»Ist doch gut, dass sie eingesehen haben, dass sie etwas ändern müssen«

18. Mai 2022

Kulturproduktion in der Migrationsgesellschaft: Über die Überwindung eines Spannungsfeldes

Fragen der Zugehörigkeit und Zugänge im Kulturbetrieb sind bereits seit Jahrzehnten Gegenstand von gesellschaftlichen Debatten. Wenngleich die Anwendung des Terminus Diversität oder Diversity erst in den letzten Jahren Konjunktur erlangt hat, wurde bereits in der Vergangenheit die Exklusivität der sogenannten Hochkultur in Frage gestellt und beispielsweise die Zugänglichkeit von musealen Inhalten thematisiert. So stellte bereits in den 1970er Jahren Pierre Bourdieu den demokratischen Charakter des Museums in Frage, indem er formulierte:

»So wird betont, dass ›Museen schon in ihren geringsten Details ihrer Morphologie und Organisation ihre wahre Funktion verraten, die darin besteht, bei den einen das Gefühl der Zugehörigkeit, bei den anderen das Gefühl der Ausgeschlossenheit zu verstärken‹. Statt zur Öffnung und Demokratisierung Kultur beizutragen, wird durch diese Formen der Vermittlung sozialer Ausschluss symbolisch reproduziert.«[1]

Jedoch scheint sich heute ein Bewusstsein innerhalb sowie außerhalb der kulturellen Institutionen breit gemacht zu haben, dass die Frage nach Teilhabe und der altbekannte Ruf nach »Kultur für alle« in der Migrationsgesellschaft erneut auf dem Prüfstand steht.

Nicht zuletzt habe ich dies in vielen persönlichen Gesprächen mit sehr unterschiedlichen Personen auch außerhalb des Arbeitsalltages als Referentin für Diversität & Outreach am Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg erlebt. So traf in den allermeisten Fällen die Tatsache, dass eine solche Arbeitsstelle allein für diesen Bereich geschaffen wurde, auf erstaunlich wenig Erklärungsbedarf. Unter anderem hörte ich Kommentare, wie »ist doch gut, dass sie eingesehen haben, dass sie etwas ändern müssen«. Dies etwa war ein Kommentar eines pensionierten Arztes aus Norddeutschland, der in Syrien geboren ist.

Das Bewusstsein für Fragen der Teilhabe im Kulturbetrieb scheint also gesellschaftlich weitaus stärker zu sein, als sich die Kulturbetriebe selbst vielleicht eingestehen möchten.

Literatur thematisiert konkrete Problemstellungen der Diversität im Kulturbetrieb

Über ein diffuses Bewusstsein hinaus weist eine Vielzahl an Publikationen darauf hin, an welchen konkreten Stellen sich die Kulturproduktion tatsächlich in einem Spannungsfeld mit der Migrationsgesellschaft befindet.

Beispielsweise kritisiert Vera Allmannritter den teils undifferenzierten Blick auf Menschen mit Zuwanderungsgeschichte im Rahmen von Publikumsentwicklung. Sie weist darauf hin, dass

»[…] das Verständnis, dass Menschen mit MH [Migrationshintergrund] nicht als spezielle, einzeln zu bedienende ›Sonderzielgruppe‹ zu behandeln sind, sondern je nach Zielsetzung der Ansprache (nach Generationen, Geschlecht, sozialer Lage etc.) völlig natürlich und selbstverständlich mit eingeschlossen sein können – was jedoch nicht zwangsläufig bedeutet, dass migrationsspezifische Aspekte in deren Kulturnutzungsverhalten (beispielsweise Interessen, Kommunikationswege, spezielle Besuchsbarrieren) nicht berücksichtigt werden können […]«

Zudem führt sie aus, dass

»[…] die Ahnung, dass Kulturinstitutionen zukünftig nicht umhinkommen werden, sich auf bislang nicht dagewesene Art und Weise ändern zu müssen, sprich ihre gesellschaftliche Position und ihren Habitus zu hinterfragen, sich umfassender für bislang nicht erreichte Bevölkerungsgruppen zu öffnen sowie ihr (evtl. nicht ausreichend multikulturelles) Angebotsspektrum zu überdenken, um mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt zu halten.«

Ausführlich und anhand empirischer Beispiele weist Natalie Bayer auf eine Reproduktion migrantischer Andersartigkeit durch museale Darstellungsweise hin und stellt bei Migrationsdebatten »eine oft massiv unreflektierte Anknüpfung an den nationalen Integrationsimperativ« fest

Wie schwierig sich eine langfristige Teilhabemöglichkeit an Kulturproduktion gestaltet, besonders für Personen mit Fluchtgeschichte, thematisiert etwa die Studie des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, »Bedingungen und Herausforderungen für Künstlerinnen und Künstler«.

Dies sind nur einige der kritischen Auseinandersetzungen mit kultureller Teilhabe in der Migrationsgesellschaft. Gerade Sammlungen aus kolonialen Kontexten, sollten unter Einbezug einer größtmöglichen gesellschaftlichen Beteiligung behandelt werden.

Hinwendung zur Thematisierung von Diversität aus der Perspektive struktureller Problemstellungen – insbesondere im Sinne von Ethnisierungsprozessen

Bemühungen um eine Beseitigung diskriminierungskritischer und struktureller Benachteiligung im Kulturbetrieb wurden mittlerweile vereinzelt politisch thematisiert und in konkrete Maßnahmen übersetzt. Dazu gehören Initiativen, wie etwa die Herausgabe der Expertise zu Handlungsoptionen zur Diversifizierung des Berliner Kultursektors von »Vielfalt Entscheidet« sowie die Gründung der Beratungsinstitution für Diversität im Kulturbereich (Diversity Arts Culture) in Berlin. Auch durch das Projekt 360° – Fonds für Kulturen der Neuen Stadtgesellschaft erhalten Debatten um Strukturen sowie deren Wandel eine Vielzahl an neuen Impulsen. So fand erst im Januar des Jahres 2022 eine Konferenz mit dem Titel »Aufbrechen! Ran an die Strukturen« statt.

Hier geht es also nicht nur darum, ausschließlich ein zusätzliches Publikum im Rahmen des »Audience Developments« anzuwerben, sondern auch darum, Organisationen langfristig zu verändern und an die Migrationsgesellschaft anzupassen.

Doch trotz kritischer Analysen und Initiativen, bleiben die Diskurse um Diversität stellenweise unzureichend und umgehen eine Aushandlung von diskriminierenden Strukturen. Insbesondere in Hinsicht auf institutionelle Ausschlussmechanismen, mangelt es in vielen Fällen an Fachwissen und Verständnis. Dabei ist ein strukturelles sowie diskriminierungskritisches Verständnis von Diversität die Basis dafür, den eigenen Handlungsrahmen und die Auswirkungen von individuellen Handlungen vollständig zu verstehen und daraus wiederum die richtigen Lösungsansätze zu entwickeln.

Welchem theoretischen Ansatz liegt die strukturelle Thematisierung von Diversität zu Grunde?

Relevant ist dabei, das Verständnis von Diskriminierung allein im Sinne »sichtbarer« Handlungen, etwa in Form von ausgesprochenen Vorurteilen, zu verlassen und sich einem erweiterten Verständnis »sozialer Prozesse« zu widmen: »Phänomene ethnischer Diskriminierung durchdringen unseren Alltag auf komplexe und oft subtile Weise.«[2] Es gilt also, das Phänomen Diskriminierung, heißt  »das Unterscheiden von Personengruppen, also das Unterscheiden, das Gruppen zu Gruppen macht, Hierarchie zwischen Gruppen herstellt und begründet und damit Menschen ausgrenzt und/oder benachteiligt werden«[3] über das Offensichtliche hinaus erkennbar zu machen.

Der aus dem angelsächsischen Raum stammende Begriff der »institutionellen Diskriminierung« basiert auf der Annahme, dass ein institutionelles Setting an der Herstellung, Verfestigung und Modifizierung sozialer Differenzen beteiligt ist. Untersucht wird dabei hauptsächlich »die Einbettung von Diskriminierung in der ›normalen‹ Alltagskultur von Organisationen und in der Berufskultur der in ihnen tätigen Professionellen«.[4]

Dem Soziologen Stuart Hall zufolge werden die Mechanismen des institutionellen Rassismus in den Organisationstrukturen »auf informellen und unausgesprochenen Wegen durch ihre Routinen und täglichen Verfahren als ein unzerstörbarer Teil des institutionellen Habitus weitergegeben. Diese Art von Rassismus wird Routine, gewohnt, selbstverständlich.«[5]

Benachteiligung am Beispiel Schule

Um ein umfangreiches Verständnis davon zu erhalten, wie Organisationen Orte des Ausschlusses werden, macht es Sinn, ein Beispiel aus einem anderen Gesellschaftsbereich heranzuziehen. Insbesondere in Bezug auf die Frage nach Migrationsgesellschaft und die ethno-kulturellen Differenzsetzungen bietet sich die Schulforschung an, um Vergleiche zum Kulturbereich herzustellen.

Hier wird bereits seit Jahrzehnten debattiert, wieso ein bestimmterUmstand »die Investition von möglicherweise vorhandenem sozialem und kulturellen Kapital der Eltern und ihrer Kinder verpuffen läßt und verhindern kann«[6]. In diesem Ansatz liegt der Versuch, die »hinter den Entscheidungen liegenden Kalküle, denen die Schulen und andere bildungspolitische Akteure im Prozeß der Selektion und Allokation folgen«, zu verstehen.

Eine Studie von hoher Relevanz ist dabei eine von Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke in den 1990er Jahren an Bielefelder Schulen durchgeführte Studie, die im Jahr 2002 veröffentlicht wurde. Als Ergebnis hielten Gomolla und Radtke fest, dass Schüler*innen mit Migrationshintergrund Nachteile erhielten, indem Lehrkräfte von »kulturellen Passungsproblemen« sprachen, auf den monolingualen Charakter der Schule bestanden und durch retroaktives Erklären benachteiligende Entscheidung legitimiert und gerechtfertigt wurden.[7] Auch kann der Kulturbetrieb daraus lernen, den Blick auf weitere Ebenen zu richten, die im Schulsystem laut Gomolla zu Ungleichheit führen:

  • politische Vorgaben,
  • lokale organisatorische Strukturen,
  • organisatorische Handlungszwänge und
  • etablierte Praktiken in einzelnen Schulen sowie
  • ein pädagogischer Common Sense, der stark von defizitorientierten Annahmen und
  • statischen Konzepten kultureller Identität bestimmt ist.[8]

Was bedeutet ein Diversitätsverständnis, welches institutionelle Settings und Benachteiligung anerkennt?

Die Schulforschung gibt somit Hinweise darauf, dass organisationale Diversifizierungsprozesse auf dem Prüfstand stehen. Zudem wird erkenntlich, dass die Verknüpfung von Diversität und dem mittlerweile auch im Kulturbereich angekommenen Change-Management eine besondere Leistung zuteil kommen sollte. So weist Gomolla darauf hin, dass die im »scientific management vermittelte Vorstellung, Organisationen seien technischrationale Instrumente, um organisatorische Aktivitäten effizient zu steuern«, in Frage gestellt werden sollte. Sinnvoll sei demnach eine Kombination von Diskriminierungstheorien mit Konzepten der neueren amerikanischen Organisationsforschung. Dabei seien folgende Theorieangebote von Relevanz: lose Kopplung, verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie und Neo-Institutionalismus.[9]

Auf der anderen Seite bedeutet ein Hinterfragen von Diversität im Sinne von Organisationen, Strukturen und Benachteiligung, eine Anerkennung von sozialen Komplexitäten, die im Alltag regelmäßig zu überprüfen sind und machtkritisch in Frage gestellt werden müssen. In einem Beitrag für DeutschPlus e.V. weist Sohal Behmanesh darauf hin, dass bei Diversity Prozessen die Machtkonstellationen komplexer als in klassischen Change Prozessen sind. Denn die Abwehrhaltung sei nicht nur durch die Anstellungsverhältnisse erklärbar, sondern häufig aus gesellschaftlich privilegierten und damit auch machtvollen Positionierungen zu verstehen

»[…] unlike other change initiatives, diversity change has an added psychological component […]. (T)he field of social psychology suggests that discrimination, or bias in favor of one’s own group to the detriment of others, is a cognitive and motivational phenomenon that, when challenged, is met with psychological resistance«.

Ein kritisches Diversitätsverständnis im Sinne institutioneller Ausschlussmechanismen bedeutet also, dass branchenspezifische Strukturen ausreichend verstanden werden sollten. Es bedarf dafür vertiefter wissenschaftlicher Analysen, die nicht nur die internen Strukturen von Kultureinrichtungen, sondern ebenso den Handlungsrahmen, in dem Kultureinrichtungen agieren, in den Blick nehmen. Dazu gehört die Frage nach dem politischen Setting, den sozialen Netzwerken, in dessen Rahmen Kultur produziert wird, sowie vor allem nach den Organisationsstrukturen von öffentlich geförderten Kultureinrichtungen. Dies ist nur möglich, wenn sich der kulturpolitische Diskurs kritischer mit den Strukturen auseinandersetzt. Sonst wird es schwierig, eine Diversitätsentwicklung umzusetzen, die einer modernen Migrationsgesellschaft gerecht wird. Das Verpuffen von »vorhandenem sozialem und kulturellen Kapital« (siehe Fußnote 6) der Migrationsgesellschaft sollte besonders in Kunst und Kultur eben nicht stattfinden. Denn nur, wenn das Thema Diversität nachhaltige Verankerung in den Organisationsstrukturen findet und gesamtpolitisch als Querschnittsaufgabe verstanden wird, erhalten Menschen mit hybriden Lebensrealitäten gleichberechtigt Ausdrucksmöglichkeiten innerhalb der Mainstream-Kulturproduktion.

Autorin:

Jenin Elena Abbas ist als Referentin für Diversität und Outreach am Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg im Rahmen des 360° Programms – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft der Kulturstiftung des Bundes tätig. Zuvor war sie unter anderem für das Goethe-Institut Kairo als Projektkoordinatorin der Kulturzeitschrift Fikrun wa Fann (Art&Thought) tätig. 

Sie hat an den Universitäten Osnabrück, der American University in Kairo (Ägypten), an der Hochschule Bremen sowie an der San Jose State University (USA) studiert.


[1] Bourdieu 1974: 198 in Bourdieu / Darbel 2006

[2] Gomolla, Mechthild (2006): »Institutionelle Diskriminierung im Bildungs- und Erziehungssystem«, S. 97

[3] Foitzik, Andreas (2010): »Einführung in theoretische Grundlagen: Diskriminierung und Diskriminierungskritik«, in Foitzik, Andreas / Hezel, Lukas J. (Hrsg.) (2010): Diskriminierungskritische Schule, S. 12

[4] Gomolla, Mechthild (2010): »Institutionelle Diskriminierung. Neue Zugänge zu einem alten Problem«, in: Hormel, Ulrike / Scherr, Albert (Hrsg.): Diskriminierung, S. 77-78

[5] Hall, Stuart (2001): »Von Scarman zu Stephen Lawrence«, in: Schönwälder, Karen / Imke Sturm-Martin, (Hrsg.): Die britische Gesellschaft zwischen Offenheit und Abgrenzung: Einwanderung und Integration vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, S. 154–168, hier S. 165

[6] Radtke, Frank-Olaf (2004): Die Illusion der meritokratischen Schule. Lokale Konstellationen der Produktion von Ungleichheit im Erziehungssystem

[7] Gomolla, Mechtild / Radtke, Frank-Olaf (2002/2009): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule

[8] Mechtild Gomolla, Institutionelle Diskriminierung. Neue Zugänge zu einem alten Problem, in: Diskriminierung, Hormel/Scherr (Hrsg.), 2010, S. 81

[9] Ebd.

Theaterpädagogik – strahlende Tiefstapelei

25. April 2022

Passt auf Euch auf!

Theaterpädagogik ist der geilste Job der Welt. Ehrlich. Nirgendwo erlebe ich schönere Momente als bei der Arbeit Gruppenprozesse anzustoßen und zu begleiten. Der Prozess einer Stückentwicklung ist eine fantastische Reise, die Menschen einlädt, sich selbst besser kennenzulernen und sich im Erfahrungsfeld Bühne neu auszuprobieren. Ich möchte kein Projekt in meiner Laufbahn missen. Und doch gibt es im Universum der Theaterpädagogik Missstände, auf die ich gerne aufmerksam machen möchte.  

Dies ist ein Plädoyer für mehr Wertschätzung gegenüber der Theaterpädagogik und der Versuch des Empowerments meiner Kolleg*innen.

Theaterpädagogik hat viele Facetten 

Man findet sie in großen Theaterhäusern zur ästhetischen Wissensvermittlung, an Schulen als kooperative Teambuildingmaßnahme, in der politischen Bildungsarbeit, im Training für Führungskräfte. Sie ist ästhetisch, willensstark, flexibel und – vor allem – ganz nah am Puls der Zeit. Im stetigen Kontakt mit Zielgruppen arbeitet sie in erster Reihe sozial wie künstlerisch.

Die Methodik ist vielfältig: biographisches Theater, Commedia Dell ‘arte, Forumtheater, Playbacktheater und vieles mehr. Theaterpädagog*innen (im Folgenden TPs genannt) greifen auf einen bunten Strauß von spielerischen Methoden zurück, um gesellschaftsnahe, vermehrt konfliktbehaftete Themen zu identifizieren und in eine ästhetische Form zu gießen. Häufig entstehen Stückentwicklungen auf der Basis der Lebenswirklichkeiten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die treffender nicht sein können. TPs sind Generalist*innen. Sie statten sich mit einem Grundstock an Technik, Requisiten und Kostümen aus, um möglichst flexibel auf die Gegebenheiten vor Ort reagieren zu können.

Sie erstellen Konzepte, kennen sich in der Förderlandschaft aus und lassen sich auf immer neue Anfragen und Wünsche der Auftraggeber*innen ein. 

Möchte man eine existentielle Sicherheit auf diesem Berufsbild aufbauen, zeigen sich unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten. Auf zwei gängige Bereiche, in denen sich viele Berufsanfänger*innen tummeln, möchte ich eingehen: Die Freiberuflichkeit und die Festanstellung. So vielfältig die aufgezeigten Einsatzmöglichkeiten aber sind, umso ernüchternder ist der Arbeitsalltag:

Ausgebildete TPs haben in den ersten Berufsjahren der Freiberuflichkeit einige Hürden zu überwinden. Aufträge gibt es viele. Die Relevanz von Theaterpädagogik ist schon lange in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das Erproben von Präsenz und Selbstbewusstsein vor allem junger Menschen ist im Schutz der theatralen Rolle, ist ein akzeptiertes und wirkungsvolles pädagogisches Konzept. Projekte als Honorarkraft an Schulen sind daher ein guter Berufseinstieg, um die Wirksamkeit der eigenen Arbeit gespiegelt zu bekommen.

Dem steht allerdings die schwer zu planende Vergütung gegenüber. Bei monatlicher Abrechnung können nur die geleisteten Stunden in Rechnung gestellt werden. Weder in den Ferien noch an geplanten schulischen Sonderveranstaltungen wird durchbezahlt. Die Schüler*innen haben frei, die TPs auch – ohne Bezahlung.

Und die Höhe der Honorare ist gering: Für ein schuljahrübergreifendes, wöchentlich stattfindendes Projekt gibt es oft unter 3000 Euro brutto bei mehr als 100 Zeitstunden. Anti-Gewalt-Trainings als Workshop, Einheit oder in Form eines Klassenzimmertheaterstücks sind an den Schulen sehr gerne gesehen, da sie eine kurzfristige Entlastung der Lehrkräfte bedeuten.  

Die finanzielle Sicherheit für TPs ist dabei allerdings nur temporär gewährleistet. Ob das Projekt im nächsten Jahr fortgesetzt werden kann, hängt häufig am Engagement Einzelner in den Kollegien. Die erarbeiteten Ergebnisse sind für die Zielgruppe wenig nachhaltig, da strukturell nicht verankert.

Eine Festanstellung kann eine Beschäftigung an einem Theaterhaus bedeuten. Hier ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß im Rahmen eines Normalvertrags Bühne Solo (NV) engagiert zu werden.

Der NV Bühne Solo bringt Sicherheit

Ein monatliches Festgehalt aufs Konto, ein 13. Gehalt und 30 Tage Urlaub im Jahr, dazu eine Altersvorsorge sind vertraglich geregelt. Doch bleibt der NV stets auf ein Jahr befristet. Erst nach 15 Jahren dauerhafter Beschäftigung ist das Mitglied vor Kündigung geschützt. Vorher kann das Arbeitsverhältnis aus Gründen, wie Intendanzwechsel oder künstlerischer Neuorientierung, nicht verlängert werden. Für eine Person, die vorher selbstständig war, kann ein solches Modell sehr beruhigend sein. Für eine Person, die mit ihrer Familie ansässig werden will, bedeutet der Vertrag Unsicherheit.

Das Berufsbild ist gänzlich anders, als man es sich während der Ausbildung ausgemalt haben könnte

TPs an großen Häusern haben einen Vermittlungsauftrag. Sie bauen ein Netzwerk an Schulen und Kitas auf, um ihnen die altersempfohlenen Stücke nahe zu bringen. Das bedeutet im Alltag: als verlängerter Arm des Marketings Klinken putzen und Eintrittskarten verkaufen. Häuser benötigen eine gute Auslastung, um ihre millionenschweren Förderungen stadtpolitisch zu legitimieren. Die TPs leisten dazu einen großen Anteil, indem sie die Inszenierungen mit Schüler*innen versorgen und die Stücke im Rahmen des Unterrichts didaktisch aufbereiten. 

In vielen Theaterhäusern herrscht zudem ein altmodisches Bild der Theaterpädagogik der 1980er Jahre. Oft interessiert es kaum, womit die TPs ihre Arbeitszeit verbringen – solange die Zahlen im Haus stimmen. Inhaltliche Vorschläge für sind selten gerne gesehen. Theaterklassiker etwa passen nicht in avantgardistische Häuser, stehen aber trotzdem auf dem Lehrplan, was TPs in eine schwierige Situation bringt. 

In meiner Funktion als leitende Theaterpädagogin habe ich viele außerschulische Projekte realisiert. Das Leitungsteam des Theater Oberhausen war, zu meiner Zeit dort, eines der wenigen unter sehr vielen Theaterhäusern, das die Theaterpädagogik innovativ, vernetzend und als Verlinkung in die Stadtgesellschaft ernst genommen hat.

Verhandlungen von Gagen sind ein großes Thema, über das mehrheitlich geschwiegen wird. Mir begegnen häufig junge TPs, die in Ausbildung oder Studium nicht gelernt haben, wie sie ihren Einsatz kalkulieren und den Wert ihrer Arbeit verhandeln. Wer nicht in die Altersarmut schlittern möchte, muss wirklich gut verhandeln können. Im Manifest des BUT ist ein Mindeststundensatz von 35 Euro und ein angemessener Stundensatz von 50 Euro gefordert. Berufsanfänger*innen landen jedoch häufig in Institutionen und Förderprogrammen, die ihnen nicht einmal 30 Euro die Stunde anbieten. 

»Ich nehme den Job an, weil ich nichts Anderes kriege…« vs. Argumente für Reichtum.

Deshalb: Kennt euren Wert. Sammelt gute Argumente für euren Stundensatz. Macht transparent, wieso Eure Leistung so viel kostet, wie ihr sie ansetzt. Akzeptiert, wenn ein Projekt mit kleinem Budget der zu kleine Schuh für eure Expertise ist. Haltet aus, wenn ein Projekt nicht zustande kommt, weil man sich finanziell nicht einig wird. Haltet aus, wenn ein Projekt nicht zustande kommt, weil die Wertschätzung seitens der Auftraggeber*innen nicht vorhanden ist. Haltet die Stille aus, nachdem ihr eure Gagenvorstellung geäußert habt.Die nächsten Gelegenheiten kommen bestimmt.

Jedes Projekt braucht eure volle Aufmerksamkeit, Kraft und Expertise, unabhängig von der Bezahlung. Nehmt ihr ein Projekt mit unpassenden Konditionen an, sabotiert ihr euch selbst. Denn während das Projekt läuft, könnt ihr keine Projekte, die bessere Arbeitsbedingungen bieten, akquirieren. Ihr könnt nicht netzwerken, könnt euch nicht fortbilden. 

Prekäre Bezahlung nutzt für den Moment, jedoch benötigt ihr in Ruhezeiten ein finanzielles Polster, um Kraft zu schöpfen. 

Ihr steht an erster Stelle 

Eure Arbeitskraft gilt es zu erhalten und zu optimieren. Lasst euch nicht von Existenzängsten leiten. 

Tragt die Verantwortung für euch und für unseren Beruf. Vergesst nicht: Wir bereiten den Weg für den Nachwuchs.

Also lasst uns den Beruf nicht ruinieren, durch zu große Bescheidenheit, »Freundschaftsdienste« oder gar Tiefstapelei. 

Vernetzt euch. Sprecht über eure Gagen. Stützt einander. Sorgt für Euch. Damit der geilste Job der Welt der geilste Job der Welt bleibt.

Autorin

Foto: Anna Scheidemann

Amira Bakhit ist Schauspielerin und Theaterpädagogin aus Frankfurt am Main. Als Schauspielerin für Improvisation ist sie Teil des 2003 gegründeten »Fast Forward Theatre« und bewegt sich im Bereich des Business-Theaters. Sie spielt unterschiedliche Klassenzimmertheaterstücke, die sich mit Themen wie Diskriminierung, Vorurteile, Flucht und Klimawandel beschäftigen. Theaterpädagogisch ist Amira an Schulen des Ruhrgebiets unterwegs und erarbeitet mit Schüler*innen Stücke auf Basis ihrer Lebenswirklichkeit.

Seit der Spielzeit 2019/20 leitet sie die theater:faktorei am Theater Oberhausen und wechselt Mitte 2022 als Bereichsverantwortliche für Theaterpädagogik an das Fritz-Henßler-Haus in Dortmund.

Begrenzte Freiheit

7. April 2022

Von der Nachhaltigkeit und der begrenzten Freiheit der Kunst

Die Verfassung spricht Klartext: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.« Selbst die Bindung an die Verfassungstreue bezieht sich nur auf die Lehre, benennt für die Kunst jedoch keinen Gesetzesvorbehalt. Innerhalb der Verfassung ist diese Maxime hochrangig angesiedelt: Sie findet sich in Artikel 5, also ganz an der Spitze der grundgesetzlichen Konkretisierung von Menschenwürde und persönlicher Freiheit und zählt damit zu den am höchsten geschützten Grundrechten.

Dennoch ist auch dieses Versprechen Ergebnis sowohl einer historischen Negativ-Erfahrung als auch einer politischen Diskussion und Produkt gesellschaftspolitischer Normierung. So ist die Freiheit der Kunst nicht ihr originäres Merkmal, sondern schon bei ihrer Kodifizierung durch gesellschaftliche Setzung bedingt. Das Bundesverfassungsgericht hält die Kunstfreiheit für eines der wesentlichen Merkmale einer demokratischen Ordnung. Ob sie auch ein Wesensmerkmal ihrer selbst ist, ist damit jedoch nicht gesagt. Zudem schützt das Recht auf Freiheit die Kunst zwar vor staatlichen Eingriffen, nicht aber vor ihrer gesellschaftlichen Verortung und interdependenten Wirkung.

Kultur in der Politik

Die Freiheit der Kunst, so es sie denn im von ihr angestrebten umfassenden Sinn je gab, war schon immer dadurch begrenzt, dass sie politischen Zwecken zugeordnet war. Das Theater der Antike sollte bilden und Werte vermitteln, aber es sublimierte auch die politische Aktivität durch künstlerische Rahmung. Die Poeten des höfischen Mittelalters stilisierten eine adelige Kultur, von deren Höfen sie abhängig waren. Der Vormärz bezog viel von seinem Optimismus in den Gesängen von Heine, Büchner, Fallersleben und ihren Genossen aus den Anfangserfolgen der politisch Aktiven. Und in der jungen Bundesrepublik hatte die auswärtige Kulturpolitik (wenn auch nicht direkt die Kunst) weniger die Aufgabe, unterschiedliche Perspektiven zu fördern, wie es dann seit Willy Brandt Leitlinie für das Goethe-Institut war. Vielmehr folgte sie dem politischen Auftrag, das ramponierte Deutschlandbild im Ausland – im Rückgriff auf den Begriff der »Kulturnation« des 19. Jahrhundert – wieder ansehnlich zu machen. Auch die Praxis der Kulturförderung nimmt faktisch Einfluss auf die Kunstproduktion, deren materielle Basis sie bis zu einem gewissen Grad darstellt.

Die Liste politischer Implikationen von Kunst lässt sich beliebig verlängern, aber schon die wenigen Schlaglichter zeigen: Die Freiheit der Kunst bezog sich jeweils nur auf ihre ästhetischen Ausdrucksformen, auf den Schutz vor staatlichen Eingriffen und auf die Freiheit von externen Zweckvorgaben. Sie bedeutete keine Freiheit von gesellschaftlichen und politischen Funktionen. »Ars gratia artis« ist ein begehrter Traum – schön, aber illusionär. Erst wenn Kunst gesellschaftliche Wahrnehmung erreicht, wird sie kulturell bedeutsam.

Wenn wir heute über das Verhältnis von Kunst, Kultur, Ökologie und Nachhaltigkeit nachdenken, sollten wir diese historischen Pattern im Auge behalten, denn der eingangs genannte Antagonismus kehrt in der aktuellen Diskussion mit neuer Schärfe wieder.

Im Konflikt der Prioritäten

Der Blick auf die globale Bedrohung durch den Klimawandel und seine Folgen legt die Forderung nahe, ökologische Orientierung müsse in allen Lebensbereichen Vorrang haben, um die viel beschworene Wende in Produktion, Verkehr und eben auch allen anderen gesellschaftlichen Bereichen rasch und nachhaltig möglich zu machen. Künstler*innen, Kunst und Kultureinrichtungen werden dann aufgefordert, ihr Tun diesem Primat der Ökologie unterzuordnen. Auch wenn das nur wenige so apodiktisch formulieren, erfordert die eindeutige Priorisierung doch zwangsläufig eine Posteriorisierung der anderen Bereiche. Allerdings: Auch wenn niemand vernünftig leugnen kann, dass Ökologie heute zu den zentralen Herausforderungen jeder Gesellschaft gehört, ist die Funktionalisierung aller Handlungsfelder – und gerade auch der nach Freiheit strebenden Kunst – zu bloßen Transmissionsriemen nachhaltiger Transformation verfehlt.

Natürlich kann und soll auch Kunst ökologische Themen aufgreifen – in den Bedingungen ihrer Produktion und ihrer Institutionen ebenso wie in ihren Themen und deren ästhetischen Gestaltung. Aber die Forderung, sie müsse das in allen Bereichen tun, verkennt ihre Funktion ebenso wie die Bedingungen der eigenen Arbeit. Die Auswahl künstlerischer Materialien – vom Instrumentenbau über die Staffelei bis zur Bühnentechnik –, die Organisation kultureller Veranstaltungen, Auswahl und Darstellung der Themen und Formen – all das kann so wenig völlig losgelöst sein von gesellschaftlicher und damit auch ökologischer Verantwortung wie es nicht allein oder primär durch deren Vorgaben determiniert sein darf.

Ethische Bindung und Freiheit der Kunst

Gerade weil Kunst und Kultur nicht bedingungslos frei sind, sondern Funktionen von Gesellschaft, kann die Frage nach diesen Funktionen nicht in bloßer Instrumentalisierung enden. Die Wahrheit, der die Kunst verpflichtet ist, ist nicht der Vollzug von Forderungen, die Gruppen der Gesellschaft, und seien sie noch so relevant, für notwendig halten. Zugespitzt: Die Ästhetik steht nicht unter dem Diktat der Ethik. »Wir wissen«, wie Pablo Picasso einmal sagte, »dass Kunst nicht Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt.«

Dieser »Umweg« von Begreifen und Bewusstsein ist umso wichtiger, als es zwar keinen Weg in die Zukunft gibt ohne ökologische Entwicklung, ein Konsens über den richtigen Weg dahin jedoch in den gesellschaftlichen Antagonismen verhaftet bleibt. Je gewisser einzelne Gruppen glauben, den einzig richtigen Weg zu kennen, umso deutlicher zeigt das Abgleiten in unterschiedliche Rigorismen, dass die Gewissheit des richtigen Wegs eine Illusion ist – und eine gefährliche dazu, weil sie einem Monismus predigt, der leicht die Tür zum demokratiefeindlichen Fundamentalismus öffnet. Die Kunst mit ihrer Offenheit für Interpretationen und Alternativen, für Möglichkeiten also jenseits beschränkter Gewissheit, hat ihre zentrale Bedeutung im Wandel von Gesellschaft, Werten und Bewusstsein gerade deshalb, weil sie sich jeder Instrumentalisierung – auch der durch Ökologie – entziehen kann und soll. Ihre Nachhaltigkeit entspringt ihrer eigenen Wirkung, nicht der Übernahme von Vorgaben.

Die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Kunst und Natur, von gestalterischer Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung erfordert Antworten, die so divers sind wie die Kunst selbst und ihre Interpretation. Die Ungewissheit über den richtigen Weg, die damit verbunden ist, gehört zu den Kernelementen von Ästhetik, in der es um Wahrnehmung und Handlungen geht, nicht aber um die Kategorien von »richtig« und »falsch«. Mit dieser Qualität trägt Kunst auch zur Entwicklung einer Resilienz bei, die gerade in Zeiten von Krise und Umbruch von essentieller Bedeutung ist. Kunst ist grundsätzlich politisch, aber sie ist keine bloße Funktion von Politik, und sei diese noch so gut gemeint und essentiell. Kulturpolitik befasst sich mit den Rahmenbedingungen für künstlerische Tätigkeit und Wahrnehmung, ermöglicht die Reflexion über deren Bezugssysteme, aber sie exekutiert nicht einfach einen politischen Mainstream oder die Forderungen gesellschaftlicher Influencer*innen. Die »balanced scorecard« der Bindung von Kunst zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und der Freiheit von Ästhetik und Zweckrationalität auszutarieren sowie ihre Balance zu sichern ist eine der wichtigsten kulturpolitischen Aufgaben. Sie macht, wenn sie gelingt, die Gesellschaft sowie ihre Kunst und Kultur nachhaltig.

Autor

Dr. Dieter Rossmeissl, *1948, studierte Geschichte, Politische Wissenschaften und Germanistik an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen. Von 2000 bis 2017 leitete er als Berufsmäßiger Stadtrat (Dezernent) das Ressort Bildung, Kultur und Jugend in Erlangen. Daneben hatte er weitere Funktionen inne, etwa als Vorsitzender des Kulturausschusses des Bayerischen Städtetags, Mitglied im Kultur- und Schulausschuss des Deutschen Städtetags, Mitglied im Deutschen Bühnenverein und Geschäftsführer des Kulturforums der Metropolregion Nürnberg. Er ist seit 2015 Sprecher der Landesgruppe Bayern der Kulturpolitischen Gesellschaft.

»Queeres geht nur Queere etwas an«

28. März 2022

Ein queeres 1 Mal 1 für den Literaturbetrieb

Ich sitze am Schreibtisch, arbeite an Glitter und ärgere mich, dass sich schreibende Kolleg*innen nicht stärker kulturpolitisch engagieren. Ich ärgere mich, weil auch ich lieber an meinem Roman arbeiten würde und weil ich mich allein fühle im Kampf für mehr (queere) Vielfalt in der deutschsprachigen Literatur.

In manchen dieser Momente bin ich wohl vor allem neidisch. Neidisch, dass sich meine Kolleg*innen auf ihre Kunst konzentrieren und ihre Energie ganz in ihre eigenen Bücher stecken können

Aber: Warum schreibe ich »können«? 

Wer sagt denn, dass ich das nicht genauso tun kann? Ist es nicht meine Entscheidung, wie ich meine Prioritäten setze? Kann ich nicht ganz frei entscheiden, wie sehr ich mich aufs literarische Schreiben konzentrieren möchte und wie sehr auf Kulturpolitik?

Ich könnte sowohl mit Ja als auch Nein antworten. Die richtige Antwort dürfte folglich wohl in der Mitte liegen oder noch wahrscheinlicher: im Sowohl-als-auch. Natürlich kann ich meine Prioritäten frei setzen. Aber genauso natürlich gibt es neben meiner Sozialisierung auch Strukturen, die mich (in meiner Wahlfreiheit) einschränken: 

Heterosexuelle cis Lektor*innen und Journalist*innen glauben sich mit queeren Texten nicht identifizieren zu können: Wenn queer, dann vielleicht wenigstens bisexuell? Natürlich werde ich mit einem queeren Roman nicht in ländliche Gegenden eingeladen, wenn dort nicht gerade eine queere Person federführend organisiert. Natürlich sagt die Buchhändlerin der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, einem Bekannten vor wenigen Tagen beim Kauf meines Buchs Opoe ins Gesicht: »Dieses Gender-Thema interessiert mich nicht. Und ich sage Ihnen eines: Ich habe gegen die Ehe für Alle gestimmt.« Und natürlich wurde ich von Eltern, der Schule, Jugendorganisationen und dem öffentlichen Diskurs erzogen, meine Queerness nicht an die große Glocke zu hängen.

Lauter Einzelbeispiele. Subjektive Erfahrungen. 

Viel lieber würde ich denn auch schlagkräftige Statistiken oder Forschungsergebnisse anführen. Aber selbst da wirkt die strukturelle Diskriminierung von Queerness: 

Natürlich scheint kein Mensch im Literaturbetrieb auf die Idee zu kommen oder sich dafür zuständig zu fühlen, in kulturpolitischen Untersuchungen – noch nicht mal in Studien zu Geschlechtergerechtigkeit – auch Autor*innen, Figuren und Narrative außerhalb eines binär-heteronormativen Schemas zu berücksichtigen. Rundherum scheint zu gelten: Queeres geht nur Queere etwas an.

 »Queer« kann als Sammelbegriff für die Identitäten aller LGBTIQ+-Personen verwendet werden. Noch viel mehr beschreibt queer aber den Akt, Strukturen und Normen zu reflektieren und hinterfragen. In der schriftstellerischen Arbeit. Im privaten (das Private ist politisch!) Tun. Und im folgenden Versuch eines Queering des literaturpolitischen Diskurs:

Beginnen wir beim Begriff »natürlich«.

Natürlich ist es nicht natürlich, dass queere Menschen und Themen ausgeschlossen werden. Nicht nur aus moralischen Gründen sollte es grundsätzlich nie natürlich sein, Menschen aufgrund von tatsächlicher oder fiktionaler Gruppenzugehörigkeit auszuschließen. Menschen sind Rudeltiere, soziale Wesen, veranlagt zu Solidarität und Gemeinschaft. Menschen wollen Teil sein, geliebt werden und dazugehören.

Sagen aufgeschlossene cis-heterosexuelle Menschen »natürlich«, meinen sie in der Regel auch eher »normal«. So normal, wie es sein sollte, dass ich als queere*r Schriftsteller_in künstlerische Entscheidungen eigenständig nach meinem inneren Kompass fällen kann, so sehr ist es unserer Gesellschaft über Jahrhunderte zur Norm geworden, queere Menschen daran zu hindern, sich und ihre Narrative zu entfalten. 

An dieser Stelle ein kleiner realpolitischer Exkurs, der hier genau so queer zur Norm stehen soll, wie die einzelnen Gesetze im allgemeinen Bewusstsein stehen dürften:

Der Paragraph 175, der homo- und bisexuelle Männer in nationalsozialistischer Tradition für »widernatürliche Unzucht« kriminalisierte, wurde in Deutschland erst 1994 und in Österreich sogar erst 2002 abgeschafft. Das bevormundende sogenannte Transsexuellen-Gesetz ist in Deutschland noch immer in Kraft. Und in der Schweiz wurde die Geschlechtsidentität erst letztes Jahr absichtlich aus dem neuen Antidiskriminierungsgesetz gestrichen.

Um Normen zu hinterfragen, müssen sie zuerst erkannt und benannt werden.  Zum Beispiel die konservativen Einstellungen, die das Wesen des Literaturbetriebs bestimmen:

Der Literaturbetrieb ist eine der letzten gerade noch wirksamen gesellschaftlichen Institutionen, die über Jahrhunderte gewachsen ist. Nicht wenige Verlage blicken auf eine mehr als 150 Jahre alte Tradition zurück. Und das Buch als Medium presst (Sprach-)Kunst in eine stark reglementierte Form, die sich Zeit ihres Bestehen kaum verändert hat: Entsprechend hinkt heute im Literaturbetrieb progressives Denken in aller Regel selbsterhaltenden Maßnahmen hinterher. 

Selbst Publikumsverlage müssen zunächst an ihre finanzielle Existenz denken und wagen der bedrohlichen Zukunft entsprechend nur ein Minimum an Risiko

Genauso sind Feuilletonist*innen, Buchhändler*innen und Autor*innen ganz damit beschäftigt, für den Erhalt ihres Wirkungsbereiches zu kämpfen. Die Zeit zum Schreiben, den Erhalt der Buchläden, die Finanzierung des Kulturressorts. Hier bleibt wenig Raum für Wagnisse, selbst für Wagnisse, die nicht größer sind, als über den eigenen binären, heteronormativen Tellerrand hinaus zu blicken. 

Die meisten Leute, die ich im Literaturbetrieb kennen gelernt habe, meinen es im Grunde gut. Sie wollen aufgeschlossen sein und sind es oft auch stärker, als es ihnen der Betrieb in der Umsetzung erlaubt. Bei Queerness endet allerdings bei den Meisten die Fantasie – um absolut aus dem Zusammenhang gerissen und nur sinngemäß Christian Lindner zu zitieren. Es fehlt an grundlegenstem Wissen:

  1. »Queer« ist eine politische Selbstbezeichnung. Die LGBTIQ+-Community hat sich die einst abwertend gemeinte Fremdzuschreibung in einem Akt der Selbstermächtigung angeeignet.
  1. »Queer« kann als Sammelbegriff alle LGBTIQ+-Identitäten beschreiben oder aber die gesellschaftspolitische Haltung beziehungsweise den politischen Akt, aus einer marginalisierten Position heraus binäre Heteronormen infrage zu stellen, mit ihnen zu spielen oder sie über den Haufen zu werfen – insbesondere, was gesellschaftliche Reglementierung von Liebe, Sexualität, Beziehungen und Geschlechtsidentität angeht.
  1. Spreche ich von »queerer Literatur« ist insbesondere Letzteres gemeint. Und damit sind wir bei der Ursachen allen Übels angelangt: Bei der vorherrschenden Vorstellung, Queeres gehe nur Queere etwas an. 

Wird die Queerness eines Buches oder einer Autor*innenstimme ignoriert, wie es letzten Herbst wieder in geschätzt neun von zehn Besprechungen von »Blaue Frau«, mit dem Antje Rávik Strubel den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, getan wurde, wird eine zentrale sozialpolitische Dimension des Werkes ausradiert.

»Blaue Frau« ist nicht nur ein Buch über die »feine Linie zwischen Ost und West« (Die ZEIT). »Blaue Frau«, wie Strubels gesamtes Werk, ist auch wesentlich davon geprägt, dass es gegen großen Widerstand angeschrieben wurde: gegen oder trotz des Patriarchats und der ihm immanenten Queerfeindlichkeit. 

Gegen die Ignoranz der Dominanzgesellschaft Queerness und uns queeren Menschen gegenüber. 

Glücklicherweise hat sich Antje Rávik Strubel als eine der wenigen öffentlich queeren deutschsprachigen Autor*innen von dieser Gleichgültigkeit nie abschließend einschüchtern lassen. Im Gegenteil: Sie hat sich jahrzehntelang immer wieder Raum erkämpft – auch wenn dieser weder von der Gesellschaft und erst recht nicht vom Literaturbetrieb für sie als queere Frau, ihren queeren Blick und ihre erzählten queeren Lebensrealitäten so vorgesehen war. Und falls doch, dann höchstens in der Nische und dem bekannten LGBT-Regal hinten in der Schmuddelecke des Buchladens neben den Erotika oder den Psychische Gesundheits-Themen. 

Sie hat gekämpft. Sich mit der Hilfe von wenigen Verbündeten immer wieder selber ermächtigt. Und schon vor 20 Jahren gemacht, was Michelle Obama heute in der Netflix-Dokumentation »Becoming« marginalisierten Jugendliche rät: »[…] share our stories, our real stories, that’s what breaks down barriers. But in order to do that you have to believe it has value

Dass heterosexuelle cis Männer Bücher schreiben ist selbstverständlich. Sie sind vom Wert ihrer Geschichte überzeugt und kriegen das täglich so bestätigt: Ob sie stehend oder sitzend pinkeln entscheidet über das Glück dieser Welt. Ob sie sich durch einen Gender-Stern im Lesefluss gestört fühlen oder es anstrengend finden, Menschen nach ihren bevorzugten Pronomen zu fragen, erst recht.

Dass wir queeren Menschen schreiben und uns von all den Widerständen – insbesondere der vorherrschenden Gleichgültigkeit – nicht abschrecken lassen, ist es nicht. 

Dabei geht es aber längst nicht nur um (Selbst)ermächtigung von uns Queers. 

Die Annahme »Queeres gehe nur Queere etwas an« stimmt auch schlicht und einfach nicht. Wir alle leben im Patriarchat und werden von Normen bestimmt, die unserem persönlichen Glück im Weg stehen und uns als Gesellschaft auseinanderdividieren statt aufeinander zu zuführen. Das aber ist eine der herausragendsten gesellschaftspolitischen Stärken von Literatur: Sie vermag es erwiesenermaßen, Empathie zu fördern für Perspektiven, die mensch aus dem eigenen Leben nicht kennt. Sich in die Situation des Gegenüber versetzen zu können ist die Grundlage jeglicher Verständigung. Queere Literatur verhandelt alternative Geschlechter- und Beziehungsnormen – das geht uns alle etwas an. Und es gibt noch ein Zückerchen oben drauf: Wir Queers wissen aus Erfahrung zu berichten, dass sich von Normen zu lösen und immer wieder Platz für das Leben zu schaffen, das zu einem passt, sich befreiend und ausgesprochen lustvoll anfühlt.

Würde der deutschsprachige Literaturbetrieb in Zukunft vermehrt mit diesem Wissen an queere Konzepte, Manuskripte und Bücher herantreten, würde sich nicht nur uns queeren Autor*innen endlich mehr Spielraum für Selbstermächtigung und Zeit zum literarischen Schreiben (statt kulturpolitischem Rechtfertigen unserer Existenz) eröffnen. Die deutschsprachige Literatur würde – davon bin ich überzeugt – auch wesentlich bereichert: Um weitere Dimensionen von Historizität, von Verbindungen, gesellschaftlicher Relevanz und vor allem um tiefgreifende, leidenschaftliche, ungehörte Geschichten.

Autor

Donat Blum, 1986 geboren, hat am Schweizerischen und Deutschen Literaturinstitut sowie an der Universität Bern studiert. Sein Debüt-Roman «OPOE» ist 2018 bei Ullstein und 2021 als Hörbuch bei Bookstream erschienen. Er ist mit verschiedenen Stipendien und Werkbeiträgen ausgezeichnet worden, ist Gründer und Herausgeber von Glitter – die Gala der Literaturzeitschriften, Initiator und Veranstalter der Reihe »Skriptor« und Organisator der Werkstattgespräche »Teppich«. 2020 hat er das online Literaturfestival VIRAL gegründet und kuratiert.

Im Zweifel für die Quote

21. März 2022

Im Februar 2021 wurde ein von den Regierungsparteien CDU/CSU und SPD gestellter Antrag mit dem Titel »Geschlechtergerechtigkeit in Kultur und Medien verwirklichen« angenommen. Darin fordert der Bundestag die Bundesregierung auf, mehr Maßnahmen zu ergreifen, um Geschlechtergerechtigkeit im Kulturbetrieb zu erreichen – unter anderem ist die Rede von kontinuierlichen, geschlechterspezifischen Datenerhebungen bei öffentlich geförderten Stipendien und Preisen, zusätzlichen Angeboten von Kinderbetreuung für Künstler*innen und anonymisierten Bewerbungs- und Auswahlverfahren.

Es ist nichts Neues, dass in den Sparten Theater, den Darstellenden Künsten, Orchestern, im Film oder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Frauen in leitenden Funktionen unterrepräsentiert und unterbezahlt sind: Konkrete Zahlen dazu wurden bereits 2016 in der Veröffentlichung »Frauen in Kultur und Medien« – gefördert aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) – dargelegt.

In den vergangenen vier Jahren hat sich nicht viel getan – auch in Bereichen der Kulturlandschaft, die nicht als klassisch förderungswert gesehen werden und deutlich weniger Aufmerksamkeit vom BKM bekommen, wie zum Beispiel in der (Pop-)Musikwirtschaft. Die im September 2021 veröffentlichte Studie der europäischen Initiative für Geschlechtergerechtigkeit in der Musikbranche Keychange, in Kooperation mit dem Hamburger Reeperbahn Festival und gefördert vom BKM, zeichnet ein eindeutiges Bild über den Status Quo: Der Gender Pay Gap liegt bei 25%, circa die Hälfte aller befragten Frauen identifizierten als größte Zugangs-Barrieren innerhalb der Branche bestehende Vetternwirtschaft zwischen Männern und Stereotype gegenüber Frauen. Etwa jede zweite Frau befürwortet eine Quote bei Führungskräften oder bei Line-Ups von Musikfestivals.

Im Zweifel für die Frauenquote

An dieser Stelle taucht zum ersten Mal ein Wort auf, das in den letzten Monaten und Jahren in vielen gesellschaftlichen Diskussionen die Gemüter erhitzt hat: Quote. Oder mehr noch: Frauen-Quote. Seit 2016 gibt es für börsennotierte Unternehmen in Deutschland die gesetzlich verpflichtende Vorgabe, dass in Vorstand oder Aufsichtsrat mindestens 30% der Posten weiblich besetzt sein müssen – bei Neubesetzungen müssen so lange Frauen eingestellt werden, bis die Marke von 30% erreicht ist oder der Platz bleibt frei. Dieses Gesetz gilt in Deutschland etwa für 100 Unternehmen, der Rest der Gesellschaft kann sich selbst freiwillige Vorgaben setzen.

Für den Kulturbetrieb gibt es nichts Vergleichbares. Die Grünen forderten als Antwort auf oben erwähnten Beschluss des Bundestags im Februar 2021 aber genau das: »[…] eine Quote, um Parität bei Leitungspositionen, Intendanzen, Stipendien und Werksaufträgen, in Jurys, Förderprogrammen sowie Projekten und Veranstaltungen von öffentlich finanzierten Institutionen zu erreichen.«

Wir wissen mittlerweile, dass Quoten wirken: Der Frauenanteil in Aufsichtsräten von DAX-Unternehmen stieg in den ersten 4 Jahren von 27% auf 36%. Ist es also an der Zeit für Quoten im Kulturbetrieb? Brauchen wir ebenjene, um die Zugänge in den verschiedenen Bereichen des Kulturbetriebs einigermaßen zugänglich und egalitär zu gestalten? Insbesondere wenn wir von Institutionen oder Projekten sprechen, die von öffentlichen Geldern gefördert werden? 

Die letzten Jahre haben gezeigt, dass offensichtlich mehr Maßnahmen von Nöten sind, wenn wir mehr Chancengleichheit im Kulturbetrieb durchsetzen wollen. Dabei finde ich Quoten gerade bei öffentlich geförderten Institutionen, Förderprogrammen und Veranstaltungen absolut sinnvoll. Die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands ist weiblich wird aber im Vergleich zur anderen Hälfte der Gesellschaft im Kulturbetrieb unverhältnismäßig stark benachteiligt. Wenn Kultur aber aus Steuergeldern finanziert wird, die von der gesamten Gesellschaft getragen werden, sollten dann nicht auch alle Bevölkerungsgruppen den gleichen Zugang zu Kunst, Kultur und Medien haben? Es ist nicht zu rechtfertigen, dass wir zwar alle zahlen, aber oftmals nur ein kleiner Teil profitiert, der gesamtgesellschaftlich ohnehin schon privilegiert ist: Männer. 

Im Zweifel für diverse Quoten

Mehr noch – weiße Männer. Hier möchte ich die Diskussion um eine Komponente erweitern, denn bisher haben wir vor allem über Frauen gesprochen. Das ist der Tatsache geschuldet, dass sich Diskussionen im Kulturbetrieb über Chancengleichheit und Diversität meist auf Geschlechtergerechtigkeit beschränken. Andere Bevölkerungsgruppen, die eine Marginalisierung erfahren, werden oftmals nicht mitgedacht, weswegen bisher kaum zu anderen Gruppen, die im Kulturbetrieb Diskriminierung erfahren, Daten gesammelt oder Studien durchgeführt wurden. 

Das betrifft insbesondere Menschen mit sogenanntem »Migrationshintergrund«. Der deutsche Kulturrat veröffentlichte 2020 zwar eine Studie zu Diversität an staatlich geförderten Kulturinstitutionen, diese erwies sich aber als methodisch fragwürdig und damit wenig aussagekräftig. Und gerade bei der Erhebung des Migrationshintergrundes wurden sozioökonomische Faktoren und ethnische Herkunft nicht berücksichtigt: Es ist ein großer Unterschied, ob man in einer Philharmonie der britische Dirigent ist oder der senegaleischer Geflüchtete, der in der Kantine arbeitet – in der Studie wurden aber beide Positionen in derselben Kategorie erfasst.

Das ist ein Problem, denn so wird verschleiert, dass Menschen mit bestimmten Migrationsgeschichten und äußeren Merkmalen im Kulturbetrieb strukturell benachteiligt und unterrepräsentiert sind. Wir brauchen in Zukunft also weitere Datenerhebungen. 21,4 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund – gut ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland – finanzieren potenziell mit ihren Steuergeldern öffentlich geförderte Kulturinstitutionen, von denen die meisten nicht profitieren, weil sie weder als Zuschauer*innen noch als Mitarbeiter*innen oder gar Künstler*innen angesprochen werden. 

Im Zweifel für die Qualität

Auch ohne weitere Datenerhebungen kann sich jede*r persönlich ein Bild davon machen, wie es in den meisten Kulturinstitutionen aussieht: Sehr weiß, sehr männlich und wenig divers. Das schlägt sich im Programm der jeweiligen Institutionen wieder und damit auch im Publikum, dass adressiert wird. Als Schwarzer Mann habe ich selten den Eindruck, dass deutsche Theater, Orchester oder Opern Programm für mich machen – geschweige denn, dass ich mich in den meist elitären, weißen Räumen wohl und sicher genug fühlen würde, um eine Operette über mich ergehen zu lassen. Der Historiker in mir schlägt bei vielen Ausstellungen deutscher Museen die Hände über dem Kopf zusammen aufgrund der Eindimensionalität der ausgestellten Perspektiven. Fehlende Diversität macht sich in vielerlei Hinsicht bemerkbar und lässt die Qualität des Angebots sinken.

Gerade wenn wir junge Menschen mit Kultur ansprechen wollen, müssen wir dafür sorgen, dass diese junge Menschen Vorbilder haben, die so aussehen wie sie selbst, die sprechen wie sie selbst und mit denen sie sich identifizieren können. Das wird auf absehbare Zeit nicht ohne staatliche Intervention passieren. Quoten sorgen also auch dafür, dass die Zukunft unsere Kulturlandschaft gesichert wird, denn es gibt keine Alternative: Die deutsche Gesellschaft wird immer diverser, also wird das potenzielle Publikum immer diverser – und wenn wir die nachfolgenden Generationen nicht mitdenken, ansprechen, einbeziehen, bleiben die Besucher*innen irgendwann konsequenterweise weg und widmen sich den kulturellen Angeboten, die sich für ihre Vielfältigkeit öffnen. Dieser Herausforderung gerecht zu werden liegt auch im Interesse aller zukünftigen Regierungen – in jedem Fall in den öffentlich geförderten Stätten, die auch einen kulturellen Bildungsauftrag des deutschen Staats umsetzen sollen.

Quoten werden uns in Zukunft weiterhin verfolgen, ob gesamtgesellschaftlich oder im Kulturbetrieb. Im Text wurden bisher nur zwei marginalisierte Bevölkerungsgruppen angesprochen – die Liste ließe sich aber natürlich noch erweitern (z.B. um Menschen mit Behinderung oder queere Menschen) und die Fragen nach Quoten blieben die Gleichen. 

Ich plädiere außerdem dafür Quoten als Chance zu sehen: Es geht nicht darum jemand zu bevorteilen oder Anderen etwas weg zu nehmen. Quoten stellen die Möglichkeit dar, die ungerechte und ungleiche Verteilung von gesellschaftlichen Chancen, Ressourcen und Zugängen auszugleichen – damit niemand mehr am Anfang seines*ihres Lebens mit einem Vorsprung startet. Dem deutschen Staat böten Quoten außerdem die Chancen, im Kulturbetrieb seiner Verantwortung gerecht zu werden und eine Vorbildfunktion dahingehend einzunehmen. Zuletzt böten Quoten für uns als Gesellschaft die Chance gemeinsam eine gleichberechtigtere Zukunft zu gestalten, in der alle Menschen gleichermaßen am Kulturbetrieb teilhaben. Denn entspräche so ein Austausch nicht genau dem, was Kultur ausmacht?

Autor

Foto: Gökçe Berndt

Demba Sanoh ist einer der drei Gründer von Misc, der Agentur für kulturellen Wandel. Er ist Historiker und publiziert als freier Autor vorrangig zu seinen Themenschwerpunkten Rassismus und Kolonialismus – über die er auch als Keynote Speaker und Experte auf Podiumsdiskussionen spricht. Außerdem hat er langjährige Erfahrung im Kulturbetrieb und arbeitet als Tourmanager, Produktionsleiter und Künstler*innenbetreuer für verschiedene Bands und Festivals im deutschsprachigen Raum. In seiner Funktion als Mitgründer von Misc verbindet er seinen Expertisen beiden und schult Unternehmen und Institutionen in der Kultur- und Musikbranche zu Themen wie Diversität und Diskriminierungssensibilität.

Transition: Etablierung einer nachhaltigen Transformationskultur durch Kollaboration

14. März 2022

Die Krisen der Gegenwart haben die strukturellen und inhaltlichen Defizite des Kultursektors bei der Bearbeitung der großen Transformationsbewegungen schonungslos offengelegt. Es wird immer spürbarer, dass Kulturinstitutionen zwar über ein enormes gesellschaftliches Innovationspotenzial verfügen, dieses aber kaum genutzt wird, da sich ihre Strukturen als erstaunlich wenig anpassungsfähig an komplexe gesellschaftliche Veränderungen erweisen. Kultureinrichtungen scheinen häufig willens, aber schlicht nicht fähig, in angemessener Form und Geschwindigkeit auf Herausforderungen zu reagieren, geschweige denn selbst zu Treiberinnen für Innovationen zu werden, um zukunftsfähig wie anschlussfähig zu bleiben.

Mit Blick auf den Diskurs der #neueRelevanz müssen wir uns als Kulturbetriebe fragen lassen, warum Künstler*innen durch die Mittel der künstlerischen Praxis permanent laborhaft agieren und die Suche nach Neuem ihr Handeln bestimmt, wohingegen der kulturelle Überbau – die Verwaltung und Ermöglichung der kreativen Arbeit – in Strukturen beharrt und nicht in der Lage ist, diese wertvolle Ressource für sich zu nutzen.

Die mutige und entschlossene Erneuerung interner Strukturen hin zu kollaborativen und ko-produzierenden Organisations- und Arbeitsformen ist aus unserer Sicht die notwendige Voraussetzung, Potenziale auf allen Seiten zu aktivieren und einen relevanten gesellschaftlichen Beitrag zu einer ernst gemeinten Kultur der Nachhaltigkeit und einem starken öffentlichen Gemeinwesen zu leisten.

Insbesondere eine kommunale Kulturverwaltung wie das Kulturforum Witten AöR verfügt in der Fläche über ein besonderes Potenzial: Sie ist Trägerin von öffentlichen Kultureinrichtungen wie dem Märkischen Museum, dem Stadtarchiv, der Bibliothek und der Musikschule, zugleich Organisatorin von multiplen Schnittstellenposition zwischen Kulturschaffenden, regionalen Institutionen und stadtgesellschaftlichen und -politischen Akteur*innen – gebündelt in der Funktion eines Kulturbüros – und Betreiberin der vielfältig bespielten Veranstaltungsstätten Saalbau und Haus Witten, die zunehmend für bürgerschaftliche Initiativen und lokale Künstler*innen geöffnet werden. An vielen Stellen gleichzeitig können hier Ökosysteme vitalisiert werden, die gesellschaftliche Innovation hervorbringen und damit flächendeckend einen Beitrag in Sachen Nachhaltigkeit, Digitalität und Diversität leisten.

An dieser Stelle möchten wir eine Zwischenbilanz insbesondere der Arbeitsfelder Nachhaltigkeit und Digitalität, der »Twin Transition«[1], die seit gut einem Jahr innerhalb unseres Betriebs als Querschnittsaufgaben bearbeitet werden, ziehen. Welchen Beitrag zum allgemeinen Diskurs der Relevanz von Kultureinrichtungen können wir anbieten?

Das »Wittener Modell«: Über Möglichkeitsräume gemeinsam Zukunftsfähigkeit (er)lernen

In Witten erproben wir seit 2019 wie Kollaboration als Organisationsform uns dabei helfen kann, innovationsfördernde Strukturen zu etablieren. Angelehnt an Mark Terkessidis’ Verständnis verstehen wir Kollaboration als eine breite Anschlussfähigkeit hinsichtlich einer sich permanent ändernden Umwelt.[2] Diese Anschlussfähigkeit gilt es als eigenständige Routine zu internalisieren. Als Handlungslogik ermöglicht Kollaboration neue Akteurskonstellationen und die Erschließung neuer Wissensbestände. Im Gegensatz zur Kooperation, die weiterhin auf Basis bestehender Routinen und Rollen funktioniert, können so völlig neue Handlungskontexte und Produktionslogiken entstehen. Sie befähigen uns, mit Blick auf Pluralität und Komplexität der VUKA-Welt[3] agil und responsiv gesellschaftliche Herausforderungen und Problemlagen zu adressieren und als transformative Kraft aktiv eine gemeinwohlorientierte Gesellschaft mitzugestalten.

Zukunftsfähigkeit evoziert den Gedanken »von vorne« zu denken. Weg von bestehenden Systemlogiken und Pfadabhängigkeiten hin zu Potenzialen und Möglichkeitsräumen. Die Kulturwissenschaftlerin und Nachhaltigkeitsforscherin Hildegard Kurt bezeichnet das als die Fähigkeit »von vorne auf das Jetzt zu blicken« und damit wieder zu lernen, die Zukunft zu gestalten.[4] Dies erfordert allerdings einen »system reset« und wir als Kulturorganisationen müssen uns fragen, wie wir mit Blick auf die beschriebenen Herausforderungen unser System Kultur von der Zukunft her im Jetzt gestalten wollen und welchen aktiven Beitrag wir für die Gesellschaft leisten. Gerade weil Kultur ihre Kraft insbesondere vor Ort entfaltet, wird die große Frage insbesondere kommunal geprägter Strukturen sein, wie wir die Kulturakteur*innen in der Fläche befähigen von der Zukunft her zu denken und sowohl ihre Arbeit als auch ihre Organisationen dahingehend auszurichten.

Veränderung im organisationalen Handeln am Beispiel des Kultursommers

Kollaborative Arbeitskontexte ermöglichen dabei den Mitarbeiter*innen im Betrieb projektbasiert abseits der bestehenden Routinen, Hierarchien und Pfadabhängigkeiten ihre Expertisen und Leidenschaften in offenen Denkprozessen einzubringen und so neue Herangehensweisen und Denkmuster zu erproben. Diese experimentellen Suchbewegungen im Sinne eines Open-Innovation-Ansatzes erlauben Innovation im Kleinen. Entscheidende Gelingensbedingung ist hierbei die Etablierung ambidextrischer Beibootstrukturen[5]. Konkrete Erfahrungen konnten wir im Frühjahr und Sommer 2021 sammeln. Mithilfe einer szenografischen Intervention auf dem Saalbau-Vorplatz (»Saalbau_Neubau«) haben wir einen Ort geschaffen, der so vieles gleichzeitig sein konnte: Verweilort, Multifunktionsspielfläche und Plattform für Bürger*innen, die als Mitdenkende, Experimentierende und Beratende ernst genommen wurden. Der Saalbau wurde so mit beschränkten Mitteln temporär zu einem Gemeinschaftsort – ganz im Sinne der »urban commons« – der nun die langfristige und nachhaltige Transformation des Ortes erst möglich machte.

Im Verlauf des Kultursommers entstanden Pop-up-Ausstellungen in offenen Containern mit Schulklassen, Präsentationen des Stadtarchivs und des Kulturbüros bis hin zu Workshops mit Kindern und Jugendlichen, Urbane Produktionen, theaterpädaogische Formate und Tangotanz. In nur vier Wochen wurde mit dem Kultursommer Witten von und mit rund 150 Akteur*innen ein Open-Air-Festival geplant und umgesetzt, dass Bewohner*innen eine analoge Form der Teilhabe ermöglichte und gleichzeitig Künstler*innen endlich die Möglichkeit gab, ihre Leidenschaft wieder analog zu präsentieren.

Im Sommer 2021 konnten wir (endlich) Geschwindigkeit aufnehmen und zugleich der Selbstbehauptung Taten folgen lassen. Diese nun für alle sichtbaren Ergebnisse – im Sinne eines Prototypings – sind für uns das entscheidende Argument, die Kultur (und mit ihr das künstlerische Denken, die künstlerische Methode) als wichtige Nachhaltigkeitsdimension ernst zu nehmen. Als konkrete Maßnahme, die aus dem Team heraus entwickelt wurde, diente das Labor »Kultursommer« und die damit verbundene Öffnung, den Vorplatz als Ort inklusiver zu denken – nicht zuletzt unter dem Aspekt der sozialen Nachhaltigkeit – und half dabei, uns vom konkreten Beispiel aus von außen nach »innen« vorzuarbeiten.

Möglichkeitsraum 1: Digitallabor als Ort der Verhandlung von Digitalität

Möglich geworden durch eine beträchtliche Anschubfinanzierung zweier Förderungen (Beisheim Stiftung[6] und Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen) entstand im Herbst 2021 im Innern des Saalbaus ein Digitallabor mit integriertem Content-Studio. Die zunächst dringend benötigten technischen Anschaffungen wurden von vornherein nach nachhaltigen Kriterien modular geplant und beschafft und stehen künftig zur selbständigen Nutzung und möglichst betreuungsarm den Mitarbeitenden ebenso wie Ko-Produzierenden (der Stadtgesellschaft, der freien Szene etc.) zur Verfügung. Flankiert wird die Einrichtung von einem umfangreichen Capacity Building für alle Beteiligten, gesteuert und moderiert durch die Personalstelle für Digitale Transformation.

Das Digitallabor ist konkreter Ort des Lernens und Produzierens sowie zugleich Möglichkeitsraum – konzipiert als modular nutzbares Studio für Kulturakteur*innen in Zeiten der Digitalität. Ob für Kunst-Podcasts, den nächsten Livestream bei Twitch oder ein VR-Projekt im Stadtraum: mit Methoden der Kollaboration und Ko-Produktion entsteht hier erste neue Formatierungen für die Region und ihre Communities.

Unsere Mission trägt: Derzeit planen und entwickeln wir, möglich geworden durch das Förderprojekt »dive in« der Kulturstiftung des Bundes, unsere erste Spielzeit der zukünftigen Digitalen Sparte des Saalbaus. »Der Raum zwischen 0 und 1« lautet ihr Arbeitstitel und er ist sprechend: Kleinere und größere Hybridformate, die die Möglichkeiten und Visionen des Digitalen mit dem Potenzial des analogen Ortes unter künstlerischen Vorzeiten zusammenbringen, werden Wirklichkeit. Die Anpassungsfähigkeit an ihr Publikum und die permanente Wandlungsfähigkeit ist ihnen durch die Wahl der künstlerischen Mittel, den digitalen Medien, immanent.

Relevante Indikatoren für die Wirksamkeitsmessung des Digitallabors:

  • Investive Förderungen WLAN-Infrastruktur und digitale Ertüchtigung / Inklusion
  • Initiale Projektförderungen für stationäres und mobiles technisches Equipment Digitallabor und digitale Programmierung
  • Ergänzende Projektförderung für einführendes Capacity Building (10 Workshops für ca. 50 feste und freie Mitarbeitende) als Prototyp für ein fortlaufendes Learning & Development Programm
  • nachhaltige Qualifizierung von technischem Personal sowie Einrichtung und Besetzung einer neuen Ausbildungsstelle IT Systemadministrator (gemeinsam mit Stadt Witten)
  • Prototyping von 4 hybriden Formaten mit dem Ziel der Realisierung von insgesamt 32 einzelnen Veranstaltungen und Entwicklung von ca. 10 ko-produzierten Projekten
  • Inbetriebnahme eines »Studio to go« zur Nutzung durch die einzelnen Institute für Zwecke der kulturellen/digitalen Bildung
  • Betriebskonzept für die interne Nutzung und perspektivisch Öffnung für kollaborative Projekte und (teil-)kommerzielle Nutzung in Ergänzung zum Vermietgeschäft.

Möglichkeitsraum 2: Saalbau als Ort der sozial-ökologischen Transformation

Die sozial-ökologische Nachhaltigkeit braucht hingegen ein anderes Narrativ als die allgegenwärtige Projektlogik, die auch vor der digitalen Programmatik nicht Halt macht. Hier muss es gleichermaßen um eine strukturelle Verankerungung von Wissen und Prozessen in allen Instituten des Kulturforums gehen. Das Ziel muss sein, nachhaltiges Handeln in allen Instituten zum »neuen Normal« werden zu lassen und unsere internen wie externen Innovationspotenziale zu aktivieren.

Der beschriebene kollaborative Ansatz erlaubt genau das – den Aufbau resilienter Strukturen, die stabil, aber nicht statisch sind und es so allen Mitarbeiter*innen erlauben in ihrem eigenen Entscheidungsspielraum ökologisch nachhaltig zu agieren. Ganz im Sinne der Transformation muss die Umstellung auf einen ökologischen Betrieb als fundamentaler und vor allem dauerhafter Wandel verstanden werden und nicht als ein Projekt, dass für die nächsten ein bis fünf Jahre auf der Agenda steht und dann wieder verschwindet.

Rekurrierend auf das bereits erlernte Handlungswissen durch die digitale Transformation, die sich schon jetzt von Experiment und Protoyping in eine Phase der Verstetigung verschiebt, gehen wir auch die Querschnittsaufgabe Nachhaltigkeit kollaborativ an und wollen methodisch von den Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre profitieren.

Für die Umsetzung eines solchen Vorhabens braucht es einen gleichzeitig strukturierten sowie iterativen Prozess, der die gegebenen finanziellen und personellen Ressourcen berücksichtigt und gesamtheitlich rahmt.

Innerhalb dieses fortlaufenden strategischen Prozesses haben wir uns daher mit Blick auf eine breite Anschlussfähigkeit schon frühzeitig dazu entschieden, das Kulturforum nach der »obersten« Rahmung der Sustainable Development Goals (SDGs) der UN Charta 2030 auszurichten. Die Nachhaltigkeitsziele »hochwertige Bildung« (UN SDG 4), »nachhaltige Städte und Gemeinden« (UN SDG 11) und »Maßnahmen zum Klimaschutz« (UN DSG 13) bieten aus unserer Sicht den nötigen Freiraum und sind gleichzeitig konkret genug, als dass jede*r Mitarbeiter*in sie in das eigene Tun integrieren kann. Mit den Mitteln des Capacity Buildings wollen wir diese Transformation im ganzen Betrieb verankern und umsetzen.

Entscheidend für diese Umstrukturierung ist die Erhebung und das Verständnis von Daten, die im ersten Schritt den Status des Kulturforums in Bezug auf z.B. den Ausstoß von CO2 ermitteln. Diesen Weg sind wir schon im letzten Jahr gegangen und nehmen an dem Pilotprojekt des Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit teil, in dem die Klimabilanzierung speziell für Kulturbetriebe erprobt wird[7]. Es geht sowohl um die Umsetzung von kleinen Maßnahmen, wie der Einführung einer Gelben Tonne zur sachgerechten Mülltrennung, als auch den Wunsch einer energetischen Sanierung aller Gebäude des Kulturforums.

Einmal angeregt entstehen weitere Visionen, die die ökologische mit der kulturellen Perspektive der Nachhaltigkeit verschränken: Vom klimaresilienten Beet zum Stadtwald mit Aufenthaltsqualität, von der einzelnen Künstler*innen-Residenz zu der Skizzierung eines nachhaltigen Ökodorfs aus Tiny Häusern.

Relevante Projekte in Bezug auf die sozial-ökologische Nachhaltigkeit:

  • naturnahe Gestaltung der Beete auf dem Vorplatz vom Saalbau
  • Umgestaltung des Foyers im Saalbau mit deutlich mehr Pflanzen (Raumklima) und Erschließung neuer Räume als Club mit bereits vorhandenen Materialien
  • Neueinrichtung/Ausstattung von Räumen nach nachhaltigen Kriterien, auch unter der Berücksichtigung ästhetischer wie funktionaler Voraussetzungen (Studioatmosphäre und Setting im Digitallabor: Akustikwand aus nachwachsenden Materialien, Möbel aus recyceltem Material)
  • Zusammenarbeit mit der Stadt Witten zum Ausbau der Grünflächen im Sinne der Grünen Infrastruktur durch Fördergelder zu erreichen
  • Formulierte Zukunftsprojekte: PV-Anlage, Regenwasser Managementsystem, LED Beleuchtung, Ökostrom
  • Nachhaltigkeitskriterien bei der Vergabe und Beschaffung berücksichtigen
  • Umweltmanagementsysteme (Ökoprofit, GWÖ, EMAS etc.).

Ende in Sicht?

Trotz erster sichtbarer Ergebnisse und eines erkennbaren Wandels müssen wir selbstkritisch festhalten, dass wir – wie so oft im Kultursektor –  in vielen Bereichen über die Behauptung noch nicht hinausgekommen sind und einen messbaren Impact schuldig bleiben: Hier müssen wir nun noch stärker in die Mühen der Ebene einsteigen. Existierende Routinen, eine hohe Arbeitsbelastung und in Teilen auch (personal-) rechtliche Rahmenbedingungen erschweren die Etablierung neuer Arbeits- und Handlungskontexte.  Zudem mangelt es uns trotz der bereits getroffenen Maßnahmen flächendeckend noch an erforderlichen Kompetenzen und Ressourcen, um unsere Transformationsanstrengungen wirksam zu katalysieren. Da der Handlungsspielraum der Stadt Witten als haushaltsschwache Kommune extrem beschränkt ist und die finanziellen Folgen der Pandemie ihr Übriges leisten werden, sind wir abhängig von Förderfolien, die uns eine Erneuerung unserer Infrastrukturen (baulich, inhaltlich und personell) ermöglichen.

Unsere konkreten Forderungen:

  • Förderkulissen auf die Erneuerung von Infrastrukturen ausrichten
  • Qualifizierung des Sektors über konkrete Personal- und Potenzialentwicklungsprogramme fördern
  • Transferstrukturen über Transformationsagent*innen in den Einrichtungen und übergreifenden Transferstellen aufbauen.

Autor*innen

Randi Günnemann, Alissa Krusch, Jasmin Vogel vom Kulturforum Witten. Das Kulturforum Witten, Anstalt des öffentlichen Rechts, ist 2006 aus dem damaligen Kulturamt der Stadt Witten hervorgegangen und steht dabei heute archätypisch für die kommunale kulturelle Infrastruktur einer Mittelstadt in einer zwar urbanen, aber doch strukturschwachen Region und kann als Blauspause für ein vollkommen neues Verständnis der kulturellen Daseinsvorsorge und der dahinterstehenden Organisationsstrukturen stehen. Mit unserem Ansatz überprüfen wir, daher, wie Kommunen in ihrer Daseinsvorsorge aus dem ressourcenintensiven Wachstumsnarrativ aussteigen und über eine Reorganisation der Verwaltungsstrukturen neue Wege sowie einen kulturellen und digitalen Wandel hin zu einer nachhaltigen Stadtgesellschaft beschreiten können.


[1] Die Europäische Kommission formuliert den Zusammenhang der Transformationsthemen z.B. als »Europe must leverage the potential of digital transformation, which is a key enabler for reaching the Green Deal objectives.«, Vgl. https://events.euractiv.com/event/info/the-twin-transition-how-can-green-growth-and-digital-transformation-go-hand-in-hand-to-drive-europes-recovery [Aufgerufen am 25.1.2022].

[2] Mark Terkessidis hält mit Blick auf Innovation fest: »Nicht der Wettbewerb zwischen Individuen oder Organisationen lässt Neues entstehen, sondern deren Offenheit und Anschlussfähigkeit«. (Mark Terkessidis Kollaboration, Berlin 2015, S. 119.).

[3] Anm.: VUCA ist ein Akronym und setzt sich aus Volatility (Volatilität), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) sowie Ambiguity (Ambiguität) zusammen. Nach Hoffmann »meint [VUCA] dabei die Unbeständigkeit und gleichzeitige Unberechenbarkeit des Organisationsumfeldes bei hoher Veränderungsgeschwindigkeit« (Erwin Hoffmann Systemisches Arbeiten für Kulturmanager: Praxis Kulturmanagement, Wiesbaden 2019: Springer Fachmedien Wiesbaden (essentials), doi: 10.1007/978-3-658-23733-2.S. 7).

[4] Vgl. Hildegard Kurt Von der Zukunft her gestalten. Eine kleine Reflexion in 3 Sequenzen, in: Kulturpolitische Gesellschaft (Hrsg): Zeit für Zukunft. Inspirationen für eine klimagerechte Kulturpolitik, Bonn 2020, S. 48f.

[5] Die Methode der organisationalen Ambidextrie befähigt die Organisation parallel zum Alltagsgeschäft mit neuen Arbeitsformen zu experimentieren. Grundvoraussetzung ist dabei eine Umverteilung und Priorisierung der jeweiligen alltäglichen Arbeitsaufgaben, um so die notwendigen Räume und Ressourcen zu schaffen. (Vgl. Henning Mohr und Diana Modaressi-Tehrani Museen der Zukunft. Trends und Herausforderungen eines innovationsorientierten Kulturmanagements, in: Henning Mohr und Diana Modarressi-Tehrani (Hrsg..): Museen der Zukunft. Trends und Herausforderungen eines innovationsorientierten Kulturmanagements. S. 18ff.

[6] Förderprogramm »kulturstark«: https://www.beisheim-stiftung.com/de/de/projekte/kulturstark [Aufgerufen am 25.1.2022].

[7] Weitere Informationen zum Netzwerk, u.a. https://aktionsnetzwerk-nachhaltigkeit.de/projekte/pilotprojekt-klimabilanzen-in-nrw/ [Aufgerufen am 06.03.2022].

Über Checklisten hinaus

7. März 2022

Ein Leitfaden für diversitätsorientierte Personalgewinnung im Kunst- und Kulturbereich

Einleitung

»Wir würden ja gerne qualifizierte Personen mit Migrationshintergrund/ of Color / mit Behinderung einstellen – doch wie erreichen wir eine diversere Bewerber*innenschaft? Können Sie unsere Ausschreibung nicht über Ihre Verteiler verschicken?« Diese Frage wird uns häufig in der Begleitung von Häusern ganz zu Anfang gestellt, oftmals verbunden mit dem Wunsch nach Checklisten, Best-Practice-Beispielen und konkreten, schnell umzusetzenden Handlungsansätzen. So verständlich dieser Wunsch ist – so einfach ist er nicht einzulösen. Denn es gibt keine Patentrezepte: Diversitätsorientierte Personalgewinnung ist ein kontinuierlicher Prozess, der im Grunde nie abgeschlossen ist. Denn Maßnahmen müssen immer wieder neu evaluiert, erweitert oder nachjustiert werden. Zudem müssen diese auf die jeweilige Organisation zugeschnitten sein, das heißt: Jede Organisation, jede Institution, jedes Haus muss eigene spezifische Lösungen und Maßnahmen für personalbezogene Öffnung finden.

Außerdem – und das ist besonders wichtig: Diversität entsteht nicht einfach, weil ein paar Personen eingeladen werden, die vorher nicht anwesend waren. Damit die Einstellung von einzelnen, zum Beispiel Schwarzen Personen oder People of Color, nicht zu »Tokenism« führt – das heißt, dass Personen feigenblattartig oftmals auf unteren Hierarchieebenen eingestellt werden, ohne dass eine wirkliche Einbindung von neuen Perspektiven institutionell mitgedacht ist – braucht es einen diversitätssensiblen Blick auf die gesamte Institution und einen Willen zur Veränderung.

Mit diesem Leitfaden zur diversitätsorientierten Personalgewinnung möchten wir zu einem Nachdenken über das Wirken diskriminierender, ausschließender Barrieren, Normen und Verfahren einladen und den Blick öffnen für Handlungsspielräume einer diskriminierungskritischen Praxis. Wir zeigen zuerst, was das Konzept Diversitätsorientierung bedeutet und welche Anforderungen sich daraus für Kulturbetriebe ergeben.

Danach blicken wir auf vier erste Schritte, um Personalpolitik diversitätsorientiert zu gestalten. Die Grundsätze, Kriterien und Handlungsempfehlungen, die wir im Folgenden vorstellen, basieren auf unserer Beratungspraxis sowie auf Texten und Handreichungen, die größtenteils von Personen mit eigenen Diskriminierungserfahrungen und langjähriger Expertise und Praxiserfahrung im Feld verfasst wurden. Diese Verweise finden sich immer wieder in diesem Text verstreut, aber auch gesammelt im Literaturverzeichnis am Ende des Beitrags.

Diversitätsorientierung – was ist das eigentlich?

Wenn wir in unserer Arbeit von »Diversitätsorientierung« sprechen, beziehen wir uns vor allem auf einen Diversitätsbegriff, der in der Tradition von Schwarzen und queeren Bürgerrechtsbewegungen und Bewegungen von Menschen mit Behinderungen in den USA im 20. Jahrhundert steht und insbesondere Machtverhältnisse und deren Geschichte in den Blick nimmt sowie Ausschlüsse auf individueller, gesellschaftlicher und struktureller Ebene thematisiert. So sind beispielsweise Rassismus, Sexismus sowie Diskriminierung in Bezug auf sozio-ökonomische Herkunft (Klassismus) oder in Bezug auf Behinderung (Ableismus) Diskriminierungsformen, die in sozialen und institutionellen Strukturen – auch in Kultureinrichtungen – immer noch bestehen und unbewusst und ungewollt reproduziert werden. Es ist also wichtig, bei der Verwendung des Wortes »Diversity« neben der positiven Bedeutung von Vielfalt auch diskriminierende Strukturen zu benennen und die Schaffung von Chancengerechtigkeit in unterschiedlichsten Lebenszusammenhängen anzustreben. 

Für unseren Arbeitsansatz bedeutet das: Wir denken Diversität eng verschränkt mit einer Antidiskriminierungspolitik, die die Schaffung gerechterer Zugänge in unterschiedlichen Diversitätsdimensionen anvisiert, so dass Personen unabhängig von den eigenen Lebenslagen und der eigenen Identität selbstverständlich gleichwertig und gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben können.

Diversitätsorientierte ÖFFNUNG heißt… ver_lernen von Anfang an

Die Umsetzung von Öffnungsprozessen bedeutet nicht einfach, nur einer vorhandenen Stuhlreihe einen freien Stuhl hinzuzufügen. Sondern, um bei diesem Bild zu bleiben: Öffnung heißt, dass der Raum in Bewegung kommt, dass aufgestanden wird, Stühle gerückt werden, in ein gemeinsames Sprechen, Reflektieren, Planen und Neukonzipieren gegangen wird. Und dies nicht als spontaneUmräumaktion, sondern als Teil eines Auseinandersetzungsprozesses, eines aktiven »Unlearning«, wie es die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Spivak benennt. 

»Unlearning« nicht im Sinne eines Vergessens, sondern des Ver_lernens – einer aktiven Auseinandersetzung mit gelernten Selbstverständnissen, Privilegien sowie auf Organisationskultur bezogenen impliziten Normen, unhinterfragten Verfahren und historisch gewachsenen Machtstrukturen – hinzu einer Verantwortungsübernahme. Denn so wichtig Nachdenken, Lernen und Reflektieren auch ist – es sollte in Anlehnung an Sara Ahmed nicht zu einem selbstreferentiellen Prozess werden, bei dem es bei einem »sich gut fühlen« (S. 61) bleibt, sondern in eine gelebte Praxis übergehen. Wir begreifen dies als Teil von Professionalität, ohne die es für Kultureinrichtungen heutzutage nur schwer möglich ist, angemessen auf die aktuellen künstlerischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, auf Diskurse, Aufträge und Zielgruppen einzugehen.

Diversitätsorientierung als Querschnittsaufgabe verstehen und leben:

Um sich diversitätsorientiert entwickeln zu können, muss in einer Organisation ein Bewusstsein für Diskriminierungen und der tatsächliche Wille zur Veränderung vorhanden sein. Führungskräfte, wie z.B. Personalverantwortliche, Gleichstellungsbeauftragte oder Bereichsleitungen, sind besonders bei Veränderung von Personalpolitik Schlüsselakteur*innen, da sie die Schnittstelle zu den Teams bilden und mit Befugnissen oder Ressourcen ausgestattet sind. Auch wenn diesen Personen eine besondere Rolle zukommt, sollte Diversitätsorientierung – als Anti-Diskriminierungspolitik und gelebte Betriebskultur verstanden – alle Personen im Team inkludieren und von allen mitgetragen werden. 

Die Etablierung einer Steuerungs-/Arbeitsgruppe mit Vertreter*innen aller Arbeitsbereiche kann hierbei ein Weg sein, um Mitarbeiter*innen in Prozesse einzubeziehen und Maßnahmen auf Ebene einer konkreten Arbeitspraxis zu entwickeln und zu implementieren.

Lernräume schaffen:

Diversitätsorientierung beinhaltet ein Lernen über Diskriminierungsverhältnisse und über ausgrenzende Strukturen, sowie das Finden einer gemeinsamen Definition grundlegender Begriffe wie beispielsweise »Diversität«. Gezielte Fortbildungsangebote für das gesamte Team – auch für die Leitungsebene – Durchführung von Strategie-/Teamtagen zum Thema Diversitätsorientierung, aber auch generell die Etablierung einer Kultur des Austauschs, der gemeinsamen Reflexion, zum Beispiel in Teamsitzungen oder durch Supervisionsangebote, sind hierbei wichtige Schritte. Damit Lernen nicht auf Kosten von marginalisierten Personen erfolgt, sollte Empowerment und ein parteilicher Ansatz bei Diskriminierungen zentral mitgedacht werden – beispielsweise indem Mitarbeitende, die geteilte Erfahrungen von Diskriminierungen machen, an Empowermentworkshops teilnehmen können oder eigene Austausch- und Vernetzungsräume haben.

»Positive Diskriminierung«

Oft wird bei Quoten und ähnlichen Maßnahmen von »positiver Diskriminierung« gesprochen. Dieser Begriff ist im Kontext von Antidiskriminierungspolitiken jedoch irreführend. Hierfür ist es wichtig, die begriffliche Unterscheidung von »Ungleichbehandlung« und »Diskriminierung« zu verstehen. Letztere beinhaltet eine gesellschaftliche Benachteiligung. Ungleichbehandlung ist, soweit sie sachlich begründet ist, gesetzlich vertretbar. Anwendung findet sie zum Beispiel durch das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG) und das Bundesgleichstellungsgesetz zur Gleichstellung von Männern und Frauen. Die Ungleichbehandlung oder Bevorzugung erfolgt jedoch ausdrücklich bei gleichen Qualifikationen. Ein verbindliches Gesetz für die Förderung von Menschen, die Rassismus erfahren, gibt es noch nicht.

Holen Sie sich Unterstützung:

Wenn Sie sich dazu entschlossen haben, sich diversitätsorientiert zu öffnen, ist für einen nachhaltigen und wirksamen Prozess eine externe Beratung und Begleitung durch Expert*innen mit Erfahrungswissen zu Diskriminierung (z.B. Organisationsberater*innen, Prozessmoderator*innen, Supervisor*innen) hilfreich. Ein Blick von außen und die explizit zum Thema passende Expertise speziell zum Thema diversitätsorientierte Organisationsentwicklung, unterstützt dabei, mit Planung und Reflexion vorzugehen. Nicht zuletzt dafür müssen ausreichend finanzielle und zeitliche Ressourcen bereitgestellt werden.

Vier erste Schritte

Um Personalpolitik diversitätsorientiert zu gestalten reicht es nicht, wie zu Anfang schon erwähnt, nur andere Verteiler bedienen zu wollen. Vielmehr muss eine umfassende Hinterfragung der bisherigen Personalpolitik stattfinden, um Stellschrauben zu identifizieren, anhand derer Barrieren abgebaut und Öffnung vorangebracht werden können. Das Arts Council England hat mit dem Culture Change Toolkit eine Sammlung von Anleitungen und Best Practice Beispielen für eine diversitätsorientierte Personalpolitik erarbeitet und online zur Verfügung gestellt. Anhand dieser Punkte und Fragen können Sie einerseits Ihren Status Quo überprüfen und erhalten Anhaltspunkte zu Maßnahmen, die Sie für eine diversitätsorientierte Personalpolitik umsetzen können. Auch hier gilt: Maßnahmen müssen auf die jeweilige Organisation oder den jeweiligen Betrieb zugeschnitten sein, weshalb die Leitfragen keine organisationsspezifische Analyse Ihrer Personalpolitik ersetzen. Dennoch gewinnen Sie hier schon einmal einen Eindruck, welche Themen und Fragen von Bedeutung sein können. Auf vier Punkte, nämlich die Analyse von Ausschlüssen, Verfahren der Stellenbesetzungen, Betriebsklima sowie Zugänge, möchten wir im Folgenden näher eingehen:

1. Der Blick auf den Status Quo

Vor der Maßnahmenentwicklung ist ein Blick auf den Status Quo Ihrer Personalpolitik essenziell. Bezüglich der Analyse von Ausschlüssen verschiedener von Diskriminierung betroffener Gruppen können Sie sich an den Dimensionen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes orientieren, zusätzlich empfehlen wir die Dimensionen der sozialen bzw. sozio-ökonomischen Herkunft sowie Diskriminierung aufgrund ostdeutscher Herkunft mit zu berücksichtigen.

Es ist wichtig zu erfahren, welche von Diskriminierung betroffenen Gruppen auf welcher Ebene in der Organisation vertreten sind. Eine eigenständige Erhebung zu Diskriminierungserfahrungen innerhalb des Personals durchzuführen, bedarf allerdings Fachexpertise und sollte im besten Fall ausgelagert und von externen Akteur*innen übernommen werden. Zum einen ist es datenschutzrechtlich anspruchsvoll, sensible Daten von Angestellten zu erheben und zu verwalten. Zum anderen birgt dies das Risiko, diskriminierende Zuschreibungen zu (re)produzieren, wenn beispielsweise keine Selbstbezeichnungen benutzt werden oder Diskriminierungserfahrungen aufgrund von äußerlichen Merkmalen vermutet und zugeschrieben werden.

2. Verfahren der Stellenbesetzung

Da Ausschlüsse nicht erst an der Tür zu Kultureinrichtungen beginnen, sondern beispielsweise schon im Bildungsbereich wirkmächtig sind und somit Bildungsbiografien nachhaltig beeinflussen können, fallen Personen, die Diskriminierungen erfahren, oftmals durch Bewerbungsraster, da ihr Lebenslauf von der geradlinigen Norm abweicht oder Referenzen wie die Ausbildung an einer renommierten Kunsthochschule fehlen. Eine diversitätsorientierte Personalgewinnung sollte diese Ausschlüsse anerkennen und beispielsweise, wenn möglich, vergleichbare Qualifikationen als Alternative zu Hochschulabschlüssen in Betracht ziehen oder Brüche in Lebensläufen als Erfahrungsschatz werten.

Für eine diversitätsorientierte Personalpolitik ist es daher essenziell, spezifisch die Verfahren der Stellenbesetzung zu betrachten und auf deren Vergleichbarkeit hinzuarbeiten. In großen Museen laufen Verfahren der Stellenbesetzung beispielsweise oftmals stark formalisiert ab mit wenig Spielraum für Reflexion und Veränderung. Das heißt beispielsweise, dass die gängigen Zugangsvoraussetzungen in Bezug auf Bildungsabschlüsse und Erwerbs-/ oder künstlerische Laufbahnen (wer hat wo studiert, an welchen Orten schon ausgestellt, gearbeitet, publiziert etc.) sehr hoch sind. 

In anderen Bereichen des Kultursektor hingegen, insbesondere bei künstlerischen Berufen im Theaterbereich, finden Vorstellungsgespräche oft informell, zum Beispiel nach einer Vorstellung auf ein Bier in der Theaterkantine statt. Dies führt dazu, dass die Qualifikationen der Bewerber*innen nicht hinreichend verglichen werden, was bewirken kann, dass bewusste oder unbewusste Zuschreibungen und Vorurteile verstärkt werden. Der sogenannte Unconscious Bias (zu deutsch: Unbewusstes Vorurteil) wird hier wirkmächtig: Studien belegen die Annahme, dass Personen vorzugsweise eingestellt werden, die der einstellenden Person in Bezug auf Geschlecht, Herkunft, Werdegang, Habitus ähneln.

Darüber hinaus gibt es einige weitere Aspekte zu beachten:

•  Gibt es Maßnahmen zur Herstellung von Chancengerechtigkeit in der Personalauswahl? (z.B. anonymisierte Bewerbungsverfahren, standardisierte Interviewleitfäden, Quoten zum Nachteilsausgleich).

•  Wird bei Bewerbungsverfahren darauf geachtet, eine Vielfalt an biografischen und fachlichen Erfahrungen zu berücksichtigen und wertzuschätzen?

•  Werden die herkömmlichen Ausschreibungskanäle erweitert?

•  Wird im Vorstellungsgespräch Diversitätskompetenz abgefragt und als Auswahlkriterium bewertet?

Ausschreibungstexte sollten die Stelle – im Hinblick auf Aufgaben, Anforderungen, Qualifikationen, Stundenzahl etc. – so genau wie möglich beschreiben. Auf diese Punkte zu achten, fördert die Zugänglichkeit von Ausschreibungstexten. Überfrachtete Texte mit ausgesprochen vielen und hohen zu erwartenden Anforderungen, können Bewerber*innen, die von Diskriminierung betroffen sind oder deren Lebenslauf von der erwarteten Norm abweicht, abschrecken und davon abhalten, sich überhaupt zu bewerben. Demgegenüber ist es für die Zugänglichkeit der Ausschreibung vorteilhaft, einen Abschnitt darüber zu verfassen, was Sie als Arbeitgeber*in bieten und wie Sie sich selbst als lernende Institution verstehen. Dies können Weiterbildungsmöglichkeiten sein, Hinweise zu Prozessen der Organisationsentwicklung, diskriminierungskritische Reflexions- und Empowerment-Räume oder andere Maßnahmen zur Förderung des Betriebsklimas. Eine Benennung solcher Maßnahmen zeigt ein Bewusstsein dafür, dass auf beiden Seiten Erwartungen bestehen und auch seitens der Institution aktiv Verantwortung für eine Diversitätsorientierung übernommen wird.

3. Förderung eines angenehmen Betriebsklimas

Wie schon anfänglich gesagt – Diversität entsteht nicht, indem Personen eingestellt werden, die vorher nicht da waren, sondern Diversität als gelebte Praxis benötigt Strukturen, in denen sich alle wohlfühlen und sich einbringen können. Doch in einem stark hierarchisierten Kulturbetrieb gelten oftmals ungeschriebene Normen, die dem Einbezug von unterschiedlichen Perspektiven entgegenstehen. Der Text »White Supremacy Culture« beschreibt beispielsweise, wie implizite Normen wie Perfektionismus oder Individualismus oder bestimmte Arbeitsweisen und Verfahren, wie z.B. die Fokussierung auf das geschriebene Wort als Teil der Organisationskultur, zu Ausschlüssen führen können, weil sie als Norm und Standard gelten, ohne dass das jemals bewusst und proaktiv von den in den Organisationen arbeitenden Menschen benannt oder ausgewählt wurde. Ein erster Schritt, um Raum für eine wirklich diverse Organisation zu schaffen, ist es, diese Normen und Standards erkennen und benennen zu können und darauf basierend konkrete Gegenstrategien zu formulieren. Die Etablierung einer wertschätzenden Betriebskultur, die Schaffung von Transparenz über Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen oder die Förderung von kollaborativen, gemeinschaftlichen Arbeitsweisen können hierbei beispielsweise wichtige Schritte sein, um eine Arbeitskultur zu schaffen, die Vielfalt anerkennt.

Folgende Fragen helfen bei der Reflexion bestehender Betriebskulturen weiter:

•  Gibt es eine Arbeitskultur, die Mitarbeitende dazu einlädt, eigene Ideen und unterschiedliche Erfahrungen einzubringen?

•  Können Aufgabenfelder und Arbeitszeiten so frei gestaltet werden, dass sie ein flexibleres Arbeiten ermöglichen?

•  Gibt es eine Transparenz über Entscheidungsprozesse und Vergütungspraxis?

•  Wird der Aufbau und die Nutzung von Empowerment-Räumen und Reflexionsräumen unterstützt? (z.B. durch Supervision, Teilnahme an Intervisionsgruppen, Möglichkeit zur Teilnahme an Empowerment-Seminaren)

•  Gibt es ein internes/externes Verfahren zum Umgang bei Vorfällen von Diskriminierungen – z.B. gibt es Ansprechpersonen, eine Antidiskriminierungs-Strategie/Policy?

•  Wird nachhaltig in die Einbindung von unterschiedlichen Communities sowie langfristige Vernetzung investiert?

4. Schaffung von ZUGÄNGEN von Anfang an

Auch (bezahlte) Praktika, Stipendienprogramme oder Freiwilligendienste wie BFD, FSJ-Kultur, Volontariate etc. können erste Ansatzpunkte sein, um langfristig Zugänge zu schaffen und um die Einstellung von Personen aus marginalisierten Gruppen gezielt zu fördern. Die in dieser Publikation beschriebenen Programme sind positive Beispiele: das im Rahmen des KIWit-Verbundes von der Stiftung Genshagen konzipierte Traineeprogramm zur diversitätsorientierten Nachwuchsförderung, welches neun Berufseinsteiger*innen mit eigener oder familiärer Migrationsgeschichte den Einstieg in einen Kulturbetrieb ermöglichte. Und die ebenfalls von der Stiftung Genshagen durchgeführte KIWit-School, die zum Zeitpunkt vor der Studienwahl ansetzt und Menschen, die sich für einen Beruf in Kunst und Kultur interessieren, deren Zugänge aber eingeschränkt sind, bei der Wahl des Studiengangs und bei der Bewerbung unterstützt. 

Es liegt hierbei in der Verantwortung der Institutionen und Häuser, Lern- und Qualifizierungsräume bereitzustellen, zu begleiten sowie sich selbst als lernende Institution zu verstehen – und letztendlich langfristige Perspektiven für Berufslaufbahnen im kulturellen Feld zu ermöglichen.

Folgende Fragen können bei der Schaffung von Zugängen unterstützen:

•  Nutzen Sie Vernetzungen und Kooperationen mit unterschiedlichen Communities, Selbstorganisierungen, Schulen, Jugendclubs etc., um Ausschreibungen zu verbreiten?

•  Bemühen Sie sich bei externen Beauftragungen, eine angemessene Vergütung und Honorierung anbieten zu können?

•  Wird Einsteiger*innen die Möglichkeit geboten, Einblick in unterschiedliche Arbeitsfelder zu erhalten?

•  Welche Fertigkeiten, welches Wissen wird weitergegeben? (z.B. Programme oder Konzepte zur Öffentlichkeitsarbeit zu gestalten, Anträge zu schreiben, Projekte zu planen, Finanzpläne zu erstellen etc.)

•  Welche zusätzlichen Weiterbildungsmöglichkeiten werden bereitgestellt?

•  Inwieweit wird frühzeitig an weiterführenden Arbeitsmöglichkeiten gearbeitet, bevor der Job endet?

Zu guter Letzt…

All dies sind nur erste Reflexionsfragen, die dabei helfen können, Stellschrauben für eine diversitätsorientierte Personalpolitik und letztendlich auch Organisationskultur in den Blick zu nehmen, den Status Quo zu überprüfen. Um konkret zu werden und eingefahrene Routinen neu denken zu können, ist aber eine externe Begleitung in Form von Fortbildungen, Workshops und/oder Prozessberatung elementar.

Eine diversitätsorientierte Öffnung lässt sich nicht allein abhandeln mit einem schillernden Leitbild, das auf dem Papier existiert, aber nicht Herzen und Strukturen erreicht. Sie ist keine Projekt-Checkliste, die es einfach abzuhaken und abzulegen gilt. Öffnungsprozesse sind immer auch Lernprozesse und setzen eine bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen (institutionellen) Kulturgebundenheit voraus. Das bedeutet auch, die Orientierung an der Mehrheitskultur als alleinigen Maßstab für das eigene Wahrnehmen und Handeln in Frage und andere Wissensarchive ins Zentrum zu stellen. Denn das Wissen, kulturelle Produktionen und Widerstandsbewegungen von Schwarzen Menschen und People of Color sind schon lange da – sie kommen jedoch im allgemeinen Kanon viel zu wenig zum Tragen, werden nicht gehört. Und hier sind wir alle gefragt, im Sinne einer De-Zentrierung Räume zu öffnen und Platz zu machen für andere Perspektiven, Geschichtsschreibungen, Deutungen.

words, words, words…

Auch die Auseinandersetzung mit Sprache ist ein wichtiger Teil eines Sensibilisierungs- und Lernprozesses, da Worte nicht neutral sind. Manche Begriffe müssen vielleicht ganz neu gelernt werden, klingen erst einmal fremd, sind nicht leicht zu verstehen, weil sie vielleicht akademischen Konzepten entspringen, oder sie sind Selbstbezeichnungen von Communities. Das kann irritieren, nachdenklich machen und herausfordern. Aber es liegt auch eine große Chance darin, eine Sprache zu finden, bei der sich alle gemeint und respektiert fühlen.

Lust auf Lernen können beispielsweise folgende Bücher, Publikationen, Seiten machen:

•  Glossar auf der Website von Diversity, Arts, Culture Berlin: https://www.diversity-arts-culture.berlin/diversity-arts-culture/woerterbuch

•  Glossar auf der Website von i-päd (Initiative intersektionale Pädagogik): http://www.i-paed-berlin.de/de/Glossar/ 

•  Oegg e.V. (2013): Leitfaden für rassismuskritischen Sprachgebrauch: https://www.oegg.de/wp-content/uploads/2019/12/Leitfaden_PDF_2014.pdf

•  Arndt, Susan / Ofuatey-Alazard, Nadja (Eds.) 2011: Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster: Unrast Verlag.

Dieser Text wurde bereits in der Broschüre »Diversitätsorientierte Nachwuchsförderung und Personalgewinnung im Kunst- und Kulturbereich. Erfahrungen der Stiftung Genshagen und ein Leitfaden für Kulturinstitutionen« publiziert. Wir bedanken uns sehr herzlich für die Möglichkeit der Zweitveröffentlichung.


Literaturverzeichnis

Ahmed, Sara (2012): On Being Included. Racism and Diversity in Institutional Life, Durham and London: Duke University Press.

Ahyoud, Nasiha; Aikins, Joshua Kwesi; Bartsch, Samera; Bechert, Naomi; Gyamerah, Daniel; Wagner, Lucienne (2018): Wer nicht gezählt wird, zählt nicht. Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten in der Einwanderungsgesellschaft – eine anwendungsorientierte Einführung. Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership, Citizens For Europe (Hrsg.), Berlin. Online verfügbar: www.vielfaltentscheidet.de/publikationen 

Aikins, Joshua Kwesi / Gyamerah, Daniel: Handlungsoptionen zur Diversifizierung des Berliner Kultursektors. Eine Expertise von Citizens For Europe, Berlin. Projekt: Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership. Im Auftrag der Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) e.V. & AKOMA Bildung & Kultur. Online verfügbar: https://vielfaltentscheidet.de/wp-content/uploads/2017/04/Final-f%C3%BCr-Webseite_klein.pdf 

Arts Council England (2017): Culture Change toolkit https://www.artscouncil.org.uk/advice-and-guidance/culture-change-toolkit#section-1 

DeutschPlus Broschüre (2018): »Vielfalt intersektional verstehen«. Ein Wegweiser für diversitätsorientierte Organisationsentwicklung. I-PÄD in Kooperation mit DeutschPlus von Tuğba Tanyılmaz, Edwin Greve (Autor*innen), I-Päd – Intersektionale Pädagogik (Migrationsrat Berlin e.V.), Sohal Behmanesh, Derya Binışık, DeutschPlus e.V. – Initiative für eine plurale Republik (Hrsg.), Berlin. Online verfügbar: https://www.deutsch-plus.de/wp-content/uploads/2018/01/vielfalt-intersektional-verstehen-barrierefrei.pdf 

Okun, Tema (2011): White supremacy culture: www.dismantlingracism.org/uploads/4/3/5/7/43579015/okun_-_white_sup_culture.pdf  

Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) e.V. (2017): Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung: Ein Handlungsansatz der RAA Berlin. Online verfügbar: http://raa-berlin.de/wp-content/uploads/2018/12/RAA-BERLIN-DO-GRUNDSAETZE.pdf 

Sebastian Seng, Nora Warrach (Hg.) (2019): Rassismuskritische Öffnung. Herausforderungen und Chancen für die rassismuskritische Öffnung der Jugend(verbands)arbeit und Organisationsentwicklung in der Migrationsgesellschaft. Im Auftrag des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit (IDA) e.V. Online verfügbar: https://www.idaev.de/fileadmin/user_upload/pdf/publikationen/Reader/2019_IDA_RKOE.pdf

Spivak, Gayatri Chakravorty (1996): The Spivak Reader. Hg. von Donna Landry u. Gerald Maclean. New York/London: Routledge.

Autor*innen

Lena Prabha Nising ist Erziehungswissenschaftler*in (M.A.) und Bildungsreferent*in. Zudem ist sie freiberuflich tätig als Berater*in und Referent*in im Kontext von macht- und rassismuskritischer Bildungsarbeit, Intersektionalität sowie diversitätsorientierter Öffnung von Institutionen. Hier beschäftigt sie u.a. die Frage, wie eine vielfaltssensible, rassismuskritische Öffnung von Kulturbetrieben gelingen kann.

Sophie Ali Bakhsh Naini ist Kulturwissenschaftlerin (M.A.) sowie Social Justice und Diversity Trainerin mit einem inhaltlichen Fokus auf Rassismuskritik und Beraterin für diversitätsorientierte Öffnung von Organisationen mit Fokus auf Kulturbetriebe. Darüber hinaus ist sie Beraterin bei Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership, einem Arbeitsbereich von Citizens For Europe, wo sie ebenfalls die Geschäftsführung als Referentin unterstützt

#Do-it-ourselves – Institutionen machen als künstlerische Praxis

1. März 2022

Wer soll Ihrer Meinung nach ein Theater leiten: ein violetter Oktopus oder ein weißes Pferd? Am Ende dieses Textes finden Sie eine Antwort. Möglicherweise.

2021 ging in den deutschsprachigen Theatern immer mal wieder eine Türe auf, aus der ein Mensch aus den Tiefen des Betriebs in die Öffentlichkeit trat, manchmal vielstimmig orchestriert von einem »Skandal«: Zum Beispiel ein Intendant mit schwerwiegenden Vorwürfen von Machtmissbrauch und sexueller Belästigung im Gepäck, oder ein Schauspieler, der für sich beschlossen hatte, nicht mehr in einem strukturell rassistischen System Stadttheater funktionieren zu wollen. Manchmal öffnete sich diese Back Door auch bloß, um sich gleich wieder zu schließen, nachdem die theaterinteressierte Öffentlichkeit einen kurzen Blick auf das Innenleben des Betriebs werfen konnte, in dem Stimmen laut und nachdrücklich auf Machtmissbrauch, disfunktionale Kommunikation und mangelnden Schutz von Integrität der Mitarbeitenden hingewiesen hatten. Wir reden vom Ex-Volksbühnen-Intendanten Klaus Dörr, vom Schauspieler Ron Iyamu, von der Ikone des postmigrantischen Theaters und Intendantin des Gorki Theaters Shermin Langhoff. Und mit ihnen von Vorfällen in Berlin, Düsseldorf oder Karlsruhe. 

Die so genannten »Skandale« haben vor allem etwas geschafft: zu verschleiern, dass eigentlich niemand von ihnen überrascht war. Sie zeigen in der Analyse vor allem eines: einen unüberwindbaren Graben zwischen einer Leitung und den Mitarbeitenden, die sich zusammenschliessen, um Missstände in der Führung und Etablierung einer Betriebskultur aufzuzeigen. Durch die Türen ausgeschleudert werden Einzelpersonen; entweder, weil sie in der Leitung nicht mehr tragbar sind (wie Dörr), oder weil sie als Arbeitnehmer*innen beschließen, nicht mehr Teil solcher Strukturen sein zu wollen (wie Iyamu). Doch während Künstler*innen, Theatermitarbeitende, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen seit Jahren Reformbedarf und Transformationsdringlichkeit des deutschsprachigen Stadttheaters aufzeigen, bleibt dieses wider besseren Wissens eine zum Verzweifeln zähe Institution; weiß, bürgerlich und männlich dominiert.

Wenn »der Fisch vom Kopf her stinkt«, wie im Theater so oft und gerne gesagt wird, macht es dann Sinn, die Transformation auch von der Spitze des Organigramms aus zu denken? Neue Intendanzmodelle lassen das vermuten. Größere und kleinere Häuser treten mit Co-Leitungen an, die insbesondere in der Schweiz, dem Land, das ebenfalls von einer 7-köpfigen Exekutive geführt wird, kulturpolitisch mit grossem Elan installiert werden: das Neumarkt Zürich wird seit 2019 von einem weiblichen Dreier-Direktorium geleitet, auch das Theaterhaus Gessnerallee ist mit einer weiblichen Dreier-Leitung gestartet, dasselbe hat das Schlachthaus Bern ab Sommer 2022 vor. Das Schauspielhaus Zürich operiert seit 2019 mit einer männlichen Doppelspitze, und die Leitung Schauspiel vom Theater Basel liegt seit 2020 in den Händen eines Vierer-Direktoriums, das seinem Schauspiel-Ensemble erweiterte Kompetenzen in der Programmation und bei künstlerischen Entscheidungen einräumt. 

Mehr als Symbolpolitik?

Doch sind Co-Leitungen mehr als bloße Symbolpolitik und effizientere Arbeitsteilung bei dem immensen Workload, der für eine Theaterdirektion anfällt? Wie verändern sich die Strukturen tatsächlich und erwirken Transparenz, reale Diversifizierung auf allen Ebenen des Betriebs und eine ausgeglichenere Verteilung von Entscheidungsgewalt? 

Hier lohnt es sich, den Blick im Organigramm nach unten zu richten und den Bewegungsmelder einzuschalten. Wer die kollektive Agency von Mitarbeitenden mitschneiden möchte, braucht Seismografen und Taschenlampe, denn viele institutionstransformierende Initiativen, Projekte und Verbindungen laufen unter dem Radar einer Leitung. Es lohnt sich, genau hinzuschauen: Wie arbeiten Kolleg*innen an der Transformation ihrer Organisation mit: kollaborativ, eigeninitiativ, informell, anti-patriarchal, diskriminierungskritisch, queer, partikular, konspirativ, feiernd, elaborierend, aktivistisch, empathisch, verbindend, progressiv…? 

Vielleicht hilft es hier auch, in einem schnellen Gedankentest den Begriff des (männlichen, weißen) »Intendanten«, der sich auf ungeklärte Weise aus französischen und deutschen Militär- und Verwaltungszusammenhängen in den Bereich der Kunst geschmuggelt hat und in erster Linie Durchsetzung und Direktive meint (und im absolutistischen Frankreich sogar »Steuereintreiber«), mit dem Begriff der »Autor*in« zu ersetzen. Autor*innen einer Institution sind diejenigen Akteur*innen, die diese schaffen, schöpfen, gestalten – und damit zu Urheber*innen eines produktiven Zusammenhangs werden.

Wenn wir nämlich eine Institution nicht als eine in Stein gemeißelte Struktur, sondern als eine von diversen Akteur*innen betriebene stetige Praxis begreifen, lässt sich die Frage nach ihrer Autor*innenschaft stellen: Wer betreibt diese instituierende Praxis, wer ist also der*die Produzent*in der Institution, wer arbeitet an ihrer Veränderbarkeit, wer gestaltet sie mit welchen künstlerisch-kritischen Intentionen? Was, wenn die diversen Akteur*innen eines Theaters die Institution genauso als Werk-in-progress begreifen wie eine Inszenierung oder ihre künstlerische Theaterpraxis generell? Wenn »Theater machen« und »Institutionen machen« keine getrennten Angelegenheiten sind, sondern zum gleichen Tätigkeitsfeld gehören: der Gestaltung eines künstlerischen Produktionszusammenhangs? Hier wird es Zeit für ein, frei nach Leslie A. Fiedler, »cross the borders, close the gaps«.

Ein Theater produziert nicht nur Werke für ein Publikum, sondern auch Kommunikationsstrukturen und Verhältnisse des sich-gegenseitig-aufeinander-Beziehens, des sich-Zeigens, sich-ausgesetzt-Seins, die als politisch zu begreifen sind, weil sie auf die Lebensbedingungen, Fertigkeiten, Potentiale und die psychische Disposition der Mitarbeitenden einer Organisation zurückwirken. In diesem Sinne wird der Betrieb zu einem binnenpolitischen Raum, in dem sich diejenigen bewegen und ihn gestalten, die sich als seine »Autor*innen« begreifen, zu einem »Raum mit Öffentlichkeitsstruktur« (Paolo Virno), der beansprucht, was früher dem Feld der Politik vorbehalten war: das Verhandeln der Bedingungen der Zusammenarbeit und des betrieblichen Zusammenlebens. 

»Institutionelle Autor*innen« agieren innerhalb einer Organisation als Doppelagent*innen: Sie sind meist als ausgebildete professionelle Theaterschaffende aus den Bereichen Schauspiel, Regie, Dramaturgie oder Kulturmanagement angestellt – gleichzeitig übernehmen sie informell häufig institutionstransformative Aufgaben. Damit gemeint sind Tätigkeiten, die nicht nur einen kritischen Diskurs über die Verfasstheit einer Institution etablieren und aufrechterhalten, sondern auch in der Verschränkung von strukturellen Maßnahmen und künstlerischen Praxen institutionelle Veränderungen prozessieren. Für diese Tätigkeiten gibt es bis anhin weder Berufsbezeichnungen und noch finanzierte Positionen, sie bewegen sich fluide zwischen künstlerischer und organisatorischer Praxis und sind in einem traditionellen Organigramm nicht lokalisierbar. Trotzdem finden in Theatern gegenwärtig zahlreiche kollaborative, institutionstransformierende Prozesse statt, die diverse Themen, Ziele und Ausprägungsformen haben. 

Ein Beispiel: Schauspielhaus Zürich 

Fokus Schauspielhaus Zürich: Dort zeigen sich zurzeit verschiedene Formen einer möglichen »institutionellen Autor*innenschaft«. Mit der Intendanz von Stemann/von Blomberg hat 2019 am Schauspielhaus Zürich das Projekt eines Theaters begonnen, das Diskriminierungen jeglicher Art entgegenarbeiten und geschützte Räume für künstlerische Entfaltung jenseits traditioneller Machtverhältnisse schaffen möchte. Ein solches Projekt, das die Betriebskultur und -struktur von Grund auf mit neuen Prämissen unterlegt und ideell durchdringt, ist langfristig angelegt und muss auf vielen Ebenen stattfinden. 

Einige der transformativen Ziele des Hauses bedürfen direktiver struktureller Massnahmen: Die Zugänglichkeit für alle Körper zu Positionen, Strukturen und Räumen der Institution kann zum Beispiel top down über eine diskriminierungssensible Einstellungs- und Lohnpolitik, eine fest angestellte Diversitätsagentin, Anpassungen in der Infrastruktur, neue Standards in der Kommunikation und weitere Strategien, die Ungleichheiten aller Art auffangen, vorangetrieben werden. Institutionelle Autor*innen interessiert hingegen, wie diskriminierungssensible Strategien von den Mitarbeitenden selbst initiiert, praktiziert und vergrössert werden und bottom up in eine Institution hineinwachsen können. 

Alle hier skizzierten Vorstöße, Projekte und Versuche am Schauspielhaus zeichnet aus, dass sie eigeninitiativ und informell sind, sie entstehen jenseits der offiziell vereinbarten Aufgaben der Mitarbeitenden im Betrieb und außerhalb von Sitzungsstrukturen. Sie sind oft abteilungsübergreifend und kollaborativ organisiert. Einige der Bewegungen diffundieren noch nicht in die Gesamtstruktur des Hauses, erobern sich aber ständig mehr Raum. Ein paar Beispiele: 

*Eine Kostümassistentin treibt die Dekolonisierung des Kostümfundus voran und durchforstet die Kostümteile nach tradierten kolonialen, rassifizierten Stereotypen, katalogisiert Bleibendes und entsorgt Überkommenes. 

*Die fünf festangestellten Produktionassistent*innen haben ein Manifest verfasst, in dem sie nicht nur ihre Aufgaben neu definieren und ihre Grenzen markieren, sondern sich auch von der traditionellen Rolle als Dienstleistende der Regie verabschieden. Das Manifest ist für Probenprozesse am Haus mittlerweile bindend. 

*Produktionen mit sensiblen Themen, die sich um Intimität, Sex, Machtmissbrauch und Körperbilder drehen oder auf der Zusammenarbeit mit nicht-professionellen Spieler*innen basieren, erhalten nun auf Initiative der Dramaturgie eine Begleitung durch diskriminierungssensible Coaches und/oder eine*n Intimacy Coordinator, die*der verantwortlich ist für die Schaffung eines diskriminierungsarmen Probenraums. So werden Produktionen nicht nur körpersensitiv begleitet, sondern auch der hausinterne Diskurs über die Themen Safer Spaces und Consent, Verletzlichkeit und Vertrauen abteilungsübergreifend vertieft. 

*Eine Gruppe von Dramaturg*innen, Assistent*innen und Ensemblemitgliedern erarbeitet zur Zeit eine »Praxis der Fürsorge«, ein kollaboratives Projekt, das sich zum Ziel setzt, für die Mitarbeitenden des Hauses ein Bündel von Strategien zu entwickeln, die einen bewussten und sorgsamen Umgang mit unterschiedlichen Körpern, anti-diskriminatorisches Sprechen und machsensitives Handeln im Betrieb nachhaltig verankern. Sie fragen, wie Praktiken der Fürsorge alle Körper mitdenken und ihrer Verletzlichkeit und Gefährdung durch Krankheit, Erschöpfung und Diskriminierung gerecht werden können; wie sich ein sorgsames Sprechen in Arbeitssituationen – zum Beispiel in Proben, Sitzungen, im Austausch mit dem Publikum – an einem Haus etablieren kann. Wie aktiv ein Selbst-Bewusstsein für das eigene Handeln, die eigenen Grenzen, das eigene Sprechen und das der anderen entwickelt und in Proben- und Arbeitssituationen Consent hergestellt und abgelehnt wird. Wie Mitarbeitende eine gegenseitige Sorgfaltspflicht wahrnehmen können. Das Team bietet Räume für Erfahrungsaustausch und gemeinsames Lernen und entwickelt ein regelmässiges Angebot an Übungen, Trainings und Tools für den Berufsalltag.

Fazit

In all diesen Projekten wird eine »institutionelle Autor*innenschaft« sichtbar, die ein Theater als Organisation als veränderbar begreift und im Rückgriff auf tradierte Strukturen kritisch beleuchtet und transformiert. So wirken die Initiativen auf Produktions- und Kommunikationsstrukturen ein, denken Repräsentationspolitiken mit – und prägen eine neue Kultur des Produzierens und Zusammenarbeitens am Theater. Der Begriff der »institutionellen Autor*innenschaft« eröffnet demnach ein neues Terrain innerhalb der Institution (und der konkreten Organisation), den es auszuloten gilt. Mit ihm treten die Mitarbeitenden eines Theaters auf neue Weise in die Sichtbarkeit. Indem sie Handlungsmacht auf institutioneller Ebene erlangen, Prozesse initiieren und gestalten und ihre Potentiale besser ausschöpfen können, verändern sich ihr Status und ihre Handlungsfähigkeit in einer Organisation und damit traditionelle Berufsbilder. Das Bündel dieser institutionstransformierenden Prozesse steht für ein emanzipatorisches Theater, das es, wie alles am Theater, kollaborativ zu erproben und nachhaltig in der entlohnten Arbeitszeit zu verankern gilt. 

Und weil es wichtig ist, steht es am Ende: Ohne Geld und ohne Zeit gibt es keine institutionstransformierenden und emanzipatorischen Vorgänge – egal, auf welcher Ebene eines Betriebs sie stattfinden. Nur wenn Praxen des Instituierens, wie auch immer sie aussehen und wo auch immer sie stattfinden, Teil der Berufsbilder am Theater und anerkannter Teil vertraglich vereinbarter Aufgaben werden, kann »institutionelle Autor*innenschaft« tradierbares Wissen generieren und nachhaltig wirksam und sichtbar sein. 
Darum ist dieser Text ein Plädoyer für den Oktopus statt für das weiße Pferd, auf dem ein meist männlicher Ritter-Intendant die Zügel straff in der Hand hält. Für den Oktopus, bei dem der eine Arm vielleicht nicht weiß, was der andere macht, einen violetten Oktopus, wie er seit Antritt der neuen Leitung als Maskottchen in der Zürcher Gessnerallee lebt. Und damit ein Plädoyer für eine Institution, die in ihrem Kopf Platz für neun Gehirne hat und viele Arme braucht, um mit der Wirklichkeit ihrer Mitarbeitenden in Berührung zu kommen. Theater ist ein wildes Tier mit mehr als einem pulsierenden Herzen.

Autorin

Foto: Perspektiven SDDB

Fadrina Arpagaus, geboren in Zürich, studierte Germanistik und Philosophie in Zürich und Berlin und schloss mit einem Master of Arts ab. Sie war als Dramaturgin u.a. am Theater Basel, am Theater Neumarkt Zürich und am Konzert Theater Bern engagiert und leitete mehrere Jahre das Programm der Zürcher Kulturinstitution »Karl der Grosse«.

Seit der Spielzeit 2019/20 ist Fadrina Arpagaus Teil des Dramaturgie-Teams am Schauspielhaus Zürich. Sie ist zudem Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste und co-leitet den »Dramenprozessor«, das Schweizer Förderprogramm für junge Dramatiker*innen.

Kollaboration als Arbeitsweise: Zwischen Selbstoptimierung und Strukturwandel

21. Februar 2022

Die Schlagwörter ›Kollaboration‹ und ›Agilität‹ werden, wie das Beispiel der Kulturpolitischen Gesellschaft selbst hervorragend verdeutlicht, in Kulturmanagement und -politik zunehmend als Wege aus den veralteten Strukturen des Kulturbetriebs angepriesen. Trotz der zunehmenden und oftmals synonymen Begriffsverwendung fehlt es in der Praxis an konkreten Handlungsweisen und Orientierungsmodellen. Vielmehr bleibt es bei vielversprechenden Hymnen wie beispielsweiser dieser:

»Gerade der Aspekt der Kollaboration ist eine entscheidende Voraussetzung für mögliche Veränderungen im Kulturbereich, da in derartig organisierten Arbeitskontexten unterschiedliche Expertisen – auch außerhalb der Organisation – in den Produktionsprozess integriert werden und in der Regel auch Personen beteiligt werden, deren Ansprüche, Denkweisen oder Fähigkeiten in der Kulturarbeit noch zu wenig repräsentiert sind.«

Es scheint, als wären die Transformationsvorstellungen längst klar formuliert, als wären zukunftsfähige Unternehmen längst nicht mehr linear und hierarchisch strukturiert, sondern netzwerkartig organisiert. Als würden interne Strukturen in hybriden Arbeitsgruppen immer wieder neu beleuchtet, Abläufe hinterfragt und optimiert, neue Produkte aus der Zusammenführung unterschiedlicher Zuständigkeitsfelder und Wissensformen entwickelt. Insbesondere die Digitalisierung ist dabei eine große Hilfe und ermöglicht dezentrale Zusammenarbeit, Selbstorganisation und häufigere Korrekturschleifen. Aber ist das wirklich so?

Der folgende Beitrag möchte den Herausforderungen des strukturellen Umbaus im Kulturbetrieb nachgehen und handlungsorientiert Probleme aufzeigen. Grundannahme ist, dass viel zu lange die Trennung in Theorie und Praxis auf der einen Seite und die Vermischung von Inhalt und Struktur auf der anderen Seite aufrechterhalten wurde – statt konzeptuelle Ansätze auf ihre Umsetzbarkeit zu befragen. Wie lässt sich diese vielgeforderte Neugestaltung praktisch umsetzen? Und welche Idee von Kollaboration als Begriff und als Arbeitsweise werden dabei imaginiert?

Dem Folgend, möchte ich mich vor allem auf bereits vorhandene Ansätze und Thesen des Blogs beziehen, um offenzulegen, dass sie einerseits viele wichtige Standpunkte offerieren, andererseits aber stärker aufeinander Bezug nehmen sollten, um nicht repetitiv, sondern transformativ zu wirken. Wir alle kennen mittlerweile die Parolen und Utopien eines zukünftigen Kulturbetriebes. Doch wie diese umzusetzen sind, ist bisher unklar und führt schnell zu Resignation oder Gesprächsversandung. Klar: Alte Hierarchien sollen zugunsten von einem solidarischen miteinander endlich über Bord geworfen werden – doch wie funktioniert das? Der folgende Beitrag baut auf Erkenntnissen vorheriger Beitragenden auf und skizziert Herausforderungen und Ansätze kollaborativer Arbeit.

Agilität durch Kollaboration

Bleiben wir zunächst im vertrauten Umfeld der theoretischen Erörterung, so fällt auf, dass die Begriffe ›Kollaboration‹ und ›Agilität‹ mit sehr unterschiedlichen Beigeschmäckern zu kämpfen haben. Obwohl sie eigentlich dieselbe Problematik von unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Beide Begriffe beschreiben eine Abwendung von tradierten Arbeitsmodellen, wobei ›Agilität‹ eher auf der strukturellen Ebene und im Managementjargon benutzt wird und ›Kollaboration‹ als eine alternative Form des Zusammenarbeitens verstanden werden kann.  Darüber hinaus stammen beide Konzepte aus der Zeit des Umbruchs von fordistischen zu postforstischen Arbeitsverhältnissen. Unter zeitgenössischen Informations- und Wissensregimen sind sie zu Imperativen immaterieller Arbeit herangenwachsen und damit für kulturelle Arbeitsfelder interessant geworden.

Während ›Agilität‹ im neoliberalen Image dabei eher im konkreten Projektmanagement auftaucht und mit Prekarisierung und Überforderung von Arbeiter*innen durch Top-Down Belehrungen verbunden wird, werden ›Kollaborationen‹ zunehmend als neue Form der solidarischen und hierarchiefreien Zusammenarbeit angepriesen. Da der Begriff  ›Kollaboration‹ von älteren Generationen vor allem im Kontext des Zweiten Weltkrieges als Zusammenarbeit mit dem Feind verstanden und nach wie vor durch den Duden entsprechend definiert ist, liegt die Vermutung nahe, dass im deutschsprachigen Kontext häufig von ›Kooperation‹ gesprochen wurde, selbst wenn kollaboratives Arbeiten gemeint war. Im englischsprachigen Raum – somit auch in der deutschen Start-up -und Kunstszene – hat sich spätestens seit den 2000er Jahren ›collaboration‹ als Mantra der projektbasierten Arbeit etabliert.

Im Kulturbereich scheint sich eine immer breiter werdende Gruppe von Akteur*innen dem Begriff der ›Kollaboration‹ unter einem allgemeinen Transformationswillen anzunähern, was jedoch vor allem zu inflationärer Schlagwortverwendung denn zu konkreter Bedeutungszuschreibung und Praxisanwendung führt. In aktuellen Debatten versprechen Kollaborationen die Flexibilität und Individualisierung von Arbeitsrealitäten auf der einen, neue Stabilität und Zusammenhalt in Kontext von unsicheren Strukturen und neoliberalen Leistungsdruck auf der anderen Seite.

Doch welche Wirkungen können in der Realität eingelöst und welcher Rahmen muss für erfolgreiche Kollaborationen geschaffen werden? Nicht überspielt werden sollte die Tatsache, dass auch kollaborative Arbeitsweisen schnell in Selbstausbeutung und Prekarisierung abrutschen können, basieren sie doch auf einem hohen Maß an Selbstorganisation und Verantwortung aller Akteur*innen.

Während strukturkritische Autor*innen wie Tara McDowell von prekären, post-beruflichen Bedingungen im Kulturbereich sprechen und damit insbesondere jüngere Generationen meinen, für die ein Vierjahresvertrag Sesshaftigkeit bedeutet, sind ein Gros der Stellen in deutschen mittelgroßen Kulturinstitutionen noch immer unbefristet besetzt.  Folglich kann die selbstbestimmte Freiheit einer kollaborativen Organisationsstruktur innerhalb eines institutionellen Transformationsprozesses  für Mitarbeiter*innen, die jahrzehntelang nach dem Top-Down-Prinzip gearbeitet haben, zu Verunsicherung führen – stützt sie sich schließlich auf dem Ansatz des lebenslangen Lernens auf und hinterfragt damit stets erlernte Expertisen zugunsten neuer Erkenntnisse und Anpassungen von rostigen Strukturen.

Das bedeutet auch, dass Mitarbeiter*innen und Führungspersonen ihre Stärken, Schwächen und Interessen kennen und kommunizieren müssen, und sich nicht mehr auf Routine verlassen können. Das mag zunächst mehr Arbeit, vor allem mehr Kommunikation, mit sich bringen, eine Transformation lässt sich jedoch nur durch aktive Umstrukturierung von Praktiken und Abläufen und nicht nur durch inhaltlich-programmatische Progression umsetzen.

Neue Erkenntnisse durch Querverbindungen

Ein schönes Beispiel aus der Praxis stellt das kollaborative Projekt »Öffne die Blackbox der Archäologie! Museum als CoLabor« von dem Museum für Archäologie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in Herne, dem LWL-Römermuseum in Haltern am See und dem Deutschen Bergbau-Museum in Bochum dar. Auf der Seite des Hauptförderers, der Kulturstiftung des Bundes, wird das Vorhaben folgendermaßen beschrieben.

»Nach einem Open Call der drei Museen wurde im Frühjahr 2021 dafür ein Beirat gegründet, der in diesem Fall nicht aus Fachleuten, sondern aus fast 100 Menschen verschiedener Hintergründe und Generationen besteht. […] Die Partner orientieren sich an Methoden des agilen Managements wie z. B. Design Thinking und arbeiten kollaborativ, prozessorientiert und co-kreativ im Sinne einer Kultur der Digitalität

Konkret hat sich hierfür eine übergreifende Projektsteuerungsgruppe der Museen gebildet, die gemeinsam mit einem Beirat aus engagierten Bürger*innen in regelmäßigen, moderierten Workshops zusammenkommt und mit Hilfe eines externen Coachings spielerisch neue Konzepte und Arbeitsweisen entwickelt. Kollaboration wird hier somit zunächst in einem Pilotprojekt mit zusätzlicher Hilfestellungen erprobt. Interne Strukturen werden nicht direkt auf den Kopf gestellt, sondern es wird gemeinsam mit dem gemischten Team aus Museumsmitarbeiter*innen und Bürger*innen überprüft, welche Methoden für die musealen Struktur im internen Team anwendbar sind und welche in experimentellen Projekten verortet bleiben sollten. Gerade das Arbeiten mit freiwillig partizipierenden Mitarbeiter*innen, die einige Stunden ihrer Arbeitszeit in kollaborative Ansätze investieren möchten und aus Interesse agieren, scheint eine sinnvolle Vorgehensweise, um Überforderung und hierarchische Festsetzung von unsicheren Angestellten zu vermeiden.

Von der Theorie in die Praxis – und zurück

Neben globalen Vernetzungsbewegungen und der akademisch-theoretischen Auseinandersetzung bedarf es zudem Transformationsprozessen auf lokaler und regionaler Ebene: Innerhalb der Institutionen sollten Arbeitsprozesse nach Interessen und Fähigkeiten anstatt nach künstlerischen Disziplinen und Hierarchien fokussiert werden. Denn Strukturen und Zuständigkeiten lassen sich immer dann am leichtesten verändern, wenn sich alle Beteiligten weiterhin mitgenommen fühlen, wenn Flexibilisierung nicht Verunsicherung bedeutet, sondern Lernprozesse in bekannte Abläufe integriert und honoriert werden.

Kollaboration kann dann als Arbeitsweise interessant sein, wenn sie gezielt eingesetzt und nicht nur als Synonym für verschiedenste Formen der Zusammenarbeit benutzt wird. Hierzu könnten etwa die von Anke von Heyl angeschnittenen »iterativen Prozesse« fruchtbar sein. In diesen werden Abläufe und Feedbackschleifen so oft wiederholt und angepasst, bis sie den intern zuvor definierten Zielvorstellungen des Teams entsprechen. Würde man Kulturorganisationen zu dieser Optimierung von Abläufen zudem eine außenstehende, vermittelnde Person langfristig zur Seite stellen, könnten Verschiebungen unaufdringlich, im alltäglichen Arbeitsablauf ohne Neustrukturierung von außen oder ständige Selbstevaluation herbeigeführt werden. Es könnte dann um die Aktualisierung von Strukturen und Beziehungen statt um die selbstoptimierende Prüfung des individuellen Leistungsvermögens der Arbeitenden gehen, wie es von kritischen Akteur*innen wie Ulrich Bröckling prognostiziert wurde. 

Wird dieses Vorhaben noch mit Zeit für die Teilnahme an regelmäßigen internen Gesprächsformaten und Workshops – etwa zu digitalen Organisationstools wie Trello oder Slack und kollaborativer Erkenntnisgenerierung – unterstützt, könnten sich veränderte Arbeitspraktiken auch nachhaltiger festsetzen, als es aktuell der Fall ist. Denn bedingt durch den Umstand, dass eine Vielzahl von Veränderungsversuchen in Projektförderstrukturen an den vorhandenen zeitlichen und finanziellen Mitteln scheitern, führen Transformationsforderungen oftmals zu Pauschallösungen und Überlastung der einzelnen Akteur*innen, statt zu einer langfristigen Verschiebung innerhalb der spezifischen Strukturen.   

Qualifizierte Coachingansätze und Modellarbeit

Ein Grundsatz von Kollaboration ist, nicht bekanntes Wissen zu reproduzieren, sondern durch Querverbindungen und assoziatives Denken neue Erkenntnisse zu generieren, die auf unterschiedlichsten Wissensformen und Fähigkeiten aufbauen. Gerade deshalb scheint es umso wichtiger, Erkenntnisse von Plattformen wie dieser zu nutzen, zu vertiefen und in der Praxis modellhaft zu erproben, anstatt sich innerhalb eines kleinen Fachkreises gegenseitig zu bestärken und dieselben großen Begriffe und Ansätze zu proklamieren. Ein Vorschlag wäre daher, eine Modellentwicklung für konkrete Transformationsarbeit an Kulturinstitutionen auszuschreiben und zu finanzieren. Ein erster Schritt wäre verschiedenen Stimmen und Ansätze in einem gemeinsamen Think Tank zusammenzuführen und diesen Austausch in einen praxisnahen Projektentwurf umzuwandeln, mit und an dem gearbeitet und praxeologisch geforscht werden kann.

Denn auch wenn Modelle und Leitfäden allein nicht ausreichen werden, könnten so dennoch vorhandene Ansätze wie infrastrukturelle Förderungen und begleitendes Mentoring auf ihre Umsetzbarkeit erprobt werden. Kollaboration und Flexibilisierung sollte somit nicht nur als Aufgabe gestellt werden, sondern in übergreifenden Arbeitsgruppen von Forschung, Kulturinstitutionen und kulturpolitischen Entscheidungsträger*innen vorgelebt werden. Schließlich könnten daraus auch qualifizierte Coachingansätze oder Fortbildungsmodelle entstehen, die zeitweise weitaus effektiver ansetzen könnten als progressive Verschriftlichungen oder sich um sich selbst kreisende Diskussionen.

Autorin

Foto: Sandra Stein

Paulina Seyfried ist freie Kunstwissenschaftlerin und Kulturarbeiterin. Sie arbeitet freiberuflich für verschiedene Kunstvereine und Künstler*innen im organisatorischen wie kuratorischen Bereich. Zudem gibt sie regelmäßig Workshops in Projektmanagement und individuellen Fördermöglichkeiten.

Sie absolvierte ihren Bachelor der Kunst- und Bildgeschichte an der Humboldt Universität zu Berlin und ihren Master an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Schnittstelle von Institutionskritik, Infrastrukturen und kollaborativen Arbeitsweisen in der Kunstwelt. 2021 hat sie das Recherche- und Arbeitsstipendium Bildende Kunst der Stadt Köln erhalten.

Cross-Innovation, Interdisziplinäre Zusammenarbeit, Ko-Kreation – eine Einladung zur Vertiefung

14. Februar 2022

Wenn sich eines im Förderprogramm LINK der Stiftung Niedersachsen abgezeichnet hat, dann ist es die wachsende Notwendigkeit von interdisziplinärer Zusammenarbeit. Digitalität lässt tradierte Kultursparten und die Trennung zwischen Fachabteilungen zunehmend verschwimmen. Eine übergreifende Zusammenarbeit in neuen Teams und der Blick über den Tellerrand werden immer wichtiger.

Begonnen haben wir 2018 indem wir jede Kultursparte einzeln in den Fokus genommen und nach aktuellen Projekten und zukünftigen Möglichkeiten der Anwendung von Künstlicher Intelligenz geschaut haben. Als Testballon luden wir gezielt Informatiker*innen und Kulturschaffende mehrerer Sparten aus Hannover ein, die teils konträren Denk- und Arbeitsweisen kennenzulernen und gemeinsam Projektideen zu entwickeln. Die so angestoßenen Prozesse der Entwicklung einer gemeinsamen Sprache, der Bereitschaft, die eigene Komfortzone zu verlassen und sich auf ungewohnte und teils unbequeme Vorgehensweisen einzulassen, legten den Grundstein für die zwei langfristig erfolgreichen künstlerischen Pilotprojekte von Philipp Henkel, Florian Kluger, Farhad Ilaghi Hosseini und Patrick Glandorf, die im Oktober 2021 (pandemiebedingt verspätet) in der Galerie Bohai unter dem Titel »AKUSTISCHE KI – ZWEI HAPPENINGS« in Hannover vorgestellt wurden. Die Ergebnisse hätten nicht fachintern und ohne die interdisziplinären Impulse von außen erreicht werden können.

Innovation durch Kunst und Technologie

Bei der Betrachtung von Kultur-, Forschungseinrichtungen und Unternehmen fällt auf, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen einer großen Mehrheit und einigen wenigen Leuchtturmprojekten wie dem europäischen Knowledge Innovation Center gibt, die ganz im Sinne von Cross-Innovation den Austausch und die interdisziplinäre Zusammenarbeit stärken. Die Erkenntnisse zum Nutzen dieser Formate sind also nicht neu, nur leider weder in Wirtschaft, Wissenschaft oder Kultur flächendeckend bekannt.

Im Perspektiv-Papier der Bundesregierung Kulturen im digitalen Wandel wird u.a. neben dem Thema Personalentwicklung für möglichst breit aufgestellte Teams auch das Thema Vernetzung durch Plattformen, Verbundstrukturen und Kompetenznetzwerke angesprochen. Das Impulspapier der DFG »Digitaler Wandel in den Wissenschaften« betont ebenfalls die Bedeutung des fachlichen und interdisziplinären Austauschs als »entscheidend für die Bewertung der Entwicklung, die Chancennutzung und die Bewältigung der Herausforderungen

Ähnliche Ziele verfolgt das europäische STARTS-Programm: »S+T+ARTS is a platform that aims to link technology and artistic practice more closely. It is implemented by European policy to promote innovations that also benefit the art world. It supports collaboration between artists, scientists, engineers and researchers to develop more creative, inclusive and sustainable technologies, and focuses on people and projects that help address the social, environmental and economic challenges with which the European continent is confronted.« Seit 2016 wurden so u.a. Künstler*innen-Stipendien in Technologie-Unternehmen und Forschungseinrichtungen finanziert und ein Austausch und eine Kollaboration ermöglicht.

Tradierte Vorgehensweise vs. Künstlerische Experimente

Das Denken und Arbeiten in Netzwerken und Teams ist also keine Modeerscheinung, sondern die erprobte Grundlage kreativen Schaffens, die die Entwicklung von Innovationen fördert. Es gibt eklatante Unterschiede zwischen naturwissenschaftlichen Lösungsfindungsprozessen im weitesten Sinne einerseits, die auf Wissen und Erfahrung basieren und eine logische Kombination feststehender Zutaten umfassen, und kreativen Schaffensprozessen andererseits, die durch Impulse von Außen angestoßen werden und häufig eine Abwendung oder zumindest eine Neuordnung von bisherigen Vorgehensweisen beinhalten. Künstlerische Forschung beispielsweise versucht alle Elemente des Prozesses zu hinterfragen und neue Lösungswege z.B. durch Experimente herbeizuführen.

In kreativen Branchen und in manchen Start-ups finden wir Beispiele für diese kreativen Schaffensprozesse: Hier werden durch ein ergebnisoffenes, experimentelles Vorgehen agile Strukturen etabliert: Zentral dafür ist ein freier strukturierter Arbeitsprozess, der auf branchenfremde Expert*innen und disziplinenübergreifende Kommunikation zurückgreift und Scheitern erlaubt.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch die amerikanische Psychologin Alison Gopnik: Sie untersuchte 2016 kreative Lösungsfindungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. In ihrer Testreihe zeigte sich deutlich, dass Kinder eine Vielzahl von kreativen Lösungswegen versuchten, während Erwachsene sich auf pragmatische, einfache Lösungen konzentrierten. Gopnik schlussfolgert, dass wachsendes Vorwissen und sicherlich auch der emotionale Erwartungsdruck, schnell zu einer guten Lösung zu kommen, Erwachsene in ihrer Kreativität massiv einschränkt. Ohne Vorwissen und in einer stressfreien Umgebung könnten auch Erwachsene wieder lernen kreativ zu sein.

Über die eigene Branche hinaus

Jede Branche hat ihre gedanklichen Grundpfeiler. Strukturen, Umstände, Erwartungen, an denen einfach nicht gerüttelt wird. Branchenfremde haben den Vorteil, dass sie in diesem Sinne nicht vorgeprägt sind und scheinbar irrationale Vorschläge äußern können, die zu großartigen Ergebnissen führen können. Ihr Mangel an Fachwissen wird hier ein Bonus: Sie können scheinbar naive Fragen stellen und damit Prozesse kritisch beleuchten.

Ein frischer Blick ohne die berufsbedingten Scheuklappen ist für nahezu alle Aufgabenbereiche wertvoll. Um diese Entwicklungspotentiale auszuschöpfen, muss die Kommunikation mit Akteur*innen benachbarter Sparten und Branchen strukturiert angegangen werden: Es braucht die Bereitschaft, Fragen und Herausforderungen mit branchenfremden Personen zu teilen und dabei die eigene, fachliche Überlegenheit abzulegen. Darüber hinaus müssen Unternehmensvorstände, Kulturträger*innen und Förder*innen Experimente und deren Evaluierung ermöglichen – auch ein Scheitern ist eine produktive Erfahrung und birgt wertvolles Wissen, das systematisch analysiert und festgehalten werden soll. Ähnlich wie in der Natur die Biodiversität ein hohes Gut darstellt, benötigen Teams eine heterogene Zusammensetzung – was nicht bedeutet, dass die Zusammenarbeit immer harmonisch und konfliktfrei abläuft.

Wie lässt sich nun die Dynamik heterogener Teams nutzen?

  1. Durch die Begegnung auf Augenhöhe trotz fachlicher Unterschiede.
  2. Durch die Bereitschaft in die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache und ein Teambuilding zu investieren.
  3. Durch die Bereitschaft, die eigene Komfortzone zu verlassen.
  4. Durch die Überzeugung, Spannungen im Team als Chance nutzen zu können.
  5. Indem der gemeinsame Rahmen (mögliche Ziele, Zeitumfang, Form der Zusammenarbeit, …) festgelegt wird.

Kreative Kollaborationen

Eine Vielzahl von Kreativitätstechniken orientiert sich an  künstlerischen Denk- und Arbeitsweisen von Künstler*innen um gezielt Emotionen, scheinbar spontane und willkürliche Impulse sowie Ideen zu fördern. Und es ist kein Zufall, dass diese Techniken immer populärer werden: Das Denken in tradierten Strukturen und die Orientierung an Vorwissen kann den riesigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr gerecht werden. Da wir im Kulturbereich ähnlich wie Wissenschaft und Wirtschaft auch abhängig von einer Weiterentwicklung unserer Inhalte, Strukturen, Zielgruppen sind, ist es an der Zeit, unsere Stärken zu kombinieren und einen intensiven und offenen Austausch als Basis für interdisziplinäre Kooperationen zu beginnen.

Die Erforschung und Anwendung von Künstlicher Intelligenz (in der Kultur) zielt nicht primär auf den Ersatz von menschlichen Künstler*innen durch Technik, sondern fokussiert die Kollaboration als vielfältiges Werkzeug. Es geht um den LINK zwischen Mensch und Maschine, die Verbindung zwischen unterschiedlichen Kultursparten und scheinbar gegensätzlichen Branchen. Das Ziel ist die Bündelung von Netzwerkpotenzialen und dem gemeinsamen Lernen voneinander. Denn: Die Zukunft gehört nicht den Starken oder Mutigen – sondern den Kommunikativen.

Autorin

Foto: Katrin Ribbe

Dr. Tabea Golgath ist Referentin für Museen und Kunst und koordiniert seit 2018 das Förderprogramm LINK – KI und Kultur der Stiftung Niedersachsen. Sie promovierte zu nachhaltigen Vermittlungsmethoden in Geschichtsmuseen und führte seit 2007 kontinuierlich Lehraufträge am Historischen Seminar und dem Zentrum für Lehrerbildung der Leibniz Universität Hannover und am Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Universität Basel durch. Sie engagiert sich für die Erschließung von KI-Anwendungen in der Kultur und die zukunfts- und nutzerorientierte Weiterentwicklung von Kultureinrichtungen durch Interdisziplinarität, Agilität und Digitalität.