmen-covid19/kulturelle-unternehmen.html, letzter Zugriff 26.01.2021) Transformationsprojekte umfassen zwei Kategorien von Vorhaben: Zum einen sind Vorhaben förderfähig, die eine strukturelle Neuausrichtung des Kulturunternehmens zum Gegenstand haben. Damit sind Vorhaben wie organisatorische Verschlankungen, Kooperationen verschiedener Kulturunternehmen oder Zusammenschlüsse (Fusionen) gemeint. Zum anderen können Projekte unterstützt werden, welche die Wiedergewinnung von Publika oder die Erschließung neuer Publikumssegmente bezwecken. Die Kantone haben bei der Auswahl der Projekte respektive der Beurteilung der Kriterien nach Artikel 8 einen großen Ermessensspielraum.

[2] Der Begriff »Freischaffende*r« ist in der Schweiz seit langem Gegenstand politischer Diskussionen rund um die Frage der sozialen Absicherung von Kunstschaffenden. Dies hat damit zu tun, dass die freischaffenden Berufsbilder jenseits des eindeutigen, offiziell anerkannten Selbständigen-Status oft nicht klar definiert bzw. erfasst sind und dementsprechend auch nicht anspruchsberechtigt im Zusammenhang mit sozialen Leistungen, Arbeitslosenversicherung. In Diskussionen wird oft auf den Status der Intermittence in Frankreich oder auf die Künstlersozialkasse Bezug genommen. Im Covid-19-Gesetz gilt folgendes: Unter den Begriff der Kulturschaffenden fallen alle Personen, die hauptberuflich im Kulturbereich tätig sind. Dazu zählt insbesondere auch technisches Personal (Ton, Beleuchtung usw.). Nicht erforderlich ist eine ausschließlich selbständige Tätigkeit. Erfasst sind auch Kulturschaffende, die eine Kombination aus selbständiger und angestellter Tätigkeit ausüben. Um den zahlreichen atypischen Arbeitsverhältnissen im Kulturbereich Rechnung zu tragen, können auch Kulturschaffende mit befristeten Anstellungen eine Nothilfe erhalten. Die Definition der hauptberuflichen Tätigkeit stützt sich auf Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 der Kulturförderverordnung (KFV; SR 442.11) ab. Hauptberuflich im Kulturbereich tätig sind damit Kulturschaffende, die mit ihrer künstlerischen Tätigkeit mindestens die Hälfte ihres Lebensunterhaltes finanzieren oder mindestens die Hälfte der Normalarbeitszeit für die künstlerische Tätigkeit einsetzen. Maßgebend sind dabei auch künstlerische Tätigkeiten (selbständig erwerbend oder angestellt) außerhalb des Kunstsektors gemäß vorliegender Definition (z.B. Tanzlehrerin an einer Tanzschule). Das Vorliegen einer hauptberuflichen Tätigkeit ist im Einzelfall gestützt auf die durch die Kulturschaffenden beizubringenden Unterlagen zu beurteilen (z.B. Steuerabrechnungen, Liste von Engagements, Ausstellungen usw.).