Die Pandemie hat Gesellschaft und auch das Selbstverständnis von Kultur verändert! Die Krise hat Schwachstellen offengelegt und damit zugleich Zukunftsfragen zur gesellschaftlichen Transformation aufgeworfen. Die Krise hat unter anderem verdeutlicht, dass
Teilbereiche der Kultur unterfinanziert sind,
öffentlich geförderte Kultur aufgrund der Erwirtschaftung von Teilnahmegeldern und Projektmitteln in Krisenzeiten auf Rettungsschirme angewiesen ist,
kulturelle Bereiche in Krisenzeiten nur eingeschränkt in der Lage gewesen sind, Zielgruppen zu erreichen aufgrund fehlender digitaler Formate und
es an sozialer Absicherung für Künstler*innen fehlt
Gießkannenprinzip und Ökonomisierung fordern ihren Tribut …
Prekäre Verhältnisse sind möglicherweise ein Symptom für fehlenden kulturpolitischen Gestaltungswillen. Sehr sinnbildlich zeigte sich dies in Berlin, wo 2.000 Sonderstipendien für Künstler*innen in der Krise einfach verlost wurden. Hier offenbart sich die Achilles-Ferse der letzten Jahrzehnte Kulturpolitik: Dem stetigen Wachstum an kultureller Vielfalt wurde kein Mut entgegengesetzt, Rahmenförderkriterien entgegenzuzustellen. Stattdessen dominiert das Gießkannenprinzip.
Die Ökonomisierung der öffentlich geförderten Kultur und Bildung, wie die zunehmende Mischfinanzierung öffentlich geförderter Bereiche, hat gleichfalls ihren Tribut gefordert. Die Übernahme wirtschaftlicher Erfolgskriterien, wie die Quote oder Besucherzahlen, haben zu einem vermehrten Rückgriff der öffentlich Geförderten auf publikumsnachgefragte Angebote, die auch auf dem kulturwirtschaftlichen Markt angeboten werden, geführt und so Konkurrenzen geschaffen, die zugleich die Kulturwirtschaft schwächen. Fehlende finanzielle Spielräume und künstlerische Experimentierräume führen vielfach auch zu vermehrten prekären und zeitlich befristeten Arbeitsverhältnissen und auch dazu, dass Zukunftsaufgaben wie der digitale Wandel noch nicht adäquat umgesetzt wurden.
Notwendige Konkretisierung der Ziele und Aufgaben öffentlicher Kulturförderung …
Wie können die Aufgaben von öffentlich geförderter und privatwirtschaftlicher Kultur klar abgegrenzt werden? Hier gibt es Grundprinzipien wie Wahrung des Kulturerbes, Freiraum für künstlerische Weiterentwicklung oder kulturelle Teilhabe sowie in der Vergangenheit immer wieder Versuche der Abgrenzung wie E- und U-Kultur, die sich jedoch als wenig hilfreich erwiesen haben.
Ein Kriterium ist dabei auch die Frage: Was kann am Markt nicht bestehen? Ein Förderbedarf besteht beispielsweise, wenn die Strukturen, um spezifische Genres zu produzieren, wirtschaftlich nicht tragbar sind, ein anderer, wenn ein künstlerischer Beitrag nicht durch Publikumsinteresse getragen wird.
Darüber hinaus bedarf es jedoch weiterer Eingrenzungen. So wächst das kulturelle Erbe stetig. Eine nicht zu unterschätzende Herausforderung liegt darin, Kulturgeschichte zu bewahren und gleichzeitig dem kommenden kulturellen Erbe Raum zu geben.
Umgekehrt bringt kulturelle Vielfalt die Herausforderung mit, sich über konkrete Kriterien der Avantgarde zu verständigen. Hier bedarf es den Mut, diese sichtbar zu machen.
Dann gibt es noch das Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe. Eine Begründung aus Bürger*innenperspektive abzuleiten, ist ebenfalls schwierig: Wie viel Kultur braucht der Bürger, die Bürgerin? Und natürlich welche? Geht es bei kultureller Teilhabe stärker um Bildung, also die Vermittlung von Kunst jenseits des Mainstreams? Oder soll jede/r die Kultur bekommen, die sie/er möchte? Diese schwierigen Fragen stellen sich auch bei der Umsetzung des Rundfunkstaatsvertrags bezogen auf den Auftrag der Grundversorgung. Dass Kulturpolitik in der Vergangenheit einer konkreten Festlegung von Inhalt und Umfang öffentlicher Kulturförderung eher ausgewichen ist, liegt nicht zuletzt auch in der vielleicht nicht unberechtigten Angst begründet, wieder einen Kulturkanon zu manifestieren.
Wie könnte eine gestalterische Kulturpolitik 2.0 aussehen?
Anschaulich durchdekliniert werden kann dies am Beispiel der Forderung nach einer kommunalen Pflichtaufgabe Kultur, die in der Vergangenheit immer wieder gestellt wurde und aktuell in der Krise wieder an Fahrt aufnimmt. Mit der Verankerung von Kultur als Pflichtaufgabe ist nur ein kleiner erster Schritt getan. Stabilisierend kann diese Verankerung erst sein, wenn sie auch einen Bezugsrahmen erhält: Was bedeutet kulturelle Grundversorgung? Dabei eröffnen sich viele gestalterische Fragen: Wäre es im Sinne der kulturellen Daseinsvorsorge denkbar, den Zugang zum Museum kostenfrei für Bürger*innen einer Stadt zu ermöglichen, ähnlich, wie dies mittlerweile einige Städte für den ÖPNV praktizieren? Und dabei Eintritt nur von Zugereisten wie Touristen verlangen? Sollen kulturelle Bildungseinrichtungen, statt Dienstleistungsangebote wie der Instrumentalunterricht, nur noch gemeinwohlorientierte Angebote entwickeln? Beispielsweise die Integration der Musikschularbeit flächendeckend in Form von Modellen wie Klassenmusizieren in der Schule oder Musikinstrumentenkarussell in der Kita?
Und warum nicht auch Mut für neue Wege bei der inhaltlichen Ausgestaltung aufbringen, beispielsweise prozentual gleichberechtigt die Perspektiven lokal, global, kulturelles Erbe und künstlerische Innovation in der Förderung abbilden?
All dies sind Fragen, die es gilt, mit einer gestalterischen Kulturpolitik zu beantworten und vielleicht müssen diese Fragen in einem dynamischen Prozess angesichts des gesellschaftlichen Wandels in Zeitabständen immer wieder neu gestellt und beantwortet werden, um eine Agenda zur Transformation unter dem Motto »fordern« und »fördern« für eine gestalterische und nachhaltige Kulturpolitik zu ermöglichen!
Autorin
Prof. Dr. Susanne Keuchel, Remscheid
Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW, Präsidentin des Deutschen Kulturrats
In letzter Zeit schlafe ich schlecht. Ich will auch nie schlafen gehen. Es ist stressig, sich zu entspannen, die Gedanken rasen auf der Suche nach einer möglichen Ordnung, ich gehe alle Szenarien durch, verwerfe sie wieder. Wenn ich in endlich in Schlaf falle, träume ich von der Arbeit. Die Kulturlandschaft in einer Kälteschlafkapsel. Entschlossene bis verzweifelte Gesichter flimmern auf Bildschirmen.
Kannst du uns hören?
Wir können dich hören, aber nicht sehen.
Wir können dich sehen, aber nicht hören.
Es rauscht in allen Leitungen. Es ist so verdächtig still hier.
Ich wache auf, und alles ist wahr. Wir befinden uns in einer Warteschleife. Wir haben viele Namen: Ein-Personen-Unternehmen, Ich-AG, Soloselbstständige. Dass der Ausnahmezustand der Pandemie bereits vorhandene Missstände und Ungleichheiten vertieft und sichtbarer macht, wurde schon gesagt, und es wird immer wieder gesagt werden müssen. Ich erinnere mich an die Zahl, die ich im Dezember 2019 als geschätztes Jahreseinkommen 2020 in das Onlineformular der Künstlersozialkasse eingetragen habe. Bücher sind Lebensmittel, hieß es im März 2020, die Berliner Buchhandlungen durften offenbleiben. Im Juni ging ein Bild durch die Medien: das größte Opernhaus in Barcelona, auf der Bühne ein Streichquartett. Das Eröffnungskonzert vor vollen Rängen, 2.200 besetzte Plätze, – aber nicht mit Menschen – das Publikum besteht aus Pflanzen. Das grüne Publikum im Kontrast zum roten Plüsch und Gold. Die Schlussverbeugung der Musiker*innen vor den Pflanzen.
Nicht einfach zurück zum Alten
Im Dezember 2020 sagt Jagoda Marinić: »Auch in der Kultur können wir nicht einfach zurück zum Alten. Der Kulturbetrieb wird sich einer Selbstüberprüfung stellen müssen, statt über die eigene Relevanz zu predigen.« Das Publikum ist nicht verschwunden, aber es gibt keinen analogen Raum, in dem Künstler*in und Publikum einander begegnen dürfen.
Der Bereich, den ich am besten kenne, ist der der Literatur: Wenn wir uns die Kriterien für Literaturförderungen ansehen, waren diese schon vor der Krise schwierig genug. Um überhaupt die Möglichkeit zu haben, diese in Anspruch nehmen zu können, sollten alle Schreibenden weitgehend ungebunden, flexibel, frei von sozialen Verantwortungen und Verpflichtungen sein, dabei selbstverständlich reisefreudig, stets in der Lage, Hauptwohnsitz und gegebenenfalls Brotjob für ein Aufenthaltsstipendium in XYZ aufzugeben oder on hold zu stellen. Am besten sind Schreibende also jung, flexibel, ungebunden. Gut vernetzt unter unseresgleichen, aber dabei gern allein. Wir kommen selbstverständlich mit wenig Mitteln zurecht, wir brauchen nicht viel (alles für die Kunst!) oder haben ein Netzwerk (Angehörige, Partner*innen, etc.), das uns wirtschaftlich am Leben hält. Und auch wenn wir nicht nur in Krisenzeiten und überhaupt sehr überschaubare staatliche Unterstützung bekommen, werden wir bei jeder Zuwendung gern pejorativ als Staatskünstler*innen bezeichnet. Wir müssen hochproduktiv sein, auch wenn wir und die Allgemeinheit in einer pandemischen Krise stecken. Gleichzeitig sind wir persönlich verantwortlich dafür, local business zu retten, auf unsere Gesundheit zu achten und uns um unsere Nächsten oder Familien zu kümmern sowie Sorgearbeit zu leisten. Und das Wichtigste: Wir sind weiß, cis, hetero, abled, männlich. Oder? Es muss sein, denn kaum jemand ist sichtbarer als Menschen, die unter diesem Label laufen.
Im Frühling 2020 fand das Bachmannpreis-Wettlesen erstmals online statt. Ein wichtiges Echo auf diese Veranstaltung findet sich in der Aussage der Autorin und Bachmannpreis-Gewinnerin Helga Schubert, dass sie sich freue, dass der Wettbewerb in diesem Jahr im Netz stattgefunden habe und sie nicht nach Klagenfurt reisen musste, weil sie ihren bettlägerigen Mann pflegt. Eine 80-jährige Autorin, die aus jedem Literaturbetriebsklischee herausfällt und diesen Wettbewerb unter den üblichen strukturellen Bedingungen (der analogen Anwesenheitspflicht) nicht gewinnen hätte können, weil ihr schon die Teilnahme unmöglich gewesen wäre. Ein im Kulturbetrieb lang vernachlässigtes Thema wird hier zur Sprache gebracht: die durch die bestehenden Strukturen erzeugte Unvereinbarkeit von Sorgearbeit und künstlerischer Arbeit.
Wird die Zeit der Pandemie ein Umdenken schaffen, was Sorgearbeit leistende Menschen angeht? Wird es ein inkludierendes Umdenken geben, was Literaturveranstaltungen und Aufenthaltsstipendien angeht? Darf sich das Bild der Schreibenden vielfältiger zeigen, weg vom abgehobenen Geniekult? Wird uns endlich ein wunderbar profanes Privatleben zugestanden, das Sorgearbeit einschließt? Und wird dieser Tatsache auch entsprechend Raum gegeben und Respekt gezollt werden?
Nein, wir sind nicht alle weiß, cis, hetero, abled, männlich. Wir sind auch alles Andere, alles Mögliche. Wir fordern Sichtbarkeit und eine längst überfällige gesellschaftliche Wertschätzung. Schreiben ist Arbeit. Literatur ist Arbeit. Sorgearbeit ist Arbeit. Wir sind keine Genies, wir leben nicht in Elfenbeintürmen, wir sind Kulturarbeitende. Viele von uns können ihren Lebensunterhalt nicht allein durch die Kunst bestreiten, dennoch ist die Produktion von Literatur und Kunst keine Liebhaberei und muss dementsprechend fair und transparent vergütet werden. Aber, einmal mehr, bevor wir uns überhaupt an die Arbeit machen können: Welchen Produktionsbedingungen sind wir unterworfen?
Der komplexe Sachverhalt, der hinter dem in der Ausschreibung festgemachten Elternschaft-Kriterium steckt, wurde in der Auswahl außer Acht gelassen. Denn was bedeutet Elternschaft? Dass ein Teil seine künstlerische Produktion einschränken muss, also quantitative Arbeitszeit verliert, um den Sorgepflichten nachkommen zu können. Sollte es nun tatsächlich so sein, dass die Anträge der männlichen Bewerber qualitativ hochwertiger waren, könnte dieser Umstand damit zusammenhängen, dass die Aufgaben der Sorgearbeit nach wie vor überproportional von Frauen übernommen werden? Machen Männer qualitativ bessere Kunst als Frauen? Oder haben sie einfach mehr Zeit? Ist diese vemeintlich mangelnde Qualität vielleicht ein temporärer Einbruch in Produktion und Output? Und sollte ein Stipendium nicht vielmehr diesen Missstand fördern statt Geni und Exzellenz zu bemühen? Einmal mehr fallen wir rückwärts durch die Jahrhunderte. Es rauscht in den Leitungen.
Wir können euch hören, aber nicht sehen.
Wir können euch sehen, aber nicht hören.
Die Arbeits- und Produktionsbedingungen sind oftmals eine Hürde, die es zu überwinden gilt. Und dann? Aus welchem Material sind die Auswahlkriterien gemacht? Was wird für repräsentationswürdig befunden und dementsprechend repräsentiert? Welche Arbeiten schaffen es durch die offensichtlich von struktureller Ungleichheit bestimmten Auswahlfilter? Und welche Künstler*innenbilder werden dadurch als relevant in die Welt und damit an ein Publikum gebracht? Unter welchen Bedingungen werden Preise vergeben: Sind sie ›Belohnung‹ oder sollten sie nicht viel eher als Fördermöglichkeit im Hinblick auf ein zukünftiges Schaffen eingesetzt werden?
Die Kulturpolitik kann an der Besetzung von Entscheidungspositionen ansetzen, die Zusammensetzung von Jurys ebenso überdenken wie die Fragestellungen hinter den Auswahlprozessen und deren notwendige Transparenz. Künstlerische Exzellenz ist ein Kriterium, dass sich unhinterfragt durch künstlerische Biografien zieht: An die staatliche Kunst- oder Musikhochschule kommt, wer exzellent ist. Meisterschüler*innen werden die, die noch exzellenter sind. Literaturpreis, Schreibkurs, Stipendium? Bitte nur bei herausragender Leistung. Und an dieser Stelle treffen wir uns wieder bei der Frage: Wer beurteilt diese Leistungen? Und nach welchen Kriterien und Filtern?
Wahrscheinlich existieren wir gar nicht. Wie denn auch? Wir haben nicht alle dasselbe Leben, wir sind nicht alle gleich, wir haben unterschiedliche Bildungsgrade, Berufe, Lebenspositionen et cetera. Wir können nicht davon ausgehen, dass unsere Lebenswirklichkeit für alle gilt, für ein Wir. Wo beginnt Sichtbarkeit, Präsenz und Präsentation? Hier klaffen entsetzliche Leerstellen. Aber geht es nicht gerade in der Kunst- und Kulturarbeit um das Abbilden und Vermitteln von vielschichtigen Lebenswirklichkeiten und unterschiedlichen Erfahrungshorizonten? Und nicht nur in der Theorie, sondern in einer vielstimmigen Praxis. Was nur möglich ist, wenn wir die Räume und unsere Perspektiven öffnen, uns von Zuschreibungen und Klischees trennen. Vielfalt nicht im Sinne eines Exot*innenstatus, sondern aus der Notwendigkeit und der Erkenntnis heraus, dass wir die Unvollständigkeit begriffen haben, mit der wir die Welt künstlerisch erzählen.
The Artist is einsam
Schreiben ist Arbeit, eine oftmals einsame Arbeit. Es wird keine einfachen Lösungen geben. Es braucht die Eigeninitiative, das Aufstehen und ein vielstimmiges, solidarisches Lautwerden von Künstler*innen, um die Strukturen, Produktionsbedingungen und Bilder zu verändern. Auch wenn jede*r von uns für sich allein künstlerisch arbeitet, verbindet uns im besten Fall das Begehren nach Gerechtigkeit, nach einer Kulturlandschaft, die alte Selbstverständlichkeiten verwirft und in ihrer Vielschichtigkeit überraschende gemeinsame Räume schafft.
In einer Diskussionsrunde auf die Frage hin, mit welchen Erkenntnissen oder Begriffen ich das krisengeschüttelte Jahr 2020 rahmen würde, höre ich mich spontan antworten: »Eigenverantwortung und Solidarität«. Es wird gesagt, der Text ist klüger als die Autorin, aber oft scheint der Text hinauszulaufen, hinter den Fragen her, ohne ein Ende zu finden. Die Lösung beginnt in der Suchbewegung, im unermüdlichen Stellen von unbequemen Fragen, die Ungleichheiten sichtbar machen und endlich auch Veränderung herbeiführen können.
Autorin
Sandra Gugić
*1976. Studium an d. Univ. für Angewandte Kunst Wien und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Debütroman »Astronauten«, C.H.Beck, 2015. Lyrikdebüt »Protokolle der Gegenwart«, Verlagshaus Berlin, 2019. Mitbegründerin des Autor*innenkollektivs »Writing with Care / Writing with Rage«. »Zorn und Stille«, Roman, Hoffmann und Campe, 2020. www.sandragugic.com
Als es noch möglich war, sah ich den Darsteller*innen in Kay Voges’ »Don’t be evil« dabei zu, wie sie sich in der Volksbühne mal so richtig übers Internet auskotzten und dabei eine Reihe männlicher Medientheoretiker zitierten. »Das ist eine schlechte Parodie darauf, wie man sich in den 10er-Jahren Digitalität vorgestellt hat«, resümierte meine Begleiterin.
Ein Jahr später sitze ich verzweifelt in einem Anfänger*innen-Kurs für die Programmiersprache Python. Ich weiß nicht, was das sein soll: ein Datentyp, eine Variable oder eine Schleife. Ich brauche eine Stunde, um meinen Namen zu schreiben. Beide Erfahrungen sind eng verknüpft – und sie sagen etwas darüber aus, mit welchen Vorannahmen wir uns dem sogenannten Digitalen nähern.
Mythos Big Tech
Dass ich Berührungsängste vor Coding habe, liegt auch an den Mythen rund um digitale Technologien. Die ehemalige Google-Mitarbeiterin Meredith Whittaker kämpft für die Demystifizierung von Big Tech. Dazu zählt Whittaker den Mythos vom (zumeist männlichen) Genie. Oder magische Formeln, die normale Menschen (und besonders Frauen) niemals begreifen können. Oder sogar eigenständige Entitäten, die menschliche Arbeitskraft überflüssig machen.
Zur digitalen Mythenbildung passt, dass sich auch Kulturarbeiter*innen von digitalen Technologien allzu oft Rettung oder Untergang erhoffen. Und während sie in der semantischen Unschärfe zwischen AI, Algorithmus und Robotics versacken, produzieren sie staatlich gefördert eine Vielzahl sehr unterschiedlicher digitaler Produkte auf der Skala von »Kolonialwarenladen als digitales Erlebnis« bis zu einem von »tief lernende[n] Algorithmen und Künstliche[r] Intelligenz (KI) generierte[n] Tanzstück«.
Dabei ist die Lernkurve in Sachen Tech-Mythen überraschend steil. So weiß ich schon nach ein paar Wochen Python-Kurs, dass Code != Algorithmus ist. Ich weiß, dass die Künstliche Intelligenz in Wahrheit ziemlich dumm ist und extrem viele Ressourcen braucht, um am Ende gefährliche sexistische und rassistische Muster zu reproduzieren.Und ich weiß, dass wir uns gegen die privatwirtschaftliche Vereinnahmung von Informationen stemmen1 und miteinander solidarisieren müssen.
Irgendwas mit Digitalität
Vielleicht sollte Monika Grütters auch mal einen Python-Kurs besuchen. Die Kulturstaatsministerin steht der Digitalität jedenfalls hoffnungslos emotional gegenüber. Im letzten Jahr warnte sie beim Digital-Gipfel der Bundesregierung vor der »Allgegenwart der Algorithmen« und der daraus folgenden »Verrohung des öffentlichen Diskurses«. Einen ganz anderen Tonfall schlug sie Anfang Dezember in einer Pressemitteilung an, in der sie forderte, »jetzt künstlerische und künstliche Intelligenz zusammenzudenken«. Von Kultur und Medien erwarte sie »wichtige Impulse für die Debatte über Chancen und Grenzen dieser so vielversprechenden Technologie.«
Um diese Pläne in die Tat umzusetzen, sind in Grütters’ Haushaltsplan für 2021 weniger als 20 Millionen Euro für »Aufträge und Dienstleistungen im Bereich Informationstechnik« eingeplant. Gemeint ist hiermit die Digitalisierung im engeren Sinne, also die Verfügbarmachung der Bestände in den Museen und Archiven, und die digitale Struktur (WLAN, Software) in den Einrichtungen.
Für »Digitalpolitik und Strategische IT-Steuerung« sind zusätzlich zwei Millionen Euro vorgesehen. Dass damit eine durchschlagende strategische Positionierung möglich ist, ist zweifelhaft.2 Ein eigener Posten für eine kritische Auseinandersetzung mit Datenökonomie fehlt. Insgesamt machen die im Bereich Digitalisierung ausgewiesenen Mittel nur rund einen Prozent des Kulturetats aus. Zum Vergleich: Das Humboldt-Forum im Berliner Schloss kostet Stand heute 677 Millionen Euro.
Informationsarbeiter*innen of the world
»Künstlerische und künstliche Intelligenz« sind schon lange in eins gefallen und haben dabei die Arbeitsbedingungen von Kulturarbeiter*innen umfassend verändert. Ein Beispiel: Der Streaming-Dienst Spotify zahlt offenbar nur 0,00318 US-Dollar pro Stream – Tendenz sinkend. Und während Musiker*innen gerade angesichts der Corona-Krise mehr Geld fordern, hat der Konzern angekündigt, dass die Personen, die einen Großteil seiner Inhalte generieren, sich Reichweite erkaufen können, indem sie einer geringeren Tantieme zustimmen. Parallel dazu hat Spotify ein Patent für ein Programm eingereicht, das Musik-Plagiate aufdecken soll – zum großen Unmut von Musiker*innen, die fürchten, dass künftig nur große Firmen in der Lage sein werden, copyrightkornforme Musik auf den Markt zu bringen.
Konzepte für diese Zusammenhänge liefert McKenzie Wark in ihrem Buch »Capital Is Dead. Is This Something Worse?«3. Darin argumentiert sie, dass die Mächtigsten nicht mehr die Produktionsmittel besitzen, sondern die Macht über die Informationen haben. Etwa die Kontrolle über den Warenstrom, das Eigentumsrecht über einen Code oder das Copyright einer mächtigen Marke. Den Profit macht diese neue »vectoralist class« aber streng genommen nicht qua ihrer Informationskontrolle, sondern, weil sie die Arbeitskraft des »Info-Proletariats« ausbeutet. Auf den Kulturbetrieb gemünzt sind das die Musiker*innen, die für ihre Plattenfirmen geistiges Eigentum produzieren, die Programmierer*innen die den Recommendation-Code schreiben4 und all diejenigen, die auf Twitter ihre Spotify-Bestenlisten posten. Doch bis zu einem gemeinsamen Klassenbewusstsein von Musiker*innen, Programmierer*innen und Twitter-Nutzer*innen ist es noch ein weiter Weg.
Kulturpolitik olé, Kulturpolitik adé
Fairerweise wäre es ziemlich unangebracht von Monika Grütters den digitalen Umsturz zu erwarten. Aber die Kulturpolitik könnte Rahmenbedingungen schaffen, die die Emanzipation der Kulturarbeiter*innen befördern. So könnten z. B. Instagram, Facebook und Co in die VG-Wort und -Bild einzahlen, so dass alle Nutzer*innen an dem durch ihre Posts erwirtschafteten Gewinn beteiligt werden. Ein Ministerium für Informationsarbeit könnte (mitsamt einer Zusammenführung der bisher getrennten Ausschüsse für Kultur und Medien / Digitale Agenda) via Bundesförderung in den öffentlichen und privaten Informationssektor hineinwirken. Denkbar wäre auch ein umfassendes Weiterbildungsangebot im Rahmen der Corona-Hilfen – Python-Kurse für alle!
Zugegebenermaßen: Revolutionen finden nicht in Behörden statt. Der digitale Klassenkampf bedarf einer gemeinsamen Anstrengung – es reicht nicht, wenn wir zwar alle coden lernen, aber nicht die kollektive Macht über die von uns produzierten Informationen haben.5 Das Info-Proletariat kann sich nur vereinigen, wenn es unwahrscheinliche Allianzen bildet.6 Umso tragischer ist es, wenn sich eine Autorin, deren Bücher zu 20% auf Amazon verkauft werden, sich nicht solidarisiert mit der Gig Workerin, die ihre Bücher im Amazon-Warencenter verpackt – zumal diese, wie in Heike Geißler es in ihrem Roman »Saisonarbeit« vormacht, sehr wohl dieselbe Person sein können. Info-Proletarier*innen of the world, unite!
2 Vgl. die Bedarfe, die im Bericht des Wissenschaftsrats zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz genannt werden. Von den Beständen der Staatlichen Museen zu Berlin waren Mitte 2019 nur 4 % digital zugänglich. Einige der Museen verfügen nicht über WLAN. 2019 waren – auch „ohne Berücksichtigung größerer, zukünftiger Veränderungen im Rahmen der Digitalen Transformation“ – rund 4 Mio. Euro der Kosten für das IT-Rahmenkonzept der SPK unterfinanziert.
3 McKenzie Wark (2019), Capital Is Dead. Is This Something Worse? London / New York: Verso Books
4 Der Ruf der kreativen Selbstverwirklichung, der früher “the young, particularly young women, a feeling of going places” im Kreativbereich gab, tönt inzwischen analog aus Richtung Tech. “Women into Tech” ist somit die Kurzformel für ein neues Allheilmittel. Dabei sind die Arbeitsbedingungen von Coder*innen und Programmierer*innen nicht unbedingt geil, was z. B. ausgebeutete Gamer*innen unter Beweis stellen und die vielen Berichte über sexuelle Belästigung und Rassismus in der Tech-Industrie (vgl. Anna Wiener [2020], Code kaputt: Macht und Dekadenz im Silicon Valley. New York: MCD Books / Farrar, Straus & Giroux .) Zur Geschichte von Arbeitskämpfen in der Tech-Industrie siehe auch Marie Hicks in The Verge.
5 Beispiele für auf die Besitzverhältnisse abzielende Projekte an der Schnittstelle von Kunst und digitalem Aktivismus sind “Collectivize Facebook” von Jonas Staal und Jan Fermon, sowie “Google will eat itself” des schweizerisch-österreichisch-amerikanischen Medienkunstduos Ubermorgen.
ist Autorin und Journalistin. Mit Lynn Takeo Musiol arbeitet sie an einem queeren Klimaroman. Über Literatur und Medien, Gender und Politik schreibt sie regelmäßig für die taz, den Tagesspiegel und das Missy Magazine. Sie arbeitet im Bundestag im Bereich Kulturpolitik.
Der kulturpolitische Diskurs beschäftigt sich nicht erst seit der Corona-Krise mit den vielfältigen strukturellen Defiziten des Kulturbereichs. Eigentlich befinden wir uns schon seit Jahrzehnten in einem wiederkehrenden Dialog über die Transformationsdefizite des Sektors und einer fehlenden Anpassung kultureller Infrastrukturen an den immer schnelleren gesellschaftlichen Wandel. Insbesondere öffentlich geförderte Kulturorganisationen müssen sich den Vorwurf der Veränderungsunfähigkeit gefallen lassen, da wichtige Zukunftstrends – wie etwa die Digitalität, Diversität oder Nachhaltigkeit – angesichts bestehender Pfadabhängigkeiten alltäglicher Steuerungs-, Arbeits- sowie Produktionsroutinen nur unzureichend aufgegriffen werden. Es existieren eine Reihe institutioneller Blockaden, die oftmals ungewollt die Transformationsfähigkeit von Kultureinrichtungen reduzieren.
Ein wesentlicher Faktor für die vorherrschende strukturkonservative Ausrichtung sind die Mechanismen der öffentlichen Förderung durch Bund, Länder und Gemeinden, die wenig Anreize für eine Weiterentwicklung setzen, sondern den vorherrschenden Status quo zementieren. Der größte Teil der Förderung geht dauerhaft an bestimmte Kulturinstitutionen mit den darin verinnerlichten Spartenlogiken. Angesichts dieses in der Regel einigermaßen sicheren Finanzrahmens besteht innerhalb der Systeme keine Pflicht zur Legitimation gegenüber fördermittelgebender Instanzen und damit auch kein Anpassungsdruck. Die dauerhafte Förderung steigert vielmehr die Selbstbezüglichkeit und blockiert eine stärkere Reflexion externer Bedürfnisse im Sinne einer Professionalisierung des künstlerischen Produktionskontexts.
Dieser Aspekt wird dadurch verstärkt, dass sich die öffentliche Förderung durch den Aspekt der künstlerischen Autonomie selbst legitimiert. Eine direkte Beeinflussung der strukturellen Ausrichtungen von Kulturorganisationen durch externe Stakeholder wie Kommunen, Land oder Bund wird häufig kritisiert und die Freiheit zur Selbstgestaltung hochgehalten. Dieses Ideal kultureller Produktionen als Selbstzweck eröffnet dem Kulturbereich in der Selbstwahrnehmung erst den Raum für eine kritische Reflexion gesellschaftlicher Wirklichkeiten. Allerdings blockiert dieser Anspruch nicht selten eine fundierte Auseinandersetzung mit den sich verändernden gesellschaftlichen Legitimations- oder Relevanzkriterien. Sicherlich ist die hier gemeinte künstlerische Freiheit ein hohes Gut und absolut schützenswert. In ihrer derzeitigen Ausgestaltung wird sie als Totschlagargument ins Feld geführt und verhindert die dringend notwendige Debatte über Veränderungsprozesse im Kulturbereich. Auch der Kulturbetrieb ist geprägt von weißen Menschen aus der Mittelschicht, die tendenziell hohe Bildungsabschlüsse haben. Wenn im Kulturbetrieb also künstlerische Freiheit gefordert wird, sollte mindestens ebenso kritisch zurückgefragt werden, wessen Freiheit hier eigentlich gemeint ist.
Zur Fundierung des Diskurses braucht es eine gedankliche Trennung zwischen strukturellen und programmatischen Eingriffen kulturpolitischer Entscheidungsträger*innen. Externe Vorgaben und Unterstützungsleistungen für eine Neuausrichtung des Produktionskontexts sind mittlerweile notwendig, um zeitgemäße sowie relevante Produktionen zu stärken. Dadurch lässt sich auch das Handlungsfeld der Kulturpolitik professionalisieren, das sich – auch aufgrund der nicht akzeptierten Einflussnahme – zu einer Art Kulturförderpolitik entwickelt hat. Kulturorganisationen basieren oftmals auf einer akademischen Produktionslogik, sind nicht selten extrem hierarchisch ausdifferenziert und verinnerlichen dadurch eine starke Machtzentrierung auf wenige Funktionsträger. Diese althergebrachten Strukturen der Ablauforganisation stehen aufgrund ihrer Tradition zwar für Stabilität, allerdings sorgen sie auch für Trägheit bei der Neuausrichtung. In diesem Zusammenhang wirken auch die Verflechtungen und Pfadabhängigkeiten zwischen den unterschiedlichen Träger-, Verwaltungs- und Politikebenen als Barrieren für Veränderungen. Nicht selten werden etwa Digitalisierungsvorhaben durch bürokratische Vorgaben blockiert oder verhindert. Mahnende Beispiele sind die vielen kommunalen Kultureinrichtungen, die nur aufgrund ihrer Einbindung in die hierarchische Ordnungsstruktur der Verwaltung keine eigene Webseite und auch keine Social-Media-Kanäle betreiben dürfen.
Die hier gemeinten Verflechtungen und Pfadabhängigkeiten führen auch dazu, dass es im Kulturbereich an querschnitts- und damit ressortübergreifenden Prozessen mangelt, die Synergien durch vernetztes Denken und kollaboratives Arbeiten ermöglichen würden. Gerade der Aspekt der Kollaboration ist eine entscheidende Voraussetzung für mögliche Veränderungen im Kulturbereich, da in derartig organisierten Arbeitskontexten unterschiedliche Expertisen – auch außerhalb der Organisation – in den Produktionsprozess integriert werden und in der Regel auch Personen beteiligt werden, deren Ansprüche, Denkweisen oder Fähigkeiten in der Kulturarbeit noch zu wenig repräsentiert sind. Aus diesem Grund braucht es gerade heute eine starke Kulturpolitik, die neue Leitbilder, Vorgaben, Forderungen und Förderungen erarbeitet oder bereitstellt, mit denen Kulturorganisationen dazu gebracht werden können, die eigene Arbeit stärker zu überprüfen und neu auszurichten. Es bedarf veränderter Unterstützungsleistungen, wie Coachings, Beratungs- und Weiterbildungs- bzw. Kompetenzentwicklungsangebote für neues Arbeit oder Innovationen für Kulturschaffende und -institutionen. Im Kulturbereich gibt es indes – nach Abschluss der Berufsausbildung – aufgrund fehlender Budgets und Infrastrukturen kaum Möglichkeiten zur weiteren Qualifizierung für das eigene Wirkungsfeld. Es mangelt schlicht an einer Kultur der Weiterbildung und gezielten Kompetenzentwicklung.
Die Kulturpolitik versucht derzeit den Wandel im Feld der Kultur durch projektbasierte Innovations- oder Transformationsförderungen zu erreichen, die allerdings nur äußerst selten eine dauerhafte und damit nachhaltige strukturelle Anpassung des Kultursystems möglich machen – in der Regel nur dann, wenn in der Führung und bei den Beschäftigten ein Wille zur Veränderung sowie eine Akzeptanz damit verbundener Anpassungen der Strukturen vorhanden sind. Ernsthafte und langfristige Veränderungen müssen in Abstimmung zwischen den fördermittelgebenden Instanzen und den Organisationen erfolgen und auf Dauerhaftigkeit entsprechend gemeinsam entwickelter Zielstellungen ausgerichtet sein. Diese Prozesse der Abstimmung, Verhandlung und Koordination struktureller Anpassungen müssen mitsamt damit verbundener Methoden oder Strategien von den beteiligten Akteurinnen noch gelernt werden. Passend dazu braucht es – verstärkt durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie – einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs über Zukunftsfragen in Kunst und Kultur.
Angesichts der Vielzahl an Verflechtungen, Pfadabhängigkeiten und Bürokratien stellt sich durchaus die Frage, wie sich der Kulturbereich dauerhaft entsprechend des gesellschaftlichen Wandels weiterentwickeln kann. Die tiefgreifende Auseinandersetzung mit dieser Herausforderung wird in den kommenden Jahren einer der zentralen Schwerpunkte der kulturpolitischen Forschungsarbeit des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, das sich auf diese Weise stärker als Think Tank für die Transformation des Kulturbereichs positionieren und eine dringend notwendige Debatte über die Zukunfts- beziehungsweise Innovationsfähigkeit des Kulturbereichs führen möchte.
Autor
Dr. Henning Mohr, Bochum
Leiter des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V.
I. Krise und Kritik Die Pandemie hat das kulturelle Leben in vielen Ländern rund um den Globus hart getroffen. Die beiden Lockdowns haben den öffentlichen Kulturbetrieb fast vollständig zum Erliegen gebracht. Die allgemeine Verunsicherung hat Projektplanungen weitgehend verunmöglicht. Das ist alles bekannt. Aber warum hat es vor allem die freien Kulturschaffenden so viel härter erwischt als andere Branchen? Aufgrund welcher strukturellen Schwäche sind wir selbst hier in Deutschland in so gewaltige Schwierigkeiten geraten? Eine kulturelle Lobbyvereinigung nach der anderen meldet sich derzeit zu Wort. Fordert Hilfen und Sonderregelungen für Öffnung und Weiterbetrieb. Die Vorsitzenden von Bühnenverein, Orchestervereinigungen, Museumsverbänden etc. werden dabei nicht müde, den ökonomischen und kulturellen Wert sowie die normative gesellschaftliche Bedeutung ihrer Institutionen zu betonen. Aber werden solche Stimmen auch für die freischaffenden Künstlerinnen und Künstler laut, deren Einkommensquellen nicht selten vollständig weggebrochen sind? In der Logik der individuellen künstlerischen Produktivität steckt ein Dilemma, das jetzt besonders dramatisch zu Tage tritt: Gerade diejenigen, die ihr Leben der künstlerischen Innovation verschrieben haben, können – trotz gewaltiger Hilfspakete – auf keine Strukturen und keine Sicherheiten vertrauen, die sie in dieser kritischen Zeit verlässlich schützen. Und das nicht zuletzt, weil die sogenannte »Grundsicherung« Hartz IV mehr Fluch als Segen bedeutet.
II. Kritik und Gerechtigkeit Bedauerlicherweise hat die aktuelle Förderpraxis gezeigt, dass gerade die kleineren, beweglichen und innovativen Organisationsformen durch das Förderraster fallen und gut gemeinte Hilfspakete entweder nicht ausreichen oder erst gar nicht ihre Zielgruppen erreichen. In Berlin lief es beispielsweise so, dass knapp 2.000 Künstler*innen aus rund 8.000 Bewerbungen das Glück hatten, für ein »Sonderstipendium« – ja tatsächlich – ausgelost zu werden. Und während Fördermittel für ein winterliches Freiraumprogramm unter dem Titel »Draussenstadt« zwar an die Kulturverwaltungen der Bezirke und auch über den Rat für die Künste vergeben worden sind, wurde der öffentliche Teil der bereitgestellten Gelder, die über die Berliner Kulturprojekte ausgeschrieben worden sind, nach Ablauf der Einreichungsfrist auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Pech hatten auch Freischaffende, die ihre Rechnungen 2019 ausgerechnet im Oktober und nicht im November überwiesen bekommen haben, weil sie damit keine Vergleichsgrundlage für die Beantragung der »Novemberhilfe« im Jahr 2020 hatten. Und diejenigen, die sich entschieden haben, aus der Selbständigkeit eine juristische Person wie zum Beispiel ein kleines Kulturunternehmen mit offiziell gemeldeten und sozialversicherten Angestellten zu schaffen, gehen ebenfalls leer aus, wenn sie weniger als zwei vollbeschäftigte Mitarbeiterinnen in den letzten drei Jahren nachweisen können. Ganz zu schweigen davon, dass weitere Förderprogramme eine offiziell nachgewiesene Gemeinnützigkeit voraussetzen – auch wenn selbst eine Plattform wie die »Kulturveranstaltungen des Bundes« aus guten Gründen als GmbH organisiert ist, ohne unter Verdacht zu stehen, ein profitorientiertes Privatunternehmen zu sein. Ziel staatlichen Handelns ist Gerechtigkeit. Die Kriterien der kulturpolitischen Maßnahmen auch in Notzeiten müssen nachprüfbar und gerecht sein. Was zeigen diese Beispiele? Anscheinend sind die politischen Entscheidungsträger*innen und Verwaltungsmitarbeiterinnen so wenig mit den Arbeits- und Produktionsbedingungen von Kunst- und Kulturschaffenden vertraut, dass diese Defizite im Vorfeld nicht gesehen worden sind. Es drängt sich der Eindruck auf, dass gerade an den entscheidenden Stellen erstens ein strukturkonservatives Verständnis von Kultur leitend ist, welches sich auf traditionelle Institutionen wie Museen, Theater und Konzerthäuser konzentriert, und dass sich zweitens auch der Kreis von Gesprächspartner*innen und Berater*innen von Politik und Verwaltung primär aus dem Umfeld der großen Häuser und ihrer Lobby-Verbände zusammensetzt. Es scheint hier also einen fatalen Schulterschluss von im Selbstverständnis »starken und mächtigen« Akteur*innen zu geben, deren Zusammenarbeit eben jene konservativen Strukturen zementiert, die von innovationsorientierten Künstlerinnen, Kurator*innen und Kulturschaffenden seit inzwischen fast 50 Jahren ganz bewusst in Frage gestellt und mit alternativen Organisationsformen konfrontiert werden. Und so verwundert es denn auch nicht, dass Solidarität seitens der großen Organisationen sowohl gegenüber den von ihnen abhängigen freien Künstlerinnen als auch gegenüber den sie kritisierenden kleineren Innovatoren bislang weitgehend ausbleibt. Der aktuelle Kampf um Anerkennung und Mittelverteilung führt damit zu einer Verschärfung der Auseinandersetzungen, die innerhalb des kulturellen Feldes bereits seit vielen Jahren geführt werden, und die nun aufgrund der Corona-Krise und der gegebenen Förderpraktiken vor allem zu Lasten der Freien Szene gehen. Da tröstet es denn auch wenig, dass große Tanker wie die Stiftung Preußischer Kulturbesitz nun endlich wegen strukturbedingter Ineffizienz umgebaut werden sollen. Dass das notwendig ist, haben diejenigen schon lange gefordert, die kleinere und beweglichere Strukturen befürworten. Nur hat man nicht auf sie gehört…
III. Gerechtigkeit und Strukturen Weniger als über die Frage, ob die Hilfen, die derzeit für freischaffende Künstler*innen und Soloselbstständige ausgeschüttet werden, ausreichend sind, sollten wir also darüber nachdenken, was die aktuelle Situation strukturell bedeutet und welche Folgen die Corona-Krise für die kulturelle Vielfalt unseres Landes haben wird. Die Freie Szene ist immer schon vielstimmig, heterogen und als solche ein fragiles Gebilde, schwer zu organisieren. Zu befürchten ist, dass diese feingliedrigen und vielfältigen Strukturen der künstlerischen Produktion vielerorts wegbrechen – und zwar schlicht deswegen, weil die konkreten Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen, die künstlerisch tätig sind, dies in Zukunft nicht mehr erlauben. Strukturen künstlerischer Produktion in der unabhängigen Freien Szene beruhen auf der individuellen Lebensentscheidung und -einrichtung der künstlerischen Persönlichkeit. Sie leben von der Findigkeit der Akteurinnen, die einen Raum betreiben, ein Projekt planen oder eine Gruppe gründen. Ebenso heterogen wie ihre künstlerischen Profilierungen sind auch die jeweiligen Wege, wie sie sich finanzieren. Weil die meisten Kunst- und Kulturschaffenden sich über Projektanträge finanzieren, sind sie abhängig von den Strukturen, die dies ermöglichen. Fallen sie beziehungsweise die Möglichkeiten der künstlerischen Produktion weg, gerät sofort das persönliche Finanzierungsmodell in Gefahr. Anstatt an die freischaffend Tätigen zu appellieren, etwas »Reelles« zu machen – Lehrerin zu werden, eine Ausbildung zum Krankenpfleger zu machen oder als Designerinnen in die Spiele-Industrie zu wechseln, wie es gerade von der Regierung in Großbritannien forciert wird –, wäre jetzt zu überlegen, wie man die Finanzierungsbedingungen für Freischaffende besser gestaltet.
IV. Thesen für Krisen von Morgen
Genau jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um Ideen dafür zu entwickeln, wie das kulturelle Leben in Zukunft widerstandsfähiger gegenüber Krisensituationen zu machen ist. Denn die kritischen Punkte treten gerade jetzt so deutlich wie selten zuvor in Erscheinung.
Es ist bekannt, dass die etablierten Kulturinstitutionen strukturelle Probleme haben – Theater, die an neofeudalistischen Führungsstrukturen leiden, Museen, die mit überkomplexen Organigrammen kämpfen. Anstatt mit Geld konservative Strukturen zu zementieren, sollten Hilfs-Gelder jetzt dafür eingesetzt werden, um einerseits Beweglichkeit und innovative Strukturen zu fördern, andererseits kleine Initiativen zu stabilisieren.
Es wäre zu simpel, einfach mehr Finanzhilfen zu fordern oder die Bedingungen bei der Grundsicherung exklusiv für Künstler*innen außer Kraft zu setzen. Was fehlt, sind neue, innovative Förderinstrumente für Künstlerinnen und Freischaffende. Lösungen, die darauf abzielen, das Leben von Kulturschaffenden längerfristig abzusichern. Wieso nicht das System der Stipendien weiterentwickeln zu einer auskömmlichen Grundsicherung für die Bestreitung der Lebenshaltungskosten? Oder eine Lösung schaffen, die sich an der französischen Arbeitslosenversicherung für Zeitarbeiter im Kulturbereich (»Intermittent du spectacle«) orientiert? Es verschafft den Akteur*innen persönliche Planungssicherheit in einem volatilen Umfeld.
Die Kulturpolitik der 1970er Jahre hat das Elitäre eines konservativen Kulturbegriffs erledigt und sehr wirkungsvoll zur Soziokultur, Kulturellen Bildung und Partizipation erweitert. Dieses Unternehmen ist noch nicht zu Ende! Es gilt, die Kultur noch stärker in die Gesellschaft hinein zu öffnen und deren Vielfalt zu reflektieren. Kulturpolitik muss sich zu Cultural Governance weiterentwickeln, indem sie die partizipativen Elemente stärkt und Entscheidungsprozesse inklusiv gestaltet. Ziel zukunftsfähiger Kulturpolitik muss sein, nicht nur Ermöglichende für die vielfältigen Produktionsformen zu werden, die heute die Freien Szenen ausmachen, sondern auch das kulturelle Produktionssystem viel stärker in seinen wechselseitigen Bezügen, Abhängigkeiten und Wechselwirkungen zu verstehen und Förderstrukturen dahingehend neu auszurichten. Es muss systematisch Platz gemacht werden für künstlerische Forschung, spartenübergreifende Ansätze und die Freiheit, künstlerische Prozesse ergebnissoffen anzugehen. Damit einher geht eine Perspektive für Kulturentwicklung über mehrere Jahre – statt aktionistischem Trouble-Shooting.
In eigener Sache
Das 2019 gegründete »Institute for Cultural Governance« hat ein Forschungsprojekt begonnen: In einer Reihe von Interviews mit Akteur*innen des kulturellen Feldes sollen die Praktiken der aktuellen Kulturpolitik in Bezug auf Kommunikationsprozesse durchleuchtet werden. Wie partizipativ ist runsere Kulturpolitik? Wer spricht mit, wenn es darum geht, Gelder zu verteilen? Wie sollten heterogene Akteur*innen in einer vielfältigen Kunst- und Kulturlandschaft in kulturpolitische Steuerungsprozesse integriert werden? Wie kann eine zeitgemäße »Cultural Governance« aussehen? Obwohl noch ganz am Anfang der Recherchen, lässt sich schon jetzt sagen: Förderungen kultureller Praxis orientieren sich derzeit stark an Projekten und kulturpolitischen Zielstellungen, die abhängig von Personen und parteipolitisch motivierten Agenden sind. Um Kulturpolitik nachhaltig und resilient zu gestalten, wäre es hingegen nötig, sie stärker an den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Künstlerinnen und Künstler und der freischaffend Tätigen auszurichten.
Autor*innen
Wibke Behrens, Sven Sappelt, Janet Merkel und Henrik Adler führen gemeinsam das Institute for Cultural Governance, ein unabhängiges Denklabor für Kulturpolitik, in Berlin. https://institute-for-cultural-governance.org/
Wenn in einer Beziehung einer der beiden Partner zutiefst gekränkt »mehr Wertschätzung« vom anderen verlangt, dann sollten die Alarmglocken läuten. Zum einen, weil es nie ein gutes Zeichen für eine Partnerschaft ist, wenn sich (mindestens) eine Seite nicht wertgeschätzt fühlt. Zusätzlichen Grund zur Sorge gibt zudem, dass die einseitige Forderung nach Wertschätzung so wenig aussichtsreich ist. Wertschätzung auf Befehl, das ist eine geradezu paradoxe Forderung: Schließlich möchte ich von meinem Partner, meiner Partnerin ja gerade nicht zähneknirschend, schuldbewusst oder halbherzig auf Verlangen geschätzt werden, sondern unbedingt, unaufgefordert und aus innerster Überzeugung. Wenn es soweit ist, dass Wertschätzung eingefordert werden muss, dann ist es höchste Zeit für die Paarberatung.
So gesehen gehören (öffentlich geförderte) Kulturakteur:innen und (Kultur-)Politik, ja womöglich der Kulturbetrieb und die Gesellschaft im Ganzen gemeinsam auf die Couch. Da ist einerseits die Kulturseite, die sich gekränkt und unverstanden fühlt, als »Freizeit« und »Unterhaltung« herabgewürdigt empfindet und unter zornigen Tränen mehr Wertschätzung als bedeutsamer Faktor im Gemeinwesen verlangt. Und auf der anderen Seite stehen politische Entscheider:innen (in ihrer Funktion als Vertretung dieses Gemeinwesens), die gestresst versprechen, beim nächsten Lockdown aber ganz bestimmt »die Kultur« als eigene Sphäre zu benennen, und ansonsten bitte in Ruhe gelassen werden möchten: Es ist so viel los gerade und so wenig Zeit…
Und da die Kulturcommunity weiß, dass sie spätestens übermorgen sehr dringend auf weiteren Zugang zum Geldbeutel der Politik angewiesen sein wird, nörgelt sie noch gerade so viel weiter, dass das schlechte Gewissen der Regierenden befördert wird – aber auch nicht mehr, damit sich die Politik bitte nicht völlig abwenden möge aus der gemeinsamen Beziehung. Geklärt ist nichts, und die in die Jahre gekommene kriselnde Partnerschaft wird aus einer Mischung aus alter Gewohnheit, Abhängigkeit und Ideenlosigkeit möglicher Alternativen betreffend fortgeführt.
Es ist Zeit, alte Muster zu durchbrechen
Es ist höchste Zeit, dieses traurige und vor allem unproduktive Muster zu durchbrechen. Dazu wäre es nötig, nicht nur – fraglos berechtigte – Kritik an der mindestens bedenklich unbedachten wenn nicht erschreckend ahnungslosen Kommunikation des zweiten Lockdowns zu üben, sondern auch sich selbst bzw. das eigene Selbstbild kritisch zu befragen. Wie in wohl jeder Beziehung ist der Blick in den Spiegel vielversprechender als eine ultimative Forderung an das Gegenüber (»mehr Wertschätzung«). Doch zumindest die Lautstärkeren der Interessenvertreter:innen der geförderten Kultur sehen bei einem solchen Blick in den Spiegel anscheinend wenig Anlass zur kritischen Reflexion der eigenen Praxis. Sie forderten in ihren ersten Statements vor allem eins: die uneingeschränkte Wertschätzung der eigenen Relevanz, gern zugespitzt auf den Begriff der »Systemrelevanz«.
Oft waren es dieselben Personen, die der Politik Denk- und Sprachversagen vorwarfen, weil sie Kultur als »Freizeitprogramm« degradiere, die mit der »Systemrelevanz« selbst einen Begriff im Mund führten, der in vielerlei Hinsicht fragwürdig ist. Im öffentlichen Diskurs ist der Begriff der »Systemrelevanz« zunächst untrennbar verknüpft mit der Finanzkrise ab 2007. Damals bezog er sich auf strauchelnde Banken, die eigentlich pleite waren, jedoch staatlich gerettet werden sollten, weil ihr Untergang das Finanzsystem selbst mit in den Abgrund hätte reißen können. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die gleichen Sprecher:innen der öffentlichen Kultur, die sich vehement beklagten, mit vermeintlichen Niederungen der Lebenswelt wie Fitnessstudios und Bordellen in einen Topf geworfen zu werden, sich in unmittelbarer rhetorischer Nachbarschaft zu taumelnden Großbanken recht wohl zu fühlen scheinen.
Relevant – für wen?
Was uns direkt zu der Frage der »Relevanz« führt – die ja immer eine Zuschreibung ist, keine Tatsache, sondern eine beobachter:innenabhängige Bewertung: Nichts ist an und für sich relevant, Relevanz gibt es immer nur für etwas oder für jemand. Doch für wen genau ist »die Kultur« relevant? Und wie zeigt sich diese Relevanz? Wie etwa Birgit Mandel in ihrem Essay in dieser Reihe betont, ist es eine deutliche Minderheit der Gesellschaft, für die die Relevanz von öffentlich geförderten Kulturangeboten so groß ist, dass sie dafür – vor Corona – freiwillig und regelmäßig die eigenen vier Wände verlassen hätte. Doch solchen Zahlen zum Trotz pocht die geförderte Kultur auf ihre Bedeutung, die sich nicht nach ihrer konkreten Nutzung durch einzelne Personen – seien es viel oder wenig – bemesse: Ihre Relevanz ziele schließlich auf das große Ganze, eben auf das »System«.
Es soll ausdrücklich nicht bestritten werden, dass eine demokratische, freiheitliche, schlicht eine lebenswerte Gesellschaft ohne freie Kunst und Kultur nicht vorstellbar ist – und dies durchaus unabhängig von der konkreten Zahl ihrer aktiven Nutzer:innen. Aber das heißt noch lange nicht, dass es klug ist, seine eigene gesellschaftliche Rolle in der rhetorischen Figur der »Systemrelevanz« zu definieren, die die große Gefahr birgt, sich zu einer affirmativen Forderung nach Systemerhalt zu verdichten. Und um die kann und darf es doch ausgerechnet dem gesellschaftlichen Feld, dessen Funktion man gemeinhin unter anderem mit Reflexion, Kritik, ja auch potentiell der Subversion verbunden hätte, gerade nicht gehen.
Fragen stellen – auch an sich selbst
Gerade Kunst und Kultur haben die besondere Fähigkeit, die Fragen der Zeit auf zeitgemäße Art zu stellen und auch der Zeit voraus zu sein bzw. ihr voraus zu denken, zu fantasieren, zu spielen. Gerade auch dafür brauchen wir sie, gerade auch dafür dürfen wir Künstlerinnen und Künstler in dieser Krise nicht allein lassen, gerade auch dafür müssen wir die Vielfalt unserer kulturellen Institutionen verteidigen. Doch es ist höchste Zeit, dass wir die Fragen, die Kunst und Kultur der Gesellschaft stellen kann, auch auf die Kulturinstitutionen selbst beziehen und uns selbst den Fragen stellen – mit mehr Offenheit für schmerzhafte Antworten und mehr Bereitschaft zu konkreten Veränderungen als in der Vergangenheit.
So ist denn immerhin eine Facette der Entlehnung des Begriffs der Systemrelevanz aus der Finanzkrise durchaus stimmig: Von Systemrelevanz spricht man erst, wenn alles auf dem Spiel steht. Und in den nächsten Monaten und Jahren wird nicht nur für die Kultur, sondern für unser gesamtes Konzept von Gesellschaft tatsächlich viel auf dem Spiel stehen. Die Corona-Pandemie ist dabei aber eher ein beschleunigender, als ein allein bestimmender Faktor: Herausforderungen wie der menschgemachte Klimawandel, die digitale Transformation und die Krise der Demokratie und gesellschaftlicher Teilhabe werfen fundamental die Frage auf, wie wir gesellschaftliches Zusammenleben lokal, national und global so gestalten können, dass lebenswerte Zukunftsperspektiven erhalten bleiben.
Und in all diesen Bereichen waren es in den letzten Jahren nicht unbedingt die Kulturinstitutionen, die mit Blick auf ihre eigene Praxis hier von besonderer Neugierde, Erfindungsreichtum und Wagemut bzw. von dorther gebildeter Relevanz geprägt waren. Zudem wird zunehmend deutlich, dass die Dissonanz, ja der häufig bestehende diametrale Widerspruch zwischen den auf den Vorderbühnen propagierten Werten und der tatsächlichen eigenen Praxis auf den Hinterbühnen von vielen Kulturschaffenden nicht mehr länger hingenommen werden und auch hier zusätzlicher Veränderungsdruck entsteht, der auf mehr Stimmigkeit in den Kulturorganisationen abzielt, die heute von einem »practice what you preach« noch zu oft weit entfernt sind.
Neue Relevanz braucht neue Ansätze
An der Schwelle zu etwas Neuem machen sich notwendig Sorgen, Ängste, Verunsicherung breit – die alten Handlungsmuster funktionieren bereits spürbar nicht mehr, neue sind noch nicht oder nur in Teilen gefunden. Genau das ist eine basale Definition von »Krise«: Krise ist, wenn unsere etablierten, routinierten, vermeintlichen »normalen« Verhaltensweisen nicht mehr tragen.
Ich würde mir wünschen, eine wirklich selbstkritische Debatte der Kultur und der Kulturinstitutionen über ihre eigene Bedeutung und Rolle für eine Gesellschaft in Transformation zu hören, die ebenso lautstark ist, wie die Forderungen an die Politik. Ich würde mir wünschen, dass Kultur ihre Relevanz nicht nur reflexhaft behauptet, sondern dass diese Relevanz eine Erfahrung möglichst vieler und vielfältiger Menschen in ihrem konkreten Alltag ist. Ich würde mir zudem wünschen, dass Kulturorganisationen ihre eigene Organisationskultur überdenken und nach Wegen suchen, mehr Stimmigkeit zwischen Werten und Praxis zu erreichen. Ich würde mir auch wünschen, dass Kulturakteur:innen und politische Verantwortungsträger:innen tatsächlich gemeinsam »auf die Couch« gehen, sich neu und anders zuhören, die reflexhaften rhetorischen Formeln hinter sich lassen und in einen echten Dialog treten. Wie in jeder Beziehungskrise würden davon beide Seiten profitieren. Und beide Seiten brauchen es, so dringlich wie seit Jahrzehnten nicht.
Das sind doch wieder nur Forderungen an Dritte, denken Sie jetzt? Was ich selbst tue, fragen Sie mich? Als Hochschullehrer muss ich mir tatsächlich ebenso fundamentale Fragen stellen: Bilden wir die nächste Generation richtig aus für die Herausforderungen, die vor uns liegen? Welches Wissen, welche Kompetenzen, welche Haltungen braucht es? Wie lehrt und lernt man angemessen in Zeiten dramatischer Transformation? Auch Hochschulen sind dringend gefordert, sich kritisch von der Gesellschaft befragen zu lassen und sich selbst kritisch zu befragen. Sehen wir uns vor dem Spiegel?
Autor
Martin Zierold
Professor für Organisationstheorie und Change Management am Institut für Kultur und Medienmanagement (KMM) Hamburg
Corona ist zum Code für Beschränkung, Verzicht und Existenzängste geworden. Ersteres betrifft die Gesellschaft als Ganzes, letzteres die Menschen vor allem in Gastronomie, Tourismus und ganz besonders Kultur, die vom Florieren der jeweiligen Sparte abhängen. Corona als Chance zu sehen, scheint deshalb geradezu provokativ.
Deshalb haben wir uns in diesem Jahr des kulturellen Lockdowns angewöhnt, mit dem Brustton der Überzeugung und möglichst unüberhörbar das Hohelied der Solidarität und der Systemrelevanz von Kultur zu singen. Die Ohren einer ohnehin kulturaffinen Teilöffentlichkeit und die vieler Sonntagsredner*innen haben wir damit erreicht, der Kultur einen Platz außerhalb des Feuilletons auf den vorderen Seiten erobert und etliche Überbrückungshilfen mobilisiert. Aber wenn wir den Blick ein bisschen weiter nach vorn richten, über die Zeit der Pandemie hinaus, sind wir mit dieser Haltung gerade dabei, die Chance auf einen wirklichen Neustart zu verspielen.
Zu einem solchen Neustart gehört erst einmal die Bereitschaft zu einer Bestandsaufnahme, die nicht von tradierter Selbsteinschätzung geprägt ist, sondern die schlichte aber zentrale Feststellung der Kulturpolitischen Gesellschaft ernst nimmt, dass Kulturpolitik kein Selbstzweck ist, sondern Gesellschaftspolitik. Kultur und ihre politische Gestaltung sind, so schwer das Eingeständnis auch fallen mag, nicht eo ipso relevant, zumindest nicht ohne eine Begründung, die sich nicht aus sich selbst speist, sondern aus den Erwartungen der Gesellschaft und ihren Funktionen für sie.
Dabei trifft der Zuordnung von Kultur zum Bereich der Freizeitgestaltung ins Mark des Selbstverständnisses. Was haben wir nicht schon alles an Argumenten zusammengetragen, wie wichtig Kultur ist für die Bildung, für die humane Sinnlichkeit, für Innovation, Individualität und kollektives Bewusstsein. Welcher Hohn es ist, die Öffnung von Kultureinrichtungen mit der von Bordellen auf eine Stufe zu stellen. Diese Argumente sind richtig. Umfragen zeigen jedoch, dass dieses Bewusstsein der Kulturakteure nicht dem des Publikums entspricht: Empirische Erkenntnisse zu Kulturnutzung in Deutschland belegen, dass über 60 Prozent von einem Kulturbesuch vor allem gute Unterhaltung erwarten, viele das gemeinsame Unternehmen mit Freund*innen und Partner*innen schätzen oder schlicht eine angenehme Atmosphäre. Die Neugier auf neue Kunstformen und ästhetischen Genuss nennt gerade einmal ein Drittel als Motiv. Institut für Kulturpolitik, Universität Hildesheim) Kultur als Freizeitevent dominiert offensichtlich über Schillers Vermutung, das Theater – oder überhaupt die Kultur – könne als „moralische Anstalt“ wirksam sein. Kultur fungiert deshalb weit affirmativer, als es ihrem Selbstbild entspricht.
Vielleicht ist es gerade deshalb so schwierig, die Bedeutung von Kultur auf gleicher Zuschuss-Augenhöhe mit der Lufthansa oder der Automobil-Branche zu positionieren. Kultur wird durch ihre Akteure geprägt, Kunst trägt ihren Wert in sich, Kulturpolitik aber verantwortet die Verbindung von Kultur und Gesellschaft und ist somit auf Akzeptanz und Wertschätzung angewiesen. Und die muss sie sich durch eine Bedeutung verdienen, die über sie selbst hinausreicht. Deshalb haben wir derzeit auch keine Krise der Künstler*innen (trotz der Verschärfung ihrer ökonomischen Situation) und keine Krise der Kunst (die durch die Krise nichts von ihrem Wert verloren hat); wir haben eine Krise der Kulturpolitik. Damit findet sich Kultur mitten in einem umfassenden Transformationsprozess, dessen Ausgang unklar ist. Das Krisenszenario, das diese Transformation begleitet und beschleunigt, beschränkt sich nicht auf eine Epidemie. Dazu gehören ebenso die Finanzkrise, eine Krise der liberalen Demokratie, eine Krise der Ökologie, der globalen Gerechtigkeit und manches mehr. Es wird zu den wichtigen Herausforderungen künftiger Kulturpolitik gehören, Kultur und Kunst mit Ökologie, Demokratie und Gerechtigkeit in Beziehung zu setzen, ohne die Eigenständigkeit dieser Bereiche und damit auch die Freiheit der Kunst zu gefährden.
Die Krise der Kulturpolitik wird durch fünf Faktoren spürbar intensiviert und im Spotlight sichtbar:
Die ökonomische Lage der Künstler war schon immer prekär, wurde aber als selbstverständlich hingenommen – von den Künstler*innen wie vom Publikum. Spitzwegs Bild vom „armen Poeten“ hat das im öffentlichen Bewusstsein verankert. Wer eine Berufskarriere als Künstler*in einschlägt, weiß das, auch wenn er von der Hoffnung getragen wird, dereinst zu den glücklichen Ausnahmen zu zählen. So konnten die meisten mit kultureller Profession nie relevante Rücklagen aufbauen und müssen jetzt um ihre gesamte (künstlerische) Existenz fürchten. Sie schaffen es damit aber zumindest erstmals, als wirtschaftliche Subjekte wahrgenommen zu werden. Diese Einsicht muss, soll sie nicht vergeblich sein, zur Basis einer neuen Bewertung von Kultur und der Struktur kulturpolitischen Handelns werden. Das Bewusstsein, dass künstlerische Arbeit existenzsichernd sein soll, hat – aus der Kulturwirtschaft kommend – bereits Ansätze zu einer Neuorientierung gezeigt. Eine Stabilisierung der Arbeit von Künstler*innen und Kultur-Selbständigen muss aber weiter reichen: Eine Neuordnung der Künstlersozialversicherung, die Anerkennung von Entgelt für künstlerische Arbeit („Art but Fair“), eine Verdienstausfallversicherung ähnlich dem Kurzarbeitergeld sind mögliche Ansätze einer notwendigen Restrukturierung. Die Diskussion über die Relation von Freizeitkunst, künstlerischer Freiheit und Existenzsicherung hat freilich gerade erst begonnen. Die Krise bietet die Chance, sie zielorientiert und intensiver zu führen.
Im staatlichen, kommunalen und privaten Bereich hat sich eine lebendige Vielfalt von Kultureinrichtungen etabliert, die wesentlich zur Vielfalt des Kulturangebots beiträgt. Jede dieser Einrichtungen fordert Immunität für ihre Existenz und beklagt den institutionellen Verlust als Verlust von Kultur. Dabei geht es hier um nicht weniger als um eine kulturinhärente Form von Nachhaltigkeit. Diese gebietet in der Forstwirtschaft (um das Beispiel aus den Anfängen dieses Begriffs zu nehmen) nicht, keine Bäume zu fällen. Sie verlangt im Gegenteil, den Baumbestand so zu managen, dass der Bestand des Waldes generationenübergreifend gesichert wird. Ein Projekt auslaufen zu lassen, eine Einrichtung zu schließen, die ihre Funktion für die Gesellschaft nicht mehr überzeugend (andere überzeugend!) begründen kann, und dafür andere Einrichtungen oder Projekte verstärkt zu fördern oder neu aufzusetzen ist ein Gebot von Nachhaltigkeit und damit Zukunftsfähigkeit. Die Begründung für diesen Umbau setzt auf die Wertschätzung und damit Akzeptanz, die Kultur und ihre konkreten Erscheinungsformen in der Gesellschaft hat. Sie verlangt von der Kulturpolitik somit, diesen Wert zu identifizieren, zu kommunizieren und zur Diskussion zu stellen.
Die – ebenfalls durch die Krise beschleunigte – Digitalisierung von Kommunikation, Kunst und Politik erweitert den kulturellen Content ebenso wie sie die Interaktion von Kulturpolitik und Öffentlichkeit erleichtert und mobilisiert. Sie hat auch Auswirkungen auf den ökologischen Fußabdruck, den wir hinterlassen. Zudem ermöglicht die barrierearme Einbindung von Kultur in Politik und Gesellschaft eine Partizipation an kulturpolitischen Themen, die weit über das traditionelle Kulturpublikum hinausreicht. Konflikte als Kernbestand von Politik bekommen so kulturell ein neues Podium. Sie ist eine Chance für eine aktivere demokratische Öffentlichkeit.
Vor dieser Chance scheuen viele Kulturakteure und Kulturpolitiker*innen zurück, weil sie angesichts einer kulturellen Aktivbürgerschaft von kaum 10 Prozent einen Bedeutungsrückgang von Kultur in der Unsicherheit einer volatilen Finanzierung befürchten. Die Suche nach Sicherheit treibt deshalb immer wieder zu der Forderung, Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern. Diese Forderung unterliegt allerdings dem Irrtum zu glauben, eine Kodifizierung ändere etwas an der Realität. Kultur ist bereits jetzt in fast allen Länderverfassungen als Staatsziel definiert – ohne sich deshalb gegen die Dominanz des Verwaltungsrechts durchsetzen zu können, die Pflichtaufgaben einen Vorrang vor „freiwilligen Leistungen“ wie Kultur zuspricht, selbst wenn diese Verfassungsrang besitzen.
Die andere Fluchtbewegung aus der Unsicherheit heraus ist das Bestreben, Kultur unter das Dach der Bildung als Pflichtaufgabe zu schieben. Sie erweist sich als problematisch, weil jedes Gesetz, das Pflichtaufgaben beschreibt, diese auch an Kriterien bindet und somit der Kultur genau die Freiheit raubt, die ihr verfassungsgestütztes Selbstbewusstsein ausmacht. Auch Spartengesetze unterliegen derselben juristischen Mechanik und führen nicht weiter. Sinnvoller ist eine Neugewichtung der Kulturellen Bildung, die mit der Ausweitung von Ganztagsschulen ohnehin bereits ein erweitertes Aktionsfeld gefunden hat. Bildung ist eine Bedingung von Kultur, Kultur erschöpft sich aber nicht in Bildung. Deshalb geht es bei Kultureller Bildung nicht um die Hoffnung auf juristische Absicherung, sondern um die Funktion, die sie für Kultur, ebenso aber für die Entwicklung demokratiefähiger Persönlichkeit und gesellschaftlicher Entwicklungsfähigkeit hat. Dies deutlich zu machen ist eine Chance für Bildung und Kultur gleichermaßen.
Wir werden uns daran gewöhnen müssen, die Hoffnung künftig nicht auf Schutzgesetze und (vorübergehende) staatliche Hilfsleistungen zu setzen (so wichtig letztere derzeit sind), sondern auf die Akzeptenz von Kultur in einer demokratischen Gesellschaft. Wenn das gelingt, öffnet sich für Kultur ein weit größerer Horizont als der jetzige, der gerade in der Krise von beklemmendem Verteidigungsbemühen geprägt ist. Für diesen Horizont ist der Zwang zur Neuorientierung in und nach der Krise die weitreichende Chance.
Trotz anhaltender Null-Zins-Politik wird die Zeit nach Corona von wenig finanziellem Spielraum geprägt sein. Für die Kulturpolitik ergibt sich daraus die Notwendigkeit:
einen breiten Diskurs über die Nachhaltigkeit von Kulturangeboten und Kultureinrichtungen zu eröffnen
die Funktion von Kultur für Stadtentwicklung, Öffentlichkeit, Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt neu zu justieren und mit dieser Vernetzung Kultur wie Gesellschaft resilienter zu machen
Kulturförderung entsprechend diesen Überlegungen neu zu organisieren, um gesellschaftliche Relevanz, Vielfalt der ästhetischen Gestaltungen, Partizipation und Akzeptanz in ein konflikt- und damit zukunftsfähiges Verhältnis zu bringen
die Stärke der Kultur, in Alternativen denken zu können, zur Fähigkeit zu erweitern, mit Unsicherheiten leben zu können, wie wir sie gerade während der Krise so lebhaft erfahren.
Diese Notwendigkeiten zu erkennen und in Kulturpolitik umzusetzen, ist die große Chance, die nicht erst Corona erzwingt, die durch die Krise aber als Gegenwartsaufgabe unausweichlich ist. Krisen sind immer Ausdruck von Transformationsprozessen. Mit der Bereitschaft, die Konflikte einer säkularen Transformation kulturell zu verhandeln, rückt Kultur ins Zentrum von Politik und Gesellschaft. Der Prozess ist so schmerzlich wie unausweichlich. Ihn nicht nur zu erleiden, sondern zu gestalten und dabei Kultur groß zu denken ist die optimistische Chance einer Krisenzeit, für die Corona nur einen Signalcode darstellt.
Autor
Dr. Dieter Rossmeissl, Nürnberg
Kulturdezernent a.D. und Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Kultur und ästhetische Bildung der Universität Erlangen-Nürnberg
Gedanken bei der Relektüre des Buches »Der Kulturinfarkt– eine Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat und Kultursubvention«
2012 trat ein Quartett bis dahin höchst ehrenwerter Vertreter des Kulturbetriebs mit einer Polemik an die Öffentlichkeit, die ihr weiteres berufliches Leben mehr beeinflussen sollte als ihren Untersuchungsgegenstand. Als langjährig tätige Experten repräsentierten Dieter Haselbach, Pius Knüsel, Stephan Opitz und Armin Klein ebenso theoretische wie praktische Erfahrungen im Kulturbetrieb. Irgendetwas muss damals ihr Fass zum Überlaufen gebracht haben: »So kann es nicht weitergehen!« lautete ihre forsche Kampfansage an ein kulturelles Bewahrsystem, dem nach ihrer Einschätzung jegliche Innovationskraft abhandengekommen war.
Verstärkt durch die Auswirkungen der Weltfinanzkrise 2008 auf die Arbeits- und Lebensverhältnisse traten sie an, dem Kulturbetrieb aus einer Innensicht einen Spiegel vorzuhalten. Ihre grobe Anamnese lief auf den Befund hinaus, ein in die Jahre gekommenes, fettleibig um sich selbst kreisendes System ringe mit einem »Kulturinfarkt«, dem nur mit einer einschneidenden Diät beizukommen wäre. Also formulierten sie in provozierender Absicht unter dem Aufmacher »Die Hälfte?« im deutschen Wochenmagazin Der Spiegel ein Destillat ihres Buches mit dem Ziel, noch einmal eine breite kulturpolitische Diskussion anzustoßen.
Darf jemand, der im Glashaus sitzt, mit harter Münze werfen? Wenn ihr zentraler Befund darauf hinausgelaufen war, der (öffentlich finanzierte) Kulturbetrieb wäre vor allem mit seiner eigenen Besitzstandswahrung beschäftigt, dann hatten die Autoren möglicher Weise seine Widerstandsfähigkeit unterschätzt. Es muss auch sie überrascht haben, mit welcher Vehemenz ihre Vertreter*innen darauf reagierten, als ein paar »Kulturverräter« den Status quo als ein tiefgehendes Krankheitsbild beschrieben und sich erdreisteten, als Therapie u.a. eine Halbierung der öffentlichen Kulturförderung vorzuschlagen.
Beginnend mit der Verdammung durch den Deutschen Kulturrat als zentraler Interessensvertretung galten die vier Autoren in der Szene fortan als verfemt. Die Verteidigungsreihen wurden geschlossen, die Autoren bei Androhung des Jobverlustes zum Verstummen gebracht. Schon bald sprach niemand mehr vom »Kulturinfarkt«; der Versuch eines wohl zu selbstgefälligen Autorenteams, einen Akzent zur Erneuerung des Betriebs zu setzen, war nach hinten losgegangen. Da war der Vorwurf, die Autoren bedienten doch bloß populistische Ressentiments noch das geringste Vergehen. So erruptiv das Buch seinen Weg in die Öffentlichkeit fand, ausgestattet mit einer solchen Nachrede, verschwand es nach einer kurzen und heftigen öffentlichen Kontroverse schon bald wieder in den Regalen einiger weniger Fachbibliotheken.
Acht Jahre später erlebt der Kulturbetrieb seine größte Krise seit 1945. Die Ursachen kommen diesmal nicht in Form einer polemischen Einschätzung aus den eigenen Reihen. Sie kommen von einer dramatischen Veränderung der äußeren Umstände, die von einem Tag auf den anderen ein überkommendes Geschäftsmodell zum Erliegen gebracht haben. Die Pandemie fordert vom Kulturbetrieb einen ganz besonderen Tribut. Da können Durchhalteparolen, wir würden alsbald wieder zu den alten Zuständen zurückkehren, noch so oft wiederholt werden; immer mehr Akteur*innen, vor allem aus dem Freien Bereich, wissen es angesichts ihrer existenziellen Bedrohungslage längst besser: Die Rahmenbedingungen, in dem der Kulturbetrieb tätig ist, sind drauf und dran, die betrieblichen Selbstverständnisse in seinen Grundfesten zu erschüttern.
Die Ressourcen werden immer knapper; es gilt, sich auf neue Verhältnisse vorzubereiten. Klagen wie die des langjährigen Generaldirektors der Albertina Klaus Albrecht Schröder, der sich und seine bislang als krisenfest eingeschätzte Institution und mit ihr auch gleich weite Teile des Betriebs »im freien Fall« sieht, sind dafür die hässliche Begleitmusik.
»Das Bildnis des Dorian Gray« lässt grüßen. Wir erleben gerade, wie es sich anfühlt, an der eigenen Selbstbezogenheit zugrunde zu gehen. Unter einem solchen Eindruck habe ich mir nochmals den »Kulturinfarkt« vorgenommen und muss nach der Lektüre feststellen, dass viele der darin formulierten Einschätzungen – sieht man von der provozierenden These der Halbierung der öffentlichen Kulturbudgets ab – durchaus Anregungen für die Bewältigung für die heutige Krise enthalten, ja, dass wir uns vielleicht so manche dramatische Entwicklung erspart hätten, hätte der Kulturbetrieb dieses Angebot für eine Verbreiterung und Intensivierung des kulturpolitischen Diskurses nach 2012 nicht einfach unter den Teppich gekehrt.
Im ersten Teil weisen die Autoren nach, dass es vor allem seit den 1970er Jahren zu einer umfassenden Ausweitung der kulturellen Infrastruktur vor allem in Deutschland und der Schweiz (Österreich ist in Ermangelung eines hier ansässigen Fachautors nur indirekt Verhandlungsgegenstand) gekommen ist. Im Anspruch einer »Kultur für alle« entstand so eine weitgehend unhinterfragte Wachstumslogik, wonach »Kultur« per se als positiv anzusehen sei, je »mehr Kultur« nur umso besser. Von den Autoren auf den Punkt gebracht: »Kultur macht einfach rundherum glücklich«.
Und so wurden wir in den letzten Jahren von einer affirmativen Rhetorik umnebelt, die mit Kultur alles zu versprechen wusste: »Sie macht unglückliche Individuen glücklich, glückliche intelligent. Sie macht Lehrer*innen glücklich, weil sie einen fröhlicheren Unterricht verspricht und den Erwerb sozialer Kompetenzen fördert. Sie macht Politiker*innen glücklich, weil sie gefahrlos Gutes tun können. Sie macht Wirtschaftsstatistiker*innen glücklich, weil sie Wachstum verspricht….« Die Auflistung der Versprechungen geht noch lange weiter und erklärt wohl, warum sich so viele, auf der richtigen Seite wähnende Kulturmenschen damals so sehr auf den Schlips getreten fühlen mussten.
»Kulturnation« – Das war einmal Eine Etage ernsthafter verhandeln die Autoren einen politischen Begründungszusammenhang, der den unhinterfragten Ausbau der kulturellen Infrastruktur u.a. mit der Absicht, den Ansprüchen einer »Kulturnation« gerecht zu werden, begründen; eine »Kulturhoheit« der Länder sollte das für Mitteleuropa typische Naheverhältnis zwischen Staat und Kulturbetrieb legitimieren, ein daraus abgeleiteter »Kulturauftrag« des Staates die dafür notwendigen staatlichen Maßnahmen gewährleisten.
Dabei blieb freilich unberücksichtigt, dass dem Kulturbetrieb nach den historischen politischen Zusammenbruch von 1945 in der Tat eine bedeutende Funktion zur Wiedergewinnung einer nach innen ebenso wie nach außen wirksamen nationalen Identitätsbildung zugekommen ist. Diese Aufgabe aber hatte sich spätestens in den 1970er Jahren erledigt, wenn große Mehrheiten die Zugehörigkeit zur deutschen oder österreichischen Nation in keiner Weise mehr anzweifelten und so im Konzert- oder Theatersaal nicht mehr zum »wahren« Deutschen oder Österreicher erzogen werden wollten.
Diese kontrafaktische Zuschreibung dient heute bestenfalls rechtspopulistischen Kräften, sich gegenüber Zuwander*innen als Verteidiger eines weitgehend inhaltsleer gewordenen »Deutschtums« oder »Österreichertums« zu profilieren.
Kurzer Sidestep: Ausgehend von dieser unvergleichlichen Erfolgsgeschichte der nationalen Kulturpolitiken in den ersten Nachkriegsjahren spricht heute fast alles dafür, ähnliche Anstrengungen zur Konsolidierung des europäischen Projekts zu versuchen. Dazu aber wäre es notwendig, kulturpolitische Kompetenzen von der nationalstaatlichen auf die europäische Ebene zu verlagern, eine Forderung, die wesentlich zur Vergemeinschaftung der europäischen Gesellschaft beitragen würde und von deren Umsetzung wird doch weiter denn je entfernt sind.
Über eine »Kultur für alle«, die nur von wenigen genutzt wird Mit dem ungeregelten, um nicht zu sagen wildwüchsigen Ausbau der kulturellen Infrastruktur entstünden nach Haselbach und Co. zumindest mehrere Problemlagen: Da ist zum einen der Umstand, dass das daraus resultierende, gewachsene Angebot weiterhin nur sehr selektiv wahrgenommen wird. Damit verweist der »Kulturinfarkt« auf einen Aspekt des Kulturbetriebs, der gerne unterbelichtet bleibt: Er besteht darin, dass seine Ausgestaltung nicht nur integrierende, sondern auch segregierende Wirkung zu entfalten vermag.
Das gilt umso mehr in Zeiten wachsender sozialer Polarisierung, von der mittlerweile auch die europäischen Gesellschaften voll erfasst sind. Kulturpolitik aber scheint bislang auf diesem Auge weitgehend blind; ihre Maßnahmen privilegieren nach wie vor die ohnehin Privilegierten, während sie die wachsende Zahl der Diskriminierten ihrem unglücklichen Schicksal überlässt. Die Rhetorik, die unter Beibehaltung der dominierenden Organisationsformen davon berichtet, sich in besonderer Weise um »sozial Benachteiligte« oder »bildungsferne Schichten« bemühen zu wollen, führt ungewollt eher zu stigmatisierenden denn zu partizipativen Effekten.
Der Hype um die »Kulturgesellschaft« und die Zunahme irrationaler Tendenzen. Gibt es da einen Zusammenhang? Eine besonders tiefgehend negative Auswirkung sehen die Autoren ausgerechnet für das Standing von Wissenschaft in der Gesellschaft: Mit der Hypostasierung von Kultur mutiere der Staat zum Treiber einer unwissenschaftlichen Weltsicht: Die Folge ist die Verengung von Weltsicht auf ästhetisch vermittelte Geschmacksfragen, die sich als solche intersubjektiver Bewertung verweigern. Zusammen mit der Logik der Konkurrenzgesellschaft, die Individualisierung zur einzig erfolgsversprechenden Handlungsanleitung erhebt, erweise sich der Hype um Kultur als ein herausragendes Desintegrationsmittel.
Die umfassende Ästhetisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse verunmögliche einen, die einzelnen kulturellen Szenen übergreifenden Common Sense. Das Ergebnis wäre eine allgemeine Wissenschaftsverachtung, die privaten Weltsichten inklusive der Kultivierung von Verschwörungstheorien aller Art Tür und Tor öffnen würde. (Der Umstand, dass sich der Kulturbetrieb bislang in besonderer Weise seiner wissenschaftlichen Beforschung verweigert, wie die zunehmende Einsicht, dass sich die brennenden Probleme der Gegenwart, allen voran die aktuelle Gesundheitskrise, nicht durch Kultur, sondern nur mit Hilfe der Wissenschaft werden lösen lassen, sprechen dafür.)
Die Hauptkritikpunkte an den Thesen des »Kulturinfarkt« aber betreffen die Infragestellung der segensreichen Wirkung öffentlicher Förderung als Mittel zur Marktkorrektur. Ganz offensichtlich möchten sie möglichst holzschnittartig eine Gegenposition zum herrschenden handlungsleitenden Vorurteil »Förderung befreie die Kunst, der Markt versklave sie« herstellen. Ihre Argumentation läuft – und das war wohl der besondere, als unsolidarisch empfundene Affront gegenüber allen Förderungsempfänger*innen – darauf hinaus, dass staatliche Förderung nicht nur Vorteile bringe, sondern auch Nachteile.
Vor allem würde diese Form der Alimentierung die systemimmanenten Beharrungskräfte stärken und die notwendige Weiterentwicklung behindern. Die Gefahr einer inhaltlichen Einflussnahme, gegen die die Szene die Monstranz der Autonomie errichtet hat, stelle dabei das geringere Problem dar. Die fatalen Auswirkungen einer angebotsorientierten Kulturpolitik Die Autoren kritisieren dabei vor allem eine scheinbar unkorrigierbare und doch falsche kulturpolitische Prioritätensetzung, die auf eine einseitige Angebotsorientierung hinausläuft. Diese würde durch die bestehende Förderstruktur begünstigt und verhindere notwendige Anpassungen an ein geändertes Nutzer*innen-Verhalten.
In der Weigerung, die (potentielle) Nachfrager*innen-Seite stärker in den kulturpolitischen Blick zu nehmen, würden diese auf einen dynamisch sich weiter entwickelnden Kulturmarkt verwiesen. Der geförderte Kulturbetrieb hingegen könne dank marktunabhängiger Einnahmequellen auf den Erhalt überkommender Strukturen setzen, um sich blind zu stellen gegenüber den neu entstandenen Kommunikations- und Interaktionserwartungen der Nutzer*innen.
Man könnte diesem Befund entgegenhalten, dass sich – jedenfalls in Österreich – auch die hochsubventionierten Einrichtungen in den letzten Jahren in Ermangelung zielgerichteter kulturpolitischer Vorgaben den Markt zum Maß aller Dinge erklärt hätten. Bei der Berücksichtigung der Nachfrage aber haben sie sich – etwa im Sektor des boomenden internationalen Kulturtourismus – diejenigen Filetstücke herausgesucht, die ihren gestiegenen Einnahmeerwartungen am besten entsprochen hätten. Allen anderen hätten sie zudem einen Bedeutungsverlust signalisiert, wenn seither immer weiter steigende Produktionskosten trotz verschärfter Konkurrenzbedingungen am Markt im Zuge von Sonderprogrammen (vor allem im Bereich der Bildung und Vermittlung) mit immer günstigeren Preisen verknüpft werden.
Trotz angebotsorientierter Schlagseite könnten gerade produktionsseitig die Effekte nicht verheerender sein. Immerhin treibe eine solche Privilegierung alle anderen Marktakteur*innen, die mit wenig oder gar keiner öffentlichen Finanzierung auskommen müssen, in einen ungleichen Konkurrenzkampf, den sie – bis auf wenige Nischen – nur verlieren können. Der gegenwärtige vielfach beschädigte Zustand des freien Bereichs in Österreich ist dafür mehr als ein beredeter Ausdruck für die dadurch zumindest ein Kauf genommene Verungleichung nicht trotz, sondern durch staatliche Interventionen.
Spätestens mit dem Ausbruch der Pandemie gilt es, das Verhältnis zwischen Produktion, Vermittlung und Konsumption auf eine neue ausbalancierte Grundlage zu stellen Mit der Pandemie erscheint diese Logik fürs Erste auf den Kopf gestellt: Das Publikum ist von einem zum anderen Tag weggebrochen, damit ein Geschäftsmodell an sein Ende gekommen. Die kulturpolitischen Konsequenzen suggerieren mit jedem Tag deutlicher, dass ein »more of the same« die Lage nur verschlechtert, wenn es nicht gelingt, das Verhältnis von Produktion, Vermittlung und Konsumption auf eine neu ausbalancierte Grundlage zu stellen.
Bei der Einschätzung positiver ebenso wie negativer Effekte der staatlichen Privilegierung ausgewählter Marktakteur*innen verhandeln die Autoren auch den Aspekt der meritorischen Güter: Volkswirtschaftlich handelt es sich dabei um die Produktion gesellschaftlich wünschenswerter Güter, für die keine ausreichende Nachfrage herrscht. Um diese auszugleichen, übernimmt der Staat im Zuge seines »Kulturauftrags« zumindest einen Teil der Produktionskosten und sorgt für hinreichende Distributionsmaßnahmen.
Dass er sich dabei vor allem auf diejenigen stützt, die er aus seiner Sicht am leichtesten erreichen kann, ein liberales und wohlhabendes Bildungsbürgertum eben, ist ein weiterer Grund, warum sich der Kulturbetrieb in Zeiten wachsender Polarisierung sehr zur Freude der Rechtspopulisten immer mehr vom großen, mittlerweile vielfach ausdifferenzierten Rest der Gesellschaft entfremdet.
Damit aber fördert der Staat in der aktuellen Situation meritorische Güter, die nur bei einem kleinen Teil der Bevölkerung ankommen. Alle anderen, obwohl ihr sozialer Status oft wesentlich schlechter ist als der der jetzt in erster Linie Begünstigten, sind mit ihren kulturellen Vorlieben ganz ohne staatliche Beihilfen auf einen Markt verwiesen, dessen Akteur*innen sich darin zu überbieten versuchen, den kulturellen Erwartungen der potentiellen Nachfrager*innen zu entsprechen. Und wir haben es einerseits mit einem wohlhabenden gesetzten Ehepaar zu tun, dessen Opernbesuch bei den Salzburger Festspielen hoch subventioniert wird, während der Lehrling andererseits für den Besuch seiner Lieblingsband volle Länge bezahlen muss.
Das versteht in einer Gesellschaft, die nach den langen Jahren einer »Kultur für, mit und von allen« angeblich keine kulturellen Hierarchien mehr kennt, keiner mehr – außer ein paar Begünstigte.
Könnte es sein, dass der Gegensatz zwischen künstlerischer Qualität und Publikumsgeschmack selbst als Teil der umfassenden Verteidigungsstrategie eines der Gesellschaft zunehmend entfremdeten Kulturbetriebs künstlich herbeigeredet wird?
Ganz offensichtlich sind in unser aller Köpfe noch kategoriale Trennlinien eingegraben, die etwa der E-Kultur einen größeren gesellschaftlichen Stellenwert zuschreiben als der U-Kultur. Die Autoren weisen in diesem Zusammenhänge auf Gedankenkonstrukte der Frankfurter Schule hin, die just 1945 Adorno und Horkheimer in ihrer legendären Schrift »minima moralia« als Gefahr einer Überfremdung durch ein amerikanische Unterhaltungsangebot (Kinofilm, Jazz, Comics, brrrrr!) höher eingeschätzt haben als das Fortwirken nationalsozialistischen Gedankenguts.
Also halten die Repräsentant*innen der staatlichen Verwaltungen bis heute an der Illusion eines wünschenswerten Kulturbegriffs fest, der sich als experimentell, widerständig und kritisch den Marktkräften verweigert und daher der staatlichen Alimentation bedarf. Dass das nur einige wenige Spezialist*innen interessiert, liegt dann in der Natur der Sache. Alles andere wären in dieser Logik falsche Anbiederungsversuche, die es darauf anlegen würden, einem ignoranten Publikum nach dem Mund reden zu wollen; und damit auch gleich jegliche Kritik an den herrschenden Verhältnissen zu ersticken.
Spätestens mit der digitalen Revolution spricht vieles dafür, dass es sich beim Beharren auf diese kategorialen Trennung in einer kulturell enthierarchisierten gesellschaftlichen Verfassung um eine billige Vermeidungsstrategie handelt, wo es doch darum geht, die Nutzer*innen sowohl in ihren Unterhaltungsbedürfnissen darüber hinaus aber auch in ihrer Kritik- und Veränderungswilligkeit ernst zu nehmen. Wenn die neuen digitalen Kulturräume etwas deutlich machen, dann ein geändertes kulturelles Verhalten, mit dem neue Interaktions- und Ko-Kreationsformen zur Selbstverständlichkeit geworden sind und daher auch für den traditionellen Kulturbetrieb eingefordert werden.
Entsprechend spricht vieles dafür, dass eine Neubewertung der Bedeutung der Nutzer*innen nicht notwendig zu einer weiteren Nivellierung führen muss; statt dessen könnte gerade der Bedeutungszuwachs der Nachfrageseite zu einer Neubelebung des Kulturbetriebs führen, der in diesen Tagen jede Orientierung verloren hat, wie es weiter gehen könnte. Dafür müsste freilich Kritikern wie Haselbach und Co nicht einmal mehr der Mund verboten und sie totgeschwiegen werden. Statt ausschließlich auf weitere staatliche Hilfsprogramme zur Stärkung der Angebotsseite zu hoffen, müssten gerade jetzt »die Fetzen fliegen« , im Bemühen, neue Konzepte für die Weiterentwicklung des Kulturbetriebs zu verhandeln.
Dabei könnten wir erstaunt feststellen, dass längst eine neue Generation an Kunst- und Kulturschaffenden entstanden ist, die schon lange nicht mehr darauf wartet, dass der Staat sie wahrnimmt, sondern das gestalterische Heft selbst in die Hand nimmt und sich in Aufmüpfigkeit gegenüber gesellschaftlichen Fehlentwicklungen übt.
Eine neue Kunst- und Kulturstrategie tut not Wir erleben gerade das Ende des Verwaltungshandelns einer Kulturpolitik, die die Aufrechterhaltung des Status quo zum Maß aller Dinge erklärt hat. Noch nie waren konzeptive Neubegründungen so sehr gefragt wir heute. Im aktuellen Programm der österreichischen Bundesregierung ist die Erarbeitung einer neuen Kunst- und Kulturstrategie vorgesehen. Passiert ist bisher nichts.
Manches könnte man sich im Empfehlungsteil des »Kulturinfarkts« abschauen. Die Autoren selbst haben mit der Forderung nach einer aus ihrer Sicht wünschenswerten Halbierung der öffentlichen Förderung jede weite Diskussion abgewürgt. Ihre starken Sprüche konnten als Alibi dafür herhalten, schon damals über die zunehmende Dringlichkeit einer Neuausrichtung entlang nachvollziehbarer inhaltlicher Schwerpunktsetzungen erst nachdenken zu müssen.
Aber wann, wenn nicht jetzt wollen wir endlich hinschauen, dass wesentliche Teile der staatlichen Förderung auf einige wenige Institutionen verteilt werden, während der überwiegende Teil der Szene ohne jegliche Angabe sachlicher Argumente (außer, dass diese Praxis einfach historisch gewachsen sei) mit immer bescheideneren Tranchen zurande kommen muss. Mit dem Argument, nur ja keinen Neid zwischen den Szenen zu schüren, wurde dieser Skandal einer ungleichen Behandlung die längste Zeit zum Tabu erklärt. Die junge Generation hat – soweit ich das verfolge – als eine Folge davon ihren Glauben an ein staatliches Interesse an ihren künstlerischen Vorhaben längst verloren. Kein Wunder also: Der Generationenkonflikt hat auch das Metier der Kultur in vollem Ausmaß erreicht.
Es spricht also manches dafür, die mit dem »Kulturinfakt« auf die Tagesordnung gebrachte Frage nach der Relevanz des Kulturbetriebs für die gesamte Gesellschaft wieder aufzunehmen und damit Kulturpolitik auf neue, gut begründbare Grundlagen zu stellen.
Es gilt, Kunst in Schutz zu nehmen vor überzogenen Erwartungen Die Autoren sprechen auch im deutschsprachigen Raum erstmals von der Notwendigkeit, nachvollziehbare öffentliche Ziele zu formulieren, die die Fortsetzung einer Privilegierung ausgewählter Kulturangebote für eine zunehmend heterogene Bevölkerung verständlich, vielleicht sogar notwendig machen (Die Aufrechterhaltung der Kulturnation gehört sicher nicht dazu). Anhand inhaltlicher Vorgaben sollten sich Kultureinrichtungen – wie das in anderen Ländern längst üblich ist – alle paar Jahre einer umfassenden Evaluierung stellen um nachzuweisen, dass die vereinbarten kulturpolitischen Ziele in der jeweiligen Förderperiode auch erreicht worden sind. Darüber hinaus sollte Kulturpolitik Motivation bieten, um zusammen mit den Nutzer*innen neue Settings und Formate zu erproben. Damit würde es möglich, die ganze Palette kultureller Produktion, Vermittlung und Distribution anhand von relevanten Praxiserfahrungen neu zu verhandeln und auf eine zeitgemäße Grundlage zu stellen.
Darüber hinaus sprechen sich die Autoren für eine Stärkung der Laienkultur aus und skizzieren die Umrisse einer interkulturell ausgerichteten Kulturellen Bildung (das schließt die Fähigkeit, »Kunst in Schutz zu nehmen vor überzogenen Erwartungen und damit verbundenen Enttäuschungen« ebenso mit ein wie das Anerkenntnis, dass die Lösung der großen gesellschaftlichen Problem zuallererst einer wissenschaftlichen Bearbeitung bedürfen und kulturelle Selbstinszenierung dafür keinerlei wirksamen Ersatz zu bieten vermag).
Eine stärkere Einbeziehung in der Verfolgung gesellschaftlicher Strategien hätte nach ihnen auch Auswirkungen auf Kunstausbildungseinrichtungen, die sich von »Kapellen zur Anbetung staatlicher Garantien« zu Produktionszentren weiter entwickeln würden. Also Orte, in denen im Verbund mit relevanten Marktakteur*innen wie Filmemacher*innen, Galerien, Museen, Verlagen, Konzert- und Theaterveranstalter*innen sowie Medienbetreiber*innen die von den Studierenden gestalteten Produkte einem laufenden Wirklichkeitstest unterworfen werden.
Der Kulturbetrieb auf dem Weg in die Normalität- Involvierung, Kollision, Konflikt, Kooperation und Partizipation als die neuen handlungsleitenden Begriffe Es ist wohltuend, die Autoren bei der Skizzierung eines Entwicklungsweg für den Kulturbetrieb in Richtung mehr Normalität zu begleiten: Dabei könnte sich Kulturpolitik von ihrem hohen Ross einer gesellschaftlichen Erziehungsanstalt zurückziehen und sich folglich von der Verkündigung moralischer Urteile verabschieden: Kulturpolitik als Medium glaubwürdiger Zukunftsgestaltung »ist weder auf einen idealen Endzustand ausgerichtet, noch kann sie sich als Advokatin einer bestimmten Ästhetik gerieren. Sie mutiert wie alle anderen Politikfelder zu einem dynamischen Regelsystem, das auf Widersprüchen baut, statt sie zu vermeiden. Sie will nicht die Zähmung optimieren, sondern die Kollision«.
Spätestens mit dem Ausbruch der Pandemie sieht sich der Kulturbetrieb dem Verdacht ausgesetzt, in einem (öffentlich geförderten) Glassturz seine Distanz zu den Niedrigkeiten des übrigen Weltgeschehens möglichst ungestört zelebrieren zu wollen. Der Umgang mit den Autoren des »Kulturinfarkts« hat den Beweis erbracht, wie gut er es versteht, diesbezügliche Kritiken zugunsten eines bedingungslosen »Weiter wie bisher« einfach auszuspucken. Jetzt aber ist alles anders: Der Druck kommt von außen. Und er ist so stark, dass bei Ausbleiben jedes Erneuerungswillen es diesmal der große Rest der Gesellschaft sein könnte, der diese Spuckfunktion übernimmt.
Vor acht Jahren haben ein paar Reformer aus den eigenen Reihen eine paradoxe Intervention gesetzt. Sie haben einen hohen Preis dafür gezahlt. Es könnte sein, dass ein ignoranter Kulturbetrieb mit dem Beharren auf Realitätsverweigerung gerade dabei ist, einen noch höheren zu zahlen.
Autor:
PD Dr. Michael Wimmer, Wien
Privatdozent, Vortragender, Moderator, Autor und Herausgeber von bildungs- und kulturpolitischen Texten, Berater von Kunst, Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie Vorstandsvorsitzender von EDUCULT http://michael-wimmer.at/blog/
Für ein sportives Selbstbewusstsein – gerade in der Krise
Während landauf landab die Theatervorhänge wegen eines mit dem für die Kultur zynischen Begriff betitelten Lockdown light geschlossen sind, werden sie ausgerechnet von der Kulturpolitischen Gesellschaft vorsichtig aufgezogen für eine angeblich zeitgemäße Inszenierung von Sein oder Nichtsein. #neueRelevanz heißt das Spiel.
Gegen diese Aufführung gilt es Widerspruch einzulegen. Denn sie kommt zur Unzeit. Es gibt derzeit kein Momentum für eine Grundsatzdiskussion.
Zum einen: Hinter dem »Kontaktverbot light« verbirgt sich kein Freiraum für Visionen, hier werden nicht Kapazitäten frei, sondern diese kurzfristige, zunächst für vier Wochen ausgerufene Zäsur ist lediglich ein Zäsürchen, wenn man sich anschaut, was sie an Arbeit für die Kulturschaffenden, insbesondere in den Institutionen bedeutet. Und dies nur für eine unmittelbare Schadensbegrenzung. Kreative Kräfte sind jetzt damit beschäftigt, Kurzarbeitsanteile auszurechnen! Das wiederum ist dermaßen unkreativ, dass es regelrecht lähmt und nur noch wenig Energie für den Entwurf künstlerisch-gesellschaftlicher Utopien bleibt. Mit der Verlängerung des Lockdowns um weitere drei Wochen geht dieses Kräfteabsorbieren gerade so weiter.
Themen, die sich laufend aus den gesellschaftlichen Veränderungen und Realitäten ergeben, wie Öffnung, Teilhabe, Diversität, Digitalisierung, Nachhaltigkeit, sind deshalb gerade ein wenig ins Hintertreffen geraten. Manches macht natürlich unter dem Eindruck einer zu bekämpfenden Pandemie zurzeit auch wenig Sinn, die Zusammenarbeit mit Lai*innen z.B. Und beim Streaming wird gerade wieder festgestellt, dass es mit den heutigen technischen Möglichkeiten ein Mittel aber keine Lösung ist. (U.a. weil eine Chatfunktion während eines Streams den grundsätzlichen Einbahnstraßen-Eindruck dieser Art der »Kulturdistribution« nicht aufhebt.) Aber: die Themen sind längst auf der Agenda und werden grundsätzlich auch auf diese oder jene Art und Weise und in diesem oder jenen Maß bearbeitet. Das ist ein kunst-/ kulturimmanenter Prozess und nichts, das jetzt endlich mal anfangen sollte.
Zum anderen: Nun geht es bei #neue Relevanz ja nicht um die Kulturschaffenden oder Kultureinrichtungen, sondern um die Kulturpolitiker*innen. Aber abgesehen davon, dass wir doch bitte nicht in Zeiten zurückfallen wollen, wo über Institutionen u.a. geredet wurde, anstatt mit ihnen, würden sie hier in eine Falle laufen: Wer jetzt Relevanzdiskussionen lostritt, gesteht damit in den Augen derjenigen, die schon immer meinten, Kultur sei ein teures und überflüssiges Luxusprodukt, ein, dass dort zurzeit einiges falsch läuft und leistet somit einer ohne Frage kommenden Spardiskussion Vorschub.
In diesem Zusammenhang: Kultur als systemrelevant zu bezeichnen, wie es derzeit immer wieder geschieht, ist vor allem eine Umschreibung dafür, dass sie die öffentliche Hand Geld kostet. Allerdings bekommen »normale Bürger*innen« so kein Gefühl dafür, um was für Summen es geht – gerade auch im Verhältnis zu anderen Ausgaben. Es steht dann lediglich die Frage im Raum, ob sie überhaupt Ausgaben wert ist. Diese Frage muss dann aber nicht noch von den beruflich mit Kultur befassten selber gestellt werden!
Die kulturelle Infrastruktur befindet sich bereits in einer existenz(en)bedrohenden Lage. Bei den nächsten (insbesondere kommunalen) Haushalten wird es hier an die Fleischtöpfe und dort an die Wurstzipfel gehen. Das wird nicht ohne Verluste bleiben. Deshalb gilt es aber jetzt umso mehr, mit Klauen und Zähnen erstmal pauschal alles zu verteidigen und nicht in vorauseilendem Gehorsam schon einmal zu diskutieren, »was weg kann«. Hier müssen die Kulturpolitiker*innen als Anwälte der Kulturschaffenden und Kultureinrichtungen fungieren!
Zugestanden, hier soll ein Gestaltungsanspruch wahrgenommen werden, so lange es noch eben geht. Aber so macht man sich nur zu willfährigen Handlangern. Denen, denen Kultur verzichtbar scheint, darf es nicht zu leichtgemacht werden! Gefordert ist vorausschauendes Handeln, nicht vorauseilendes, sonst geraten wir selbstverschuldet in einen Sog des Wegdiskutierens! Diese Einwände gegen eine Grundsatzdiskussion über Relevanz zum jetzigen Zeitpunkt einmal beiseite geschoben: Ist so eine grundsätzliche Selbstbefragung denn überhaupt notwendig, gibt es wirklich Kultur, die überflüssig ist? Möchten wir uns selber »gesundschrumpfen«? Auf wie klein denn noch?
Ja, es gibt immer mehr Angebot. Das wird allerdings auch erwartet, nicht wegen eines olympischen »immer höher, schneller, weiter«, sondern wegen Stichworten wie Öffnung, Teilhabe und Diversität. Wenn nun aber neue Zielgruppen definiert werden, kann man die bisherigen nicht plötzlich außeracht lassen. Sie sind ja noch da (und nicht etwa plötzlich ausgestorben), samt ihrem Geschmack und ihren Bedürfnissen, die genauso ihre Berechtigung haben. COVID19 mag man eines Tages als Zäsur betrachten, aber: Wir waren noch längst nicht fertig! Denn die Gesellschaft verändert sich stetig und damit verändert und vor allem erweitert sich auch der Kulturbegriff. Deshalb dürfen sich aber der Blick und das Angebot nicht verengen!
Und die Qualität all dieser Angebote? Wer will darüber urteilen? Wer aus diesem Kreis will sich hinstellen und sagen, dieses oder jenes ist es nicht wert, dass es gesehen wird, gehört wird, erlebt wird – und bezahlt wird? Das wäre anmaßend und respektlos. Auch ein Kulturerlebnis, das nach – nicht vorhandenen, weil nicht messbaren – objektiven Kriterien »nur« der Unterhaltung dient, macht etwas mit den Rezipient*innen. Immer. Wo also sollte die Wertlosigkeit davon sein? Und ja, in diesem Kontext hat das Staatstheater genauso seinen Wert wie das Amateurtheater und umgekehrt! Oder soll der Wert von Kultur plötzlich nach marktwirtschaftlichen Kriterien beziffert werden?
An diesem Punkt sei eine Parallele zu einem anderen gesellschaftswirksamen Gebiet gezogen, in dem auch sehr viel öffentliches Geld steckt: Sport. Auch bei völligem Mangel an persönlichem Interesse daran würde man nicht auf die Idee kommen zu sagen: Diese oder jene Sportart oder diesen oder jenen Wald- und Wiesen- oder Bundesligaverein braucht es nicht; er hat weder Förderung noch sonstige Aufmerksamkeit und Mitwirkung verdient. Es ist einfach egal. Ebenso wenig strengen aber die Sport-Treibenden und ihre Funktionäre aller Couleur selber jemals solche Diskussionen an!
In der Kultur passiert genau das jedoch permanent. Warum? Warum vermitteln wir selbst öffentlich den Eindruck, das Geld, das in die Kultur gesteckt wird, gar nicht verdient zu haben; machen uns klein und rechtfertigen uns um Kopf und Kragen? Wo ist das Selbstwertgefühl von Kulturschaffenden und Kulturpolitiker*innen? Unsere Haltung ist traurig und beschämend!
Gerade jetzt: Wenn die Kultur weiterhin und gar vermehrt gesellschaftliche Prozesse moderieren soll, geht das nicht mit weniger Geld. Und dieses Geld ist kein Gnadenbrot, sondern eine Investition. Wir übernehmen schließlich laufend Querschnittsaufgaben; übernehmen als eine Art Dienstleister*innen Aufgaben, die eigentlich ein Bildungs- oder Sozialministerium oder -amt finanzieren müsste, oder auch das Innen- oder Landwirtschaftsministerium bzw. -amt. Da war sie wieder, die Rechtfertigung… Also: Nehmen wir endlich mal eine sportlich-selbstbewusste Haltung ein!
Es gibt jedoch eine Aufgabe, den die Kultur wirklich hinbekommen muss, und das schnellstmöglich und gänzlich unabhängig von COVID19: den erklärten Willen zur Nachhaltigkeit, vor allem im Sinne der Klimaneutralität. Wer gesellschaftlich relevant sein will, braucht eine vorausschauende und vorbildhafte Nachhaltigkeitsstrategie!
Nicht alles lässt sich derzeit umsetzen. Die Einrichtung kollektiver Beförderungsmöglichkeiten in die Kultureinrichtungen ist infektionsschutzbedingt gerade nicht en vogue. Aber: Es gibt genug Punkte, bei denen man schon einmal anfangen kann, sogar muss!
Es wird so sein (müssen), dass im Rahmen dieser Prozesse auch Entscheidungen über die Verzichtbarkeit von kulturellen Angeboten fallen. Wasser predigen und Wein trinken geht nicht; wir haben hier eine Vorbildfunktion. Aber pauschale Verzichtsverdikte vom Reißbrett würden Mensch und Sache nicht gerecht. Deswegen sind statt pauschaler #neueRelevanz-Diskussionen lokale Erkenntnisprozesse notwendig. Schließlich muss die Kultur in diesem Zusammenhang auch wieder politischer werden. Denn es ist auch ihre Aufgabe aufzuzeigen, was mit einer nachhaltigen Gesellschaft nicht vereinbar ist; Aufrüstung sei hier nur als ein Beispiel von vielen genannt. Aber auch diese Aufgabe hat nichts mit COVID19 zu tun!
In diesem Sinne: Vorhang zu. Die neue Relevanz ist die alte Relevanz in ihrem ständigen Fluss!
Autorin
Katrin Lechler, Pforzheim
Leiterin des Orchesterbüros am Stadttheater Pforzheim
Soll die Pandemie die erste Krise werden, in der die Kultur so gar keine Rolle spielt – außer in der Opferrolle der darbenden Kulturschaffenden als modernen Spitzweg-Poeten? Die den Preis dafür zahlen, dass sie sich selbst verwirklichen wollen? Einerseits werden Horrorgemälde von der schlimmsten Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gemalt, andererseits wird geflissentlich überspielt, dass in der Nachkriegszeit der Hunger ebenso groß war wie das Verlangen nach Kultur, die – na klar – ablenkte und unterhielt, Depressionen linderte und vor allem Sinn stiftete und motivierte, von vorn anzufangen. Eine unzulässige Indienstnahme?
Wie es ausschaut regiert die Entscheider*innengremien ein blanker Ökonomismus: ›Erst kommt das Fressen und dann die Moral‹. Der Rest ist Petersilie am Buffet. Dabei ist die Suche nach Sinn das Erste, was Gesellschaften im Innersten zusammenhält. Die Sinnproduzenten aus Kultur und Kultus nach Hause zu schicken, gleicht einer Selbstdestruktion. Wie überall zu sehen, greift der Wahnsinn aus Angst, Hysterie, Gewalt und Terror um sich. Dagegen helfen kaum offene Shopping-Malls, aber sehr wohl offene Bibliotheken, Theater, Konzerthäuser, offene Museen, offene Kirchen, in denen die Menschen ihre Sinne beieinander halten könnten.
Im Frühjahr habe ich mitten im ersten Lockdown einen Aufruf gestartet: ›Öffnet die Museen‹. Mit ›Öffnung‹ meinte ich das Wiederaufschließen der Häuser mit entsprechenden Hygiene-Konzepten. Ein paar Tage später gab es die ersten Öffnungs-konzepte. Ich hatte offene Türen eingerannt.
Aber eigentlich wollte ich auf etwas Anderes hinaus: Die Museen sollten sich nicht auf die Rolle hochspezialisierter Elfenbeintürme zurückziehen, denen Besucher eher lästig sind, und Museumspädagog*innen nur als Hilfskräfte im museologischen Himmelreich vorkommen. Sie könnten sich öffnen gegenüber anderen Kulturschaffenden und Akteuren der Zivilgesellschaft, lieber demütig Knotenpunkte im kulturellen Gewebe werden als hochmütig Leuchttürme der eigenen Selbstherrlichkeit markieren. Die Digitalisierung in ihren unterschiedlichsten Formaten ist nur ein Synonym für neue Synergien und Vernetzungen und dafür, die Kultur als ein Habitat zu denken und weniger als eine Arena des Kampfes um Anerkennung und Ressourcen auf Kosten anderer. Die US-amerikanischen Tech-Konzerne denken schon lange so, dominieren einen Sektor nach dem anderen, weil sich ihre Konkurrenten durch Selbstisolation verteidigen wollen statt eigene Netzwerke aufzuspannen.
Diese Netzwerk-Idee zündete im ersten Lockdown kaum. Der schützende Rückzug ins Schneckenhaus stand im Zentrum und vor allem die durch nichts gerechtfertigte Hoffnung, dass nach der Pandemie alles rasch wieder so werde wie zuvor. Deshalb kann ich nur stoisch die Idee erneut in den Diskurs einspeisen. Vielleicht klappt es diesmal mit den offenen Türen. Die Unruhe und die Bereitschaft, selbst zu denken und nicht nur blind zu folgen, ist gewachsen. Statt Entschleunigung ist in diesem Lockdown Beschleunigung angezeigt. Auch die exponenzielle Zerstörungskraft des Virus in der zweiten Welle drückt aufs Tempo.
Frage niemand: Was soll das denn wieder kosten? – statt offen ›ja‹ oder ›nein‹ zu sagen. Kosten spielen (vor allem in Ausnahmesituationen) keine Rolle, wenn die Idee stimmt. Das Ritual, Vorhaben durch die scheinvernünftige Frage nach dem Geld ins Leere laufen zu lassen, ist ein altbekannter Innovationskiller. Entwicklungen, deren Zeit so offensichtlich gekommen ist, lassen sich nicht aufhalten. Dabei ist die Frage relevant, wie und bei wem man die Mittel beschafft, wer die Regie führt und die Konditionen bestimmt. Sind es noch die Institutionen selbst oder sind es schon fremde Interessen, die über die Sichtbarkeit entscheiden und sich das früher oder später bezahlen lassen. Koch oder Kellner, das macht den Unterschied.
Vielleicht lockert Lockdown 2.0 diesmal die Bereitschaft, Entscheidungen nicht länger zu verschieben: Die Zukunft der Museen liegt im Digitalen. Wer digital und analog im Leben der Gesellschaft präsent ist, ist auch resilient gegenüber Schicksalsschlägen. Schließungen sind nicht mehr K.O.-Ereignisse sondern nur verlorene Runden. Die Digitalisierung spricht nicht gegen Präsenzausstellungen. Ganz im Gegenteil. Der Besuch, die Anschauung von Originalen ist unverzichtbar. Aber nicht die einzige und vor allem nicht die ausschließliche Form für Wahrnehmung und Aneignung. Nötig ist jetzt ein entschiedenes sowohl als auch.
Die Krise drängt die Museen dazu, die anderen, eben die zweitbesten Formen der Vermittlung und Forschung zu entwickeln. Andernfalls verlieren sie unweigerlich ihren Kontakt zum Publikum. Schnell gewöhnt es sich daran, dass es auch ohne geht und: Sind die Museen nicht vollkommen überschätzt? Schaut man auf die Klickraten bei youtube, so kann einem schwindlig werden. Sie dümpeln häufig im unteren dreistelligen Bereich. So sieht es aus, wenn die Schwellen plötzlich höher werden. Sie zeigen auch, dass neue Medien die Ästhetik verändern und alter Wein in neuen Schläuchen nicht länger schmeckt. Es braucht eine Fehlerkultur, und es bildet sich eine Aufgabe für Profis heraus, die learning by doing ihre Kompetenzen ausbilden. Auch in dieser Welt werden die ersten, neuen Stars gesichtet.
Mit jedem Tag Schließung stirbt ein Stück positiver Erfahrung und Erinnerung. Die Museen könnten jetzt nachweisen, dass sie auf der Höhe der Zeit und ihrer Probleme sind. Die Konkurrenz um die Finanzmittel wird unerbittlich. Arroganz und Anspruchshaltungen helfen da wenig, besonders wenn sie eher Trägheit und mangelnden Ehrgeiz bemänteln. Jetzt ist die Gelegenheit, für die Umrüstung auch die Mittel zu bekommen. Denn noch können die Entscheidergremien ihr schlechtes Gewissen erleichtern. Aber auch da fällt schon bald eine Tür ins Schloss.
Das Zauberwort dieser Tage ist die ›Visitors Journey‹. Das ist die in Deutschland viel zu selten eingenommene Perspektive, das Museum nicht von der Sammlung und ihren Schätzen her zu denken und nicht von der Bedeutung der eigenen Botschaften her, sondern aus der scheinbaren Froschperspektive von Benutzer*innen und Besucher*innen. Im hochgelobten britischen Museumssystem mit seinen freien Eintritten, brillanten Katalogen, glänzenden Websites und weltbekannten Stars unter den Kuratoren ist die Besucher-Zentrierung eine Selbstverständlichkeit. In den Niederlanden ebenfalls. Dort sitzen Wissenschaftler*innen beispielsweise im Naturmuseum Leiden inmitten ihrer Sammlungen und sind für die Besucher*innen ansprechbar. Wo in Deutschland wäre das möglich?
Der physische Museumsbesuch ist der Höhepunkt in der Beziehung zwischen Museen und Besucher*innen. Wie bei jeder Beziehung braucht es aber eine Anbahnung, eine Vorbereitung auf ein Rendezvous, es braucht Anstöße, Einladungen, Erinnerungen, Verabredungen. Auch nach dem Rendezvous geht es weiter mit Danksagungen, Fotos, Erlebnisbeschreibungen und der Vorbereitung der nächsten Begegnung. Die Liebe darf nicht erkalten. Das meint Visitors’ Journey.
Wenn aber keine Rendezvous stattfinden können, dann lässt man die Beziehungsarbeit nicht einfach sausen. Stattdessen wird die Kommunikationsarbeit intensiviert. Dann sind Briefe, Fotos, Filme, Erinnerungen, Aussichten die Distanzmedien, um die Beziehung trotz mangelnder Nähe am Leben zu erhalten und zu substituieren.
Achselzuckend auf die Schließungen zu reagieren, ist keine sinnvolle Reaktion. Zumal es auch andere Mitbewerber*innen gibt, die Konkurrent*innen madig machen werden. Das Netz bietet den Museen einen ganzen Strauß von Formaten. Vieles ist auch hohen Ansprüchen anverwandelbar. Selbst Senior*innen, die das Internet ewig abgelehnt haben, sind zu begeisterten Nutzer*innen geworden. Sie wissen, dass ihnen auf Dauer nur geholfen werden kann, wenn sie sich ein wenig in die Verhältnisse hineinbegeben, statt sich störrisch zu verweigern.
Die Museen können viel lernen von Schwesterinstitutionen wie den Bibliotheken und von den Theatern oder Opernhäusern. Die einen bieten ihren Besucher*innen Arbeitsplätze zum Selberlernen, die anderen pflegen mit ihren Abonnent*innen Formen des Wiedersehens und der Teilnahme in den unterschiedlichsten Formaten.
Selbst schwerfälligste Museumsstrukturen können in der Krise viel leichter ihre Corporate Identity ändern als sonst. Sie sollten die Krise nutzen. Abwarten und alles auf später vertagen, ist blinder Attentismus und keine Option. Natürlich stirbt die Hoffnung auf Wiederherstellung der Prä-Corona-Bedingungen zuletzt. Aber dieser Lockdown dürfte nicht der letzte gewesen sein. Und danach gibt es kein Geld mehr oder soviel davon, dass es wertlos wird. Oder es gibt kaum noch jemanden, den man um Hilfe fragen könnte, weil alle Expert*innen vergeben sind. Wer resiliente Museen will, muss sich jetzt auf den Weg machen!
Museen sind mehr als Vitrinenparcours. Ihre zentrale Lage in den Städten zeigt die Wertschätzung und die Erwartungen an, die jetzt wieder verdient werden wollen. Museen sind die Orte, an denen sich die Gesellschaft über sich selbst klarwerden kann; erst recht in einer säkularen Wissensgesellschaft. Die Zukunft ist voller Chancen, sich neu zu erfinden. Nutzt die Krise als Chance, die anderen tun es längst. Die alten Zeiten sind perdu. Da helfen auch keine Klagen. Die Uhr tickt. Es gibt Kippmomente, in denen das Geschehen aus der Balance gerät und sich nicht mehr kontrollieren lässt. Dann ist das Kind in den Brunnen gefallen, und selbst Zeit lässt sich nicht mehr kaufen.