Im Zweifel für die Quote

21. März 2022

Im Februar 2021 wurde ein von den Regierungsparteien CDU/CSU und SPD gestellter Antrag mit dem Titel »Geschlechtergerechtigkeit in Kultur und Medien verwirklichen« angenommen. Darin fordert der Bundestag die Bundesregierung auf, mehr Maßnahmen zu ergreifen, um Geschlechtergerechtigkeit im Kulturbetrieb zu erreichen – unter anderem ist die Rede von kontinuierlichen, geschlechterspezifischen Datenerhebungen bei öffentlich geförderten Stipendien und Preisen, zusätzlichen Angeboten von Kinderbetreuung für Künstler*innen und anonymisierten Bewerbungs- und Auswahlverfahren.

Es ist nichts Neues, dass in den Sparten Theater, den Darstellenden Künsten, Orchestern, im Film oder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Frauen in leitenden Funktionen unterrepräsentiert und unterbezahlt sind: Konkrete Zahlen dazu wurden bereits 2016 in der Veröffentlichung »Frauen in Kultur und Medien« – gefördert aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) – dargelegt.

In den vergangenen vier Jahren hat sich nicht viel getan – auch in Bereichen der Kulturlandschaft, die nicht als klassisch förderungswert gesehen werden und deutlich weniger Aufmerksamkeit vom BKM bekommen, wie zum Beispiel in der (Pop-)Musikwirtschaft. Die im September 2021 veröffentlichte Studie der europäischen Initiative für Geschlechtergerechtigkeit in der Musikbranche Keychange, in Kooperation mit dem Hamburger Reeperbahn Festival und gefördert vom BKM, zeichnet ein eindeutiges Bild über den Status Quo: Der Gender Pay Gap liegt bei 25%, circa die Hälfte aller befragten Frauen identifizierten als größte Zugangs-Barrieren innerhalb der Branche bestehende Vetternwirtschaft zwischen Männern und Stereotype gegenüber Frauen. Etwa jede zweite Frau befürwortet eine Quote bei Führungskräften oder bei Line-Ups von Musikfestivals.

Im Zweifel für die Frauenquote

An dieser Stelle taucht zum ersten Mal ein Wort auf, das in den letzten Monaten und Jahren in vielen gesellschaftlichen Diskussionen die Gemüter erhitzt hat: Quote. Oder mehr noch: Frauen-Quote. Seit 2016 gibt es für börsennotierte Unternehmen in Deutschland die gesetzlich verpflichtende Vorgabe, dass in Vorstand oder Aufsichtsrat mindestens 30% der Posten weiblich besetzt sein müssen – bei Neubesetzungen müssen so lange Frauen eingestellt werden, bis die Marke von 30% erreicht ist oder der Platz bleibt frei. Dieses Gesetz gilt in Deutschland etwa für 100 Unternehmen, der Rest der Gesellschaft kann sich selbst freiwillige Vorgaben setzen.

Für den Kulturbetrieb gibt es nichts Vergleichbares. Die Grünen forderten als Antwort auf oben erwähnten Beschluss des Bundestags im Februar 2021 aber genau das: »[…] eine Quote, um Parität bei Leitungspositionen, Intendanzen, Stipendien und Werksaufträgen, in Jurys, Förderprogrammen sowie Projekten und Veranstaltungen von öffentlich finanzierten Institutionen zu erreichen.«

Wir wissen mittlerweile, dass Quoten wirken: Der Frauenanteil in Aufsichtsräten von DAX-Unternehmen stieg in den ersten 4 Jahren von 27% auf 36%. Ist es also an der Zeit für Quoten im Kulturbetrieb? Brauchen wir ebenjene, um die Zugänge in den verschiedenen Bereichen des Kulturbetriebs einigermaßen zugänglich und egalitär zu gestalten? Insbesondere wenn wir von Institutionen oder Projekten sprechen, die von öffentlichen Geldern gefördert werden? 

Die letzten Jahre haben gezeigt, dass offensichtlich mehr Maßnahmen von Nöten sind, wenn wir mehr Chancengleichheit im Kulturbetrieb durchsetzen wollen. Dabei finde ich Quoten gerade bei öffentlich geförderten Institutionen, Förderprogrammen und Veranstaltungen absolut sinnvoll. Die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands ist weiblich wird aber im Vergleich zur anderen Hälfte der Gesellschaft im Kulturbetrieb unverhältnismäßig stark benachteiligt. Wenn Kultur aber aus Steuergeldern finanziert wird, die von der gesamten Gesellschaft getragen werden, sollten dann nicht auch alle Bevölkerungsgruppen den gleichen Zugang zu Kunst, Kultur und Medien haben? Es ist nicht zu rechtfertigen, dass wir zwar alle zahlen, aber oftmals nur ein kleiner Teil profitiert, der gesamtgesellschaftlich ohnehin schon privilegiert ist: Männer. 

Im Zweifel für diverse Quoten

Mehr noch – weiße Männer. Hier möchte ich die Diskussion um eine Komponente erweitern, denn bisher haben wir vor allem über Frauen gesprochen. Das ist der Tatsache geschuldet, dass sich Diskussionen im Kulturbetrieb über Chancengleichheit und Diversität meist auf Geschlechtergerechtigkeit beschränken. Andere Bevölkerungsgruppen, die eine Marginalisierung erfahren, werden oftmals nicht mitgedacht, weswegen bisher kaum zu anderen Gruppen, die im Kulturbetrieb Diskriminierung erfahren, Daten gesammelt oder Studien durchgeführt wurden. 

Das betrifft insbesondere Menschen mit sogenanntem »Migrationshintergrund«. Der deutsche Kulturrat veröffentlichte 2020 zwar eine Studie zu Diversität an staatlich geförderten Kulturinstitutionen, diese erwies sich aber als methodisch fragwürdig und damit wenig aussagekräftig. Und gerade bei der Erhebung des Migrationshintergrundes wurden sozioökonomische Faktoren und ethnische Herkunft nicht berücksichtigt: Es ist ein großer Unterschied, ob man in einer Philharmonie der britische Dirigent ist oder der senegaleischer Geflüchtete, der in der Kantine arbeitet – in der Studie wurden aber beide Positionen in derselben Kategorie erfasst.

Das ist ein Problem, denn so wird verschleiert, dass Menschen mit bestimmten Migrationsgeschichten und äußeren Merkmalen im Kulturbetrieb strukturell benachteiligt und unterrepräsentiert sind. Wir brauchen in Zukunft also weitere Datenerhebungen. 21,4 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund – gut ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland – finanzieren potenziell mit ihren Steuergeldern öffentlich geförderte Kulturinstitutionen, von denen die meisten nicht profitieren, weil sie weder als Zuschauer*innen noch als Mitarbeiter*innen oder gar Künstler*innen angesprochen werden. 

Im Zweifel für die Qualität

Auch ohne weitere Datenerhebungen kann sich jede*r persönlich ein Bild davon machen, wie es in den meisten Kulturinstitutionen aussieht: Sehr weiß, sehr männlich und wenig divers. Das schlägt sich im Programm der jeweiligen Institutionen wieder und damit auch im Publikum, dass adressiert wird. Als Schwarzer Mann habe ich selten den Eindruck, dass deutsche Theater, Orchester oder Opern Programm für mich machen – geschweige denn, dass ich mich in den meist elitären, weißen Räumen wohl und sicher genug fühlen würde, um eine Operette über mich ergehen zu lassen. Der Historiker in mir schlägt bei vielen Ausstellungen deutscher Museen die Hände über dem Kopf zusammen aufgrund der Eindimensionalität der ausgestellten Perspektiven. Fehlende Diversität macht sich in vielerlei Hinsicht bemerkbar und lässt die Qualität des Angebots sinken.

Gerade wenn wir junge Menschen mit Kultur ansprechen wollen, müssen wir dafür sorgen, dass diese junge Menschen Vorbilder haben, die so aussehen wie sie selbst, die sprechen wie sie selbst und mit denen sie sich identifizieren können. Das wird auf absehbare Zeit nicht ohne staatliche Intervention passieren. Quoten sorgen also auch dafür, dass die Zukunft unsere Kulturlandschaft gesichert wird, denn es gibt keine Alternative: Die deutsche Gesellschaft wird immer diverser, also wird das potenzielle Publikum immer diverser – und wenn wir die nachfolgenden Generationen nicht mitdenken, ansprechen, einbeziehen, bleiben die Besucher*innen irgendwann konsequenterweise weg und widmen sich den kulturellen Angeboten, die sich für ihre Vielfältigkeit öffnen. Dieser Herausforderung gerecht zu werden liegt auch im Interesse aller zukünftigen Regierungen – in jedem Fall in den öffentlich geförderten Stätten, die auch einen kulturellen Bildungsauftrag des deutschen Staats umsetzen sollen.

Quoten werden uns in Zukunft weiterhin verfolgen, ob gesamtgesellschaftlich oder im Kulturbetrieb. Im Text wurden bisher nur zwei marginalisierte Bevölkerungsgruppen angesprochen – die Liste ließe sich aber natürlich noch erweitern (z.B. um Menschen mit Behinderung oder queere Menschen) und die Fragen nach Quoten blieben die Gleichen. 

Ich plädiere außerdem dafür Quoten als Chance zu sehen: Es geht nicht darum jemand zu bevorteilen oder Anderen etwas weg zu nehmen. Quoten stellen die Möglichkeit dar, die ungerechte und ungleiche Verteilung von gesellschaftlichen Chancen, Ressourcen und Zugängen auszugleichen – damit niemand mehr am Anfang seines*ihres Lebens mit einem Vorsprung startet. Dem deutschen Staat böten Quoten außerdem die Chancen, im Kulturbetrieb seiner Verantwortung gerecht zu werden und eine Vorbildfunktion dahingehend einzunehmen. Zuletzt böten Quoten für uns als Gesellschaft die Chance gemeinsam eine gleichberechtigtere Zukunft zu gestalten, in der alle Menschen gleichermaßen am Kulturbetrieb teilhaben. Denn entspräche so ein Austausch nicht genau dem, was Kultur ausmacht?

Autor

Foto: Gökçe Berndt

Demba Sanoh ist einer der drei Gründer von Misc, der Agentur für kulturellen Wandel. Er ist Historiker und publiziert als freier Autor vorrangig zu seinen Themenschwerpunkten Rassismus und Kolonialismus – über die er auch als Keynote Speaker und Experte auf Podiumsdiskussionen spricht. Außerdem hat er langjährige Erfahrung im Kulturbetrieb und arbeitet als Tourmanager, Produktionsleiter und Künstler*innenbetreuer für verschiedene Bands und Festivals im deutschsprachigen Raum. In seiner Funktion als Mitgründer von Misc verbindet er seinen Expertisen beiden und schult Unternehmen und Institutionen in der Kultur- und Musikbranche zu Themen wie Diversität und Diskriminierungssensibilität.

Transition: Etablierung einer nachhaltigen Transformationskultur durch Kollaboration

14. März 2022

Die Krisen der Gegenwart haben die strukturellen und inhaltlichen Defizite des Kultursektors bei der Bearbeitung der großen Transformationsbewegungen schonungslos offengelegt. Es wird immer spürbarer, dass Kulturinstitutionen zwar über ein enormes gesellschaftliches Innovationspotenzial verfügen, dieses aber kaum genutzt wird, da sich ihre Strukturen als erstaunlich wenig anpassungsfähig an komplexe gesellschaftliche Veränderungen erweisen. Kultureinrichtungen scheinen häufig willens, aber schlicht nicht fähig, in angemessener Form und Geschwindigkeit auf Herausforderungen zu reagieren, geschweige denn selbst zu Treiberinnen für Innovationen zu werden, um zukunftsfähig wie anschlussfähig zu bleiben.

Mit Blick auf den Diskurs der #neueRelevanz müssen wir uns als Kulturbetriebe fragen lassen, warum Künstler*innen durch die Mittel der künstlerischen Praxis permanent laborhaft agieren und die Suche nach Neuem ihr Handeln bestimmt, wohingegen der kulturelle Überbau – die Verwaltung und Ermöglichung der kreativen Arbeit – in Strukturen beharrt und nicht in der Lage ist, diese wertvolle Ressource für sich zu nutzen.

Die mutige und entschlossene Erneuerung interner Strukturen hin zu kollaborativen und ko-produzierenden Organisations- und Arbeitsformen ist aus unserer Sicht die notwendige Voraussetzung, Potenziale auf allen Seiten zu aktivieren und einen relevanten gesellschaftlichen Beitrag zu einer ernst gemeinten Kultur der Nachhaltigkeit und einem starken öffentlichen Gemeinwesen zu leisten.

Insbesondere eine kommunale Kulturverwaltung wie das Kulturforum Witten AöR verfügt in der Fläche über ein besonderes Potenzial: Sie ist Trägerin von öffentlichen Kultureinrichtungen wie dem Märkischen Museum, dem Stadtarchiv, der Bibliothek und der Musikschule, zugleich Organisatorin von multiplen Schnittstellenposition zwischen Kulturschaffenden, regionalen Institutionen und stadtgesellschaftlichen und -politischen Akteur*innen – gebündelt in der Funktion eines Kulturbüros – und Betreiberin der vielfältig bespielten Veranstaltungsstätten Saalbau und Haus Witten, die zunehmend für bürgerschaftliche Initiativen und lokale Künstler*innen geöffnet werden. An vielen Stellen gleichzeitig können hier Ökosysteme vitalisiert werden, die gesellschaftliche Innovation hervorbringen und damit flächendeckend einen Beitrag in Sachen Nachhaltigkeit, Digitalität und Diversität leisten.

An dieser Stelle möchten wir eine Zwischenbilanz insbesondere der Arbeitsfelder Nachhaltigkeit und Digitalität, der »Twin Transition«[1], die seit gut einem Jahr innerhalb unseres Betriebs als Querschnittsaufgaben bearbeitet werden, ziehen. Welchen Beitrag zum allgemeinen Diskurs der Relevanz von Kultureinrichtungen können wir anbieten?

Das »Wittener Modell«: Über Möglichkeitsräume gemeinsam Zukunftsfähigkeit (er)lernen

In Witten erproben wir seit 2019 wie Kollaboration als Organisationsform uns dabei helfen kann, innovationsfördernde Strukturen zu etablieren. Angelehnt an Mark Terkessidis’ Verständnis verstehen wir Kollaboration als eine breite Anschlussfähigkeit hinsichtlich einer sich permanent ändernden Umwelt.[2] Diese Anschlussfähigkeit gilt es als eigenständige Routine zu internalisieren. Als Handlungslogik ermöglicht Kollaboration neue Akteurskonstellationen und die Erschließung neuer Wissensbestände. Im Gegensatz zur Kooperation, die weiterhin auf Basis bestehender Routinen und Rollen funktioniert, können so völlig neue Handlungskontexte und Produktionslogiken entstehen. Sie befähigen uns, mit Blick auf Pluralität und Komplexität der VUKA-Welt[3] agil und responsiv gesellschaftliche Herausforderungen und Problemlagen zu adressieren und als transformative Kraft aktiv eine gemeinwohlorientierte Gesellschaft mitzugestalten.

Zukunftsfähigkeit evoziert den Gedanken »von vorne« zu denken. Weg von bestehenden Systemlogiken und Pfadabhängigkeiten hin zu Potenzialen und Möglichkeitsräumen. Die Kulturwissenschaftlerin und Nachhaltigkeitsforscherin Hildegard Kurt bezeichnet das als die Fähigkeit »von vorne auf das Jetzt zu blicken« und damit wieder zu lernen, die Zukunft zu gestalten.[4] Dies erfordert allerdings einen »system reset« und wir als Kulturorganisationen müssen uns fragen, wie wir mit Blick auf die beschriebenen Herausforderungen unser System Kultur von der Zukunft her im Jetzt gestalten wollen und welchen aktiven Beitrag wir für die Gesellschaft leisten. Gerade weil Kultur ihre Kraft insbesondere vor Ort entfaltet, wird die große Frage insbesondere kommunal geprägter Strukturen sein, wie wir die Kulturakteur*innen in der Fläche befähigen von der Zukunft her zu denken und sowohl ihre Arbeit als auch ihre Organisationen dahingehend auszurichten.

Veränderung im organisationalen Handeln am Beispiel des Kultursommers

Kollaborative Arbeitskontexte ermöglichen dabei den Mitarbeiter*innen im Betrieb projektbasiert abseits der bestehenden Routinen, Hierarchien und Pfadabhängigkeiten ihre Expertisen und Leidenschaften in offenen Denkprozessen einzubringen und so neue Herangehensweisen und Denkmuster zu erproben. Diese experimentellen Suchbewegungen im Sinne eines Open-Innovation-Ansatzes erlauben Innovation im Kleinen. Entscheidende Gelingensbedingung ist hierbei die Etablierung ambidextrischer Beibootstrukturen[5]. Konkrete Erfahrungen konnten wir im Frühjahr und Sommer 2021 sammeln. Mithilfe einer szenografischen Intervention auf dem Saalbau-Vorplatz (»Saalbau_Neubau«) haben wir einen Ort geschaffen, der so vieles gleichzeitig sein konnte: Verweilort, Multifunktionsspielfläche und Plattform für Bürger*innen, die als Mitdenkende, Experimentierende und Beratende ernst genommen wurden. Der Saalbau wurde so mit beschränkten Mitteln temporär zu einem Gemeinschaftsort – ganz im Sinne der »urban commons« – der nun die langfristige und nachhaltige Transformation des Ortes erst möglich machte.

Im Verlauf des Kultursommers entstanden Pop-up-Ausstellungen in offenen Containern mit Schulklassen, Präsentationen des Stadtarchivs und des Kulturbüros bis hin zu Workshops mit Kindern und Jugendlichen, Urbane Produktionen, theaterpädaogische Formate und Tangotanz. In nur vier Wochen wurde mit dem Kultursommer Witten von und mit rund 150 Akteur*innen ein Open-Air-Festival geplant und umgesetzt, dass Bewohner*innen eine analoge Form der Teilhabe ermöglichte und gleichzeitig Künstler*innen endlich die Möglichkeit gab, ihre Leidenschaft wieder analog zu präsentieren.

Im Sommer 2021 konnten wir (endlich) Geschwindigkeit aufnehmen und zugleich der Selbstbehauptung Taten folgen lassen. Diese nun für alle sichtbaren Ergebnisse – im Sinne eines Prototypings – sind für uns das entscheidende Argument, die Kultur (und mit ihr das künstlerische Denken, die künstlerische Methode) als wichtige Nachhaltigkeitsdimension ernst zu nehmen. Als konkrete Maßnahme, die aus dem Team heraus entwickelt wurde, diente das Labor »Kultursommer« und die damit verbundene Öffnung, den Vorplatz als Ort inklusiver zu denken – nicht zuletzt unter dem Aspekt der sozialen Nachhaltigkeit – und half dabei, uns vom konkreten Beispiel aus von außen nach »innen« vorzuarbeiten.

Möglichkeitsraum 1: Digitallabor als Ort der Verhandlung von Digitalität

Möglich geworden durch eine beträchtliche Anschubfinanzierung zweier Förderungen (Beisheim Stiftung[6] und Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen) entstand im Herbst 2021 im Innern des Saalbaus ein Digitallabor mit integriertem Content-Studio. Die zunächst dringend benötigten technischen Anschaffungen wurden von vornherein nach nachhaltigen Kriterien modular geplant und beschafft und stehen künftig zur selbständigen Nutzung und möglichst betreuungsarm den Mitarbeitenden ebenso wie Ko-Produzierenden (der Stadtgesellschaft, der freien Szene etc.) zur Verfügung. Flankiert wird die Einrichtung von einem umfangreichen Capacity Building für alle Beteiligten, gesteuert und moderiert durch die Personalstelle für Digitale Transformation.

Das Digitallabor ist konkreter Ort des Lernens und Produzierens sowie zugleich Möglichkeitsraum – konzipiert als modular nutzbares Studio für Kulturakteur*innen in Zeiten der Digitalität. Ob für Kunst-Podcasts, den nächsten Livestream bei Twitch oder ein VR-Projekt im Stadtraum: mit Methoden der Kollaboration und Ko-Produktion entsteht hier erste neue Formatierungen für die Region und ihre Communities.

Unsere Mission trägt: Derzeit planen und entwickeln wir, möglich geworden durch das Förderprojekt »dive in« der Kulturstiftung des Bundes, unsere erste Spielzeit der zukünftigen Digitalen Sparte des Saalbaus. »Der Raum zwischen 0 und 1« lautet ihr Arbeitstitel und er ist sprechend: Kleinere und größere Hybridformate, die die Möglichkeiten und Visionen des Digitalen mit dem Potenzial des analogen Ortes unter künstlerischen Vorzeiten zusammenbringen, werden Wirklichkeit. Die Anpassungsfähigkeit an ihr Publikum und die permanente Wandlungsfähigkeit ist ihnen durch die Wahl der künstlerischen Mittel, den digitalen Medien, immanent.

Relevante Indikatoren für die Wirksamkeitsmessung des Digitallabors:

  • Investive Förderungen WLAN-Infrastruktur und digitale Ertüchtigung / Inklusion
  • Initiale Projektförderungen für stationäres und mobiles technisches Equipment Digitallabor und digitale Programmierung
  • Ergänzende Projektförderung für einführendes Capacity Building (10 Workshops für ca. 50 feste und freie Mitarbeitende) als Prototyp für ein fortlaufendes Learning & Development Programm
  • nachhaltige Qualifizierung von technischem Personal sowie Einrichtung und Besetzung einer neuen Ausbildungsstelle IT Systemadministrator (gemeinsam mit Stadt Witten)
  • Prototyping von 4 hybriden Formaten mit dem Ziel der Realisierung von insgesamt 32 einzelnen Veranstaltungen und Entwicklung von ca. 10 ko-produzierten Projekten
  • Inbetriebnahme eines »Studio to go« zur Nutzung durch die einzelnen Institute für Zwecke der kulturellen/digitalen Bildung
  • Betriebskonzept für die interne Nutzung und perspektivisch Öffnung für kollaborative Projekte und (teil-)kommerzielle Nutzung in Ergänzung zum Vermietgeschäft.

Möglichkeitsraum 2: Saalbau als Ort der sozial-ökologischen Transformation

Die sozial-ökologische Nachhaltigkeit braucht hingegen ein anderes Narrativ als die allgegenwärtige Projektlogik, die auch vor der digitalen Programmatik nicht Halt macht. Hier muss es gleichermaßen um eine strukturelle Verankerungung von Wissen und Prozessen in allen Instituten des Kulturforums gehen. Das Ziel muss sein, nachhaltiges Handeln in allen Instituten zum »neuen Normal« werden zu lassen und unsere internen wie externen Innovationspotenziale zu aktivieren.

Der beschriebene kollaborative Ansatz erlaubt genau das – den Aufbau resilienter Strukturen, die stabil, aber nicht statisch sind und es so allen Mitarbeiter*innen erlauben in ihrem eigenen Entscheidungsspielraum ökologisch nachhaltig zu agieren. Ganz im Sinne der Transformation muss die Umstellung auf einen ökologischen Betrieb als fundamentaler und vor allem dauerhafter Wandel verstanden werden und nicht als ein Projekt, dass für die nächsten ein bis fünf Jahre auf der Agenda steht und dann wieder verschwindet.

Rekurrierend auf das bereits erlernte Handlungswissen durch die digitale Transformation, die sich schon jetzt von Experiment und Protoyping in eine Phase der Verstetigung verschiebt, gehen wir auch die Querschnittsaufgabe Nachhaltigkeit kollaborativ an und wollen methodisch von den Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre profitieren.

Für die Umsetzung eines solchen Vorhabens braucht es einen gleichzeitig strukturierten sowie iterativen Prozess, der die gegebenen finanziellen und personellen Ressourcen berücksichtigt und gesamtheitlich rahmt.

Innerhalb dieses fortlaufenden strategischen Prozesses haben wir uns daher mit Blick auf eine breite Anschlussfähigkeit schon frühzeitig dazu entschieden, das Kulturforum nach der »obersten« Rahmung der Sustainable Development Goals (SDGs) der UN Charta 2030 auszurichten. Die Nachhaltigkeitsziele »hochwertige Bildung« (UN SDG 4), »nachhaltige Städte und Gemeinden« (UN SDG 11) und »Maßnahmen zum Klimaschutz« (UN DSG 13) bieten aus unserer Sicht den nötigen Freiraum und sind gleichzeitig konkret genug, als dass jede*r Mitarbeiter*in sie in das eigene Tun integrieren kann. Mit den Mitteln des Capacity Buildings wollen wir diese Transformation im ganzen Betrieb verankern und umsetzen.

Entscheidend für diese Umstrukturierung ist die Erhebung und das Verständnis von Daten, die im ersten Schritt den Status des Kulturforums in Bezug auf z.B. den Ausstoß von CO2 ermitteln. Diesen Weg sind wir schon im letzten Jahr gegangen und nehmen an dem Pilotprojekt des Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit teil, in dem die Klimabilanzierung speziell für Kulturbetriebe erprobt wird[7]. Es geht sowohl um die Umsetzung von kleinen Maßnahmen, wie der Einführung einer Gelben Tonne zur sachgerechten Mülltrennung, als auch den Wunsch einer energetischen Sanierung aller Gebäude des Kulturforums.

Einmal angeregt entstehen weitere Visionen, die die ökologische mit der kulturellen Perspektive der Nachhaltigkeit verschränken: Vom klimaresilienten Beet zum Stadtwald mit Aufenthaltsqualität, von der einzelnen Künstler*innen-Residenz zu der Skizzierung eines nachhaltigen Ökodorfs aus Tiny Häusern.

Relevante Projekte in Bezug auf die sozial-ökologische Nachhaltigkeit:

  • naturnahe Gestaltung der Beete auf dem Vorplatz vom Saalbau
  • Umgestaltung des Foyers im Saalbau mit deutlich mehr Pflanzen (Raumklima) und Erschließung neuer Räume als Club mit bereits vorhandenen Materialien
  • Neueinrichtung/Ausstattung von Räumen nach nachhaltigen Kriterien, auch unter der Berücksichtigung ästhetischer wie funktionaler Voraussetzungen (Studioatmosphäre und Setting im Digitallabor: Akustikwand aus nachwachsenden Materialien, Möbel aus recyceltem Material)
  • Zusammenarbeit mit der Stadt Witten zum Ausbau der Grünflächen im Sinne der Grünen Infrastruktur durch Fördergelder zu erreichen
  • Formulierte Zukunftsprojekte: PV-Anlage, Regenwasser Managementsystem, LED Beleuchtung, Ökostrom
  • Nachhaltigkeitskriterien bei der Vergabe und Beschaffung berücksichtigen
  • Umweltmanagementsysteme (Ökoprofit, GWÖ, EMAS etc.).

Ende in Sicht?

Trotz erster sichtbarer Ergebnisse und eines erkennbaren Wandels müssen wir selbstkritisch festhalten, dass wir – wie so oft im Kultursektor –  in vielen Bereichen über die Behauptung noch nicht hinausgekommen sind und einen messbaren Impact schuldig bleiben: Hier müssen wir nun noch stärker in die Mühen der Ebene einsteigen. Existierende Routinen, eine hohe Arbeitsbelastung und in Teilen auch (personal-) rechtliche Rahmenbedingungen erschweren die Etablierung neuer Arbeits- und Handlungskontexte.  Zudem mangelt es uns trotz der bereits getroffenen Maßnahmen flächendeckend noch an erforderlichen Kompetenzen und Ressourcen, um unsere Transformationsanstrengungen wirksam zu katalysieren. Da der Handlungsspielraum der Stadt Witten als haushaltsschwache Kommune extrem beschränkt ist und die finanziellen Folgen der Pandemie ihr Übriges leisten werden, sind wir abhängig von Förderfolien, die uns eine Erneuerung unserer Infrastrukturen (baulich, inhaltlich und personell) ermöglichen.

Unsere konkreten Forderungen:

  • Förderkulissen auf die Erneuerung von Infrastrukturen ausrichten
  • Qualifizierung des Sektors über konkrete Personal- und Potenzialentwicklungsprogramme fördern
  • Transferstrukturen über Transformationsagent*innen in den Einrichtungen und übergreifenden Transferstellen aufbauen.

Autor*innen

Randi Günnemann, Alissa Krusch, Jasmin Vogel vom Kulturforum Witten. Das Kulturforum Witten, Anstalt des öffentlichen Rechts, ist 2006 aus dem damaligen Kulturamt der Stadt Witten hervorgegangen und steht dabei heute archätypisch für die kommunale kulturelle Infrastruktur einer Mittelstadt in einer zwar urbanen, aber doch strukturschwachen Region und kann als Blauspause für ein vollkommen neues Verständnis der kulturellen Daseinsvorsorge und der dahinterstehenden Organisationsstrukturen stehen. Mit unserem Ansatz überprüfen wir, daher, wie Kommunen in ihrer Daseinsvorsorge aus dem ressourcenintensiven Wachstumsnarrativ aussteigen und über eine Reorganisation der Verwaltungsstrukturen neue Wege sowie einen kulturellen und digitalen Wandel hin zu einer nachhaltigen Stadtgesellschaft beschreiten können.


[1] Die Europäische Kommission formuliert den Zusammenhang der Transformationsthemen z.B. als »Europe must leverage the potential of digital transformation, which is a key enabler for reaching the Green Deal objectives.«, Vgl. https://events.euractiv.com/event/info/the-twin-transition-how-can-green-growth-and-digital-transformation-go-hand-in-hand-to-drive-europes-recovery [Aufgerufen am 25.1.2022].

[2] Mark Terkessidis hält mit Blick auf Innovation fest: »Nicht der Wettbewerb zwischen Individuen oder Organisationen lässt Neues entstehen, sondern deren Offenheit und Anschlussfähigkeit«. (Mark Terkessidis Kollaboration, Berlin 2015, S. 119.).

[3] Anm.: VUCA ist ein Akronym und setzt sich aus Volatility (Volatilität), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) sowie Ambiguity (Ambiguität) zusammen. Nach Hoffmann »meint [VUCA] dabei die Unbeständigkeit und gleichzeitige Unberechenbarkeit des Organisationsumfeldes bei hoher Veränderungsgeschwindigkeit« (Erwin Hoffmann Systemisches Arbeiten für Kulturmanager: Praxis Kulturmanagement, Wiesbaden 2019: Springer Fachmedien Wiesbaden (essentials), doi: 10.1007/978-3-658-23733-2.S. 7).

[4] Vgl. Hildegard Kurt Von der Zukunft her gestalten. Eine kleine Reflexion in 3 Sequenzen, in: Kulturpolitische Gesellschaft (Hrsg): Zeit für Zukunft. Inspirationen für eine klimagerechte Kulturpolitik, Bonn 2020, S. 48f.

[5] Die Methode der organisationalen Ambidextrie befähigt die Organisation parallel zum Alltagsgeschäft mit neuen Arbeitsformen zu experimentieren. Grundvoraussetzung ist dabei eine Umverteilung und Priorisierung der jeweiligen alltäglichen Arbeitsaufgaben, um so die notwendigen Räume und Ressourcen zu schaffen. (Vgl. Henning Mohr und Diana Modaressi-Tehrani Museen der Zukunft. Trends und Herausforderungen eines innovationsorientierten Kulturmanagements, in: Henning Mohr und Diana Modarressi-Tehrani (Hrsg..): Museen der Zukunft. Trends und Herausforderungen eines innovationsorientierten Kulturmanagements. S. 18ff.

[6] Förderprogramm »kulturstark«: https://www.beisheim-stiftung.com/de/de/projekte/kulturstark [Aufgerufen am 25.1.2022].

[7] Weitere Informationen zum Netzwerk, u.a. https://aktionsnetzwerk-nachhaltigkeit.de/projekte/pilotprojekt-klimabilanzen-in-nrw/ [Aufgerufen am 06.03.2022].

Über Checklisten hinaus

7. März 2022

Ein Leitfaden für diversitätsorientierte Personalgewinnung im Kunst- und Kulturbereich

Einleitung

»Wir würden ja gerne qualifizierte Personen mit Migrationshintergrund/ of Color / mit Behinderung einstellen – doch wie erreichen wir eine diversere Bewerber*innenschaft? Können Sie unsere Ausschreibung nicht über Ihre Verteiler verschicken?« Diese Frage wird uns häufig in der Begleitung von Häusern ganz zu Anfang gestellt, oftmals verbunden mit dem Wunsch nach Checklisten, Best-Practice-Beispielen und konkreten, schnell umzusetzenden Handlungsansätzen. So verständlich dieser Wunsch ist – so einfach ist er nicht einzulösen. Denn es gibt keine Patentrezepte: Diversitätsorientierte Personalgewinnung ist ein kontinuierlicher Prozess, der im Grunde nie abgeschlossen ist. Denn Maßnahmen müssen immer wieder neu evaluiert, erweitert oder nachjustiert werden. Zudem müssen diese auf die jeweilige Organisation zugeschnitten sein, das heißt: Jede Organisation, jede Institution, jedes Haus muss eigene spezifische Lösungen und Maßnahmen für personalbezogene Öffnung finden.

Außerdem – und das ist besonders wichtig: Diversität entsteht nicht einfach, weil ein paar Personen eingeladen werden, die vorher nicht anwesend waren. Damit die Einstellung von einzelnen, zum Beispiel Schwarzen Personen oder People of Color, nicht zu »Tokenism« führt – das heißt, dass Personen feigenblattartig oftmals auf unteren Hierarchieebenen eingestellt werden, ohne dass eine wirkliche Einbindung von neuen Perspektiven institutionell mitgedacht ist – braucht es einen diversitätssensiblen Blick auf die gesamte Institution und einen Willen zur Veränderung.

Mit diesem Leitfaden zur diversitätsorientierten Personalgewinnung möchten wir zu einem Nachdenken über das Wirken diskriminierender, ausschließender Barrieren, Normen und Verfahren einladen und den Blick öffnen für Handlungsspielräume einer diskriminierungskritischen Praxis. Wir zeigen zuerst, was das Konzept Diversitätsorientierung bedeutet und welche Anforderungen sich daraus für Kulturbetriebe ergeben.

Danach blicken wir auf vier erste Schritte, um Personalpolitik diversitätsorientiert zu gestalten. Die Grundsätze, Kriterien und Handlungsempfehlungen, die wir im Folgenden vorstellen, basieren auf unserer Beratungspraxis sowie auf Texten und Handreichungen, die größtenteils von Personen mit eigenen Diskriminierungserfahrungen und langjähriger Expertise und Praxiserfahrung im Feld verfasst wurden. Diese Verweise finden sich immer wieder in diesem Text verstreut, aber auch gesammelt im Literaturverzeichnis am Ende des Beitrags.

Diversitätsorientierung – was ist das eigentlich?

Wenn wir in unserer Arbeit von »Diversitätsorientierung« sprechen, beziehen wir uns vor allem auf einen Diversitätsbegriff, der in der Tradition von Schwarzen und queeren Bürgerrechtsbewegungen und Bewegungen von Menschen mit Behinderungen in den USA im 20. Jahrhundert steht und insbesondere Machtverhältnisse und deren Geschichte in den Blick nimmt sowie Ausschlüsse auf individueller, gesellschaftlicher und struktureller Ebene thematisiert. So sind beispielsweise Rassismus, Sexismus sowie Diskriminierung in Bezug auf sozio-ökonomische Herkunft (Klassismus) oder in Bezug auf Behinderung (Ableismus) Diskriminierungsformen, die in sozialen und institutionellen Strukturen – auch in Kultureinrichtungen – immer noch bestehen und unbewusst und ungewollt reproduziert werden. Es ist also wichtig, bei der Verwendung des Wortes »Diversity« neben der positiven Bedeutung von Vielfalt auch diskriminierende Strukturen zu benennen und die Schaffung von Chancengerechtigkeit in unterschiedlichsten Lebenszusammenhängen anzustreben. 

Für unseren Arbeitsansatz bedeutet das: Wir denken Diversität eng verschränkt mit einer Antidiskriminierungspolitik, die die Schaffung gerechterer Zugänge in unterschiedlichen Diversitätsdimensionen anvisiert, so dass Personen unabhängig von den eigenen Lebenslagen und der eigenen Identität selbstverständlich gleichwertig und gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben können.

Diversitätsorientierte ÖFFNUNG heißt… ver_lernen von Anfang an

Die Umsetzung von Öffnungsprozessen bedeutet nicht einfach, nur einer vorhandenen Stuhlreihe einen freien Stuhl hinzuzufügen. Sondern, um bei diesem Bild zu bleiben: Öffnung heißt, dass der Raum in Bewegung kommt, dass aufgestanden wird, Stühle gerückt werden, in ein gemeinsames Sprechen, Reflektieren, Planen und Neukonzipieren gegangen wird. Und dies nicht als spontaneUmräumaktion, sondern als Teil eines Auseinandersetzungsprozesses, eines aktiven »Unlearning«, wie es die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Spivak benennt. 

»Unlearning« nicht im Sinne eines Vergessens, sondern des Ver_lernens – einer aktiven Auseinandersetzung mit gelernten Selbstverständnissen, Privilegien sowie auf Organisationskultur bezogenen impliziten Normen, unhinterfragten Verfahren und historisch gewachsenen Machtstrukturen – hinzu einer Verantwortungsübernahme. Denn so wichtig Nachdenken, Lernen und Reflektieren auch ist – es sollte in Anlehnung an Sara Ahmed nicht zu einem selbstreferentiellen Prozess werden, bei dem es bei einem »sich gut fühlen« (S. 61) bleibt, sondern in eine gelebte Praxis übergehen. Wir begreifen dies als Teil von Professionalität, ohne die es für Kultureinrichtungen heutzutage nur schwer möglich ist, angemessen auf die aktuellen künstlerischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, auf Diskurse, Aufträge und Zielgruppen einzugehen.

Diversitätsorientierung als Querschnittsaufgabe verstehen und leben:

Um sich diversitätsorientiert entwickeln zu können, muss in einer Organisation ein Bewusstsein für Diskriminierungen und der tatsächliche Wille zur Veränderung vorhanden sein. Führungskräfte, wie z.B. Personalverantwortliche, Gleichstellungsbeauftragte oder Bereichsleitungen, sind besonders bei Veränderung von Personalpolitik Schlüsselakteur*innen, da sie die Schnittstelle zu den Teams bilden und mit Befugnissen oder Ressourcen ausgestattet sind. Auch wenn diesen Personen eine besondere Rolle zukommt, sollte Diversitätsorientierung – als Anti-Diskriminierungspolitik und gelebte Betriebskultur verstanden – alle Personen im Team inkludieren und von allen mitgetragen werden. 

Die Etablierung einer Steuerungs-/Arbeitsgruppe mit Vertreter*innen aller Arbeitsbereiche kann hierbei ein Weg sein, um Mitarbeiter*innen in Prozesse einzubeziehen und Maßnahmen auf Ebene einer konkreten Arbeitspraxis zu entwickeln und zu implementieren.

Lernräume schaffen:

Diversitätsorientierung beinhaltet ein Lernen über Diskriminierungsverhältnisse und über ausgrenzende Strukturen, sowie das Finden einer gemeinsamen Definition grundlegender Begriffe wie beispielsweise »Diversität«. Gezielte Fortbildungsangebote für das gesamte Team – auch für die Leitungsebene – Durchführung von Strategie-/Teamtagen zum Thema Diversitätsorientierung, aber auch generell die Etablierung einer Kultur des Austauschs, der gemeinsamen Reflexion, zum Beispiel in Teamsitzungen oder durch Supervisionsangebote, sind hierbei wichtige Schritte. Damit Lernen nicht auf Kosten von marginalisierten Personen erfolgt, sollte Empowerment und ein parteilicher Ansatz bei Diskriminierungen zentral mitgedacht werden – beispielsweise indem Mitarbeitende, die geteilte Erfahrungen von Diskriminierungen machen, an Empowermentworkshops teilnehmen können oder eigene Austausch- und Vernetzungsräume haben.

»Positive Diskriminierung«

Oft wird bei Quoten und ähnlichen Maßnahmen von »positiver Diskriminierung« gesprochen. Dieser Begriff ist im Kontext von Antidiskriminierungspolitiken jedoch irreführend. Hierfür ist es wichtig, die begriffliche Unterscheidung von »Ungleichbehandlung« und »Diskriminierung« zu verstehen. Letztere beinhaltet eine gesellschaftliche Benachteiligung. Ungleichbehandlung ist, soweit sie sachlich begründet ist, gesetzlich vertretbar. Anwendung findet sie zum Beispiel durch das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG) und das Bundesgleichstellungsgesetz zur Gleichstellung von Männern und Frauen. Die Ungleichbehandlung oder Bevorzugung erfolgt jedoch ausdrücklich bei gleichen Qualifikationen. Ein verbindliches Gesetz für die Förderung von Menschen, die Rassismus erfahren, gibt es noch nicht.

Holen Sie sich Unterstützung:

Wenn Sie sich dazu entschlossen haben, sich diversitätsorientiert zu öffnen, ist für einen nachhaltigen und wirksamen Prozess eine externe Beratung und Begleitung durch Expert*innen mit Erfahrungswissen zu Diskriminierung (z.B. Organisationsberater*innen, Prozessmoderator*innen, Supervisor*innen) hilfreich. Ein Blick von außen und die explizit zum Thema passende Expertise speziell zum Thema diversitätsorientierte Organisationsentwicklung, unterstützt dabei, mit Planung und Reflexion vorzugehen. Nicht zuletzt dafür müssen ausreichend finanzielle und zeitliche Ressourcen bereitgestellt werden.

Vier erste Schritte

Um Personalpolitik diversitätsorientiert zu gestalten reicht es nicht, wie zu Anfang schon erwähnt, nur andere Verteiler bedienen zu wollen. Vielmehr muss eine umfassende Hinterfragung der bisherigen Personalpolitik stattfinden, um Stellschrauben zu identifizieren, anhand derer Barrieren abgebaut und Öffnung vorangebracht werden können. Das Arts Council England hat mit dem Culture Change Toolkit eine Sammlung von Anleitungen und Best Practice Beispielen für eine diversitätsorientierte Personalpolitik erarbeitet und online zur Verfügung gestellt. Anhand dieser Punkte und Fragen können Sie einerseits Ihren Status Quo überprüfen und erhalten Anhaltspunkte zu Maßnahmen, die Sie für eine diversitätsorientierte Personalpolitik umsetzen können. Auch hier gilt: Maßnahmen müssen auf die jeweilige Organisation oder den jeweiligen Betrieb zugeschnitten sein, weshalb die Leitfragen keine organisationsspezifische Analyse Ihrer Personalpolitik ersetzen. Dennoch gewinnen Sie hier schon einmal einen Eindruck, welche Themen und Fragen von Bedeutung sein können. Auf vier Punkte, nämlich die Analyse von Ausschlüssen, Verfahren der Stellenbesetzungen, Betriebsklima sowie Zugänge, möchten wir im Folgenden näher eingehen:

1. Der Blick auf den Status Quo

Vor der Maßnahmenentwicklung ist ein Blick auf den Status Quo Ihrer Personalpolitik essenziell. Bezüglich der Analyse von Ausschlüssen verschiedener von Diskriminierung betroffener Gruppen können Sie sich an den Dimensionen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes orientieren, zusätzlich empfehlen wir die Dimensionen der sozialen bzw. sozio-ökonomischen Herkunft sowie Diskriminierung aufgrund ostdeutscher Herkunft mit zu berücksichtigen.

Es ist wichtig zu erfahren, welche von Diskriminierung betroffenen Gruppen auf welcher Ebene in der Organisation vertreten sind. Eine eigenständige Erhebung zu Diskriminierungserfahrungen innerhalb des Personals durchzuführen, bedarf allerdings Fachexpertise und sollte im besten Fall ausgelagert und von externen Akteur*innen übernommen werden. Zum einen ist es datenschutzrechtlich anspruchsvoll, sensible Daten von Angestellten zu erheben und zu verwalten. Zum anderen birgt dies das Risiko, diskriminierende Zuschreibungen zu (re)produzieren, wenn beispielsweise keine Selbstbezeichnungen benutzt werden oder Diskriminierungserfahrungen aufgrund von äußerlichen Merkmalen vermutet und zugeschrieben werden.

2. Verfahren der Stellenbesetzung

Da Ausschlüsse nicht erst an der Tür zu Kultureinrichtungen beginnen, sondern beispielsweise schon im Bildungsbereich wirkmächtig sind und somit Bildungsbiografien nachhaltig beeinflussen können, fallen Personen, die Diskriminierungen erfahren, oftmals durch Bewerbungsraster, da ihr Lebenslauf von der geradlinigen Norm abweicht oder Referenzen wie die Ausbildung an einer renommierten Kunsthochschule fehlen. Eine diversitätsorientierte Personalgewinnung sollte diese Ausschlüsse anerkennen und beispielsweise, wenn möglich, vergleichbare Qualifikationen als Alternative zu Hochschulabschlüssen in Betracht ziehen oder Brüche in Lebensläufen als Erfahrungsschatz werten.

Für eine diversitätsorientierte Personalpolitik ist es daher essenziell, spezifisch die Verfahren der Stellenbesetzung zu betrachten und auf deren Vergleichbarkeit hinzuarbeiten. In großen Museen laufen Verfahren der Stellenbesetzung beispielsweise oftmals stark formalisiert ab mit wenig Spielraum für Reflexion und Veränderung. Das heißt beispielsweise, dass die gängigen Zugangsvoraussetzungen in Bezug auf Bildungsabschlüsse und Erwerbs-/ oder künstlerische Laufbahnen (wer hat wo studiert, an welchen Orten schon ausgestellt, gearbeitet, publiziert etc.) sehr hoch sind. 

In anderen Bereichen des Kultursektor hingegen, insbesondere bei künstlerischen Berufen im Theaterbereich, finden Vorstellungsgespräche oft informell, zum Beispiel nach einer Vorstellung auf ein Bier in der Theaterkantine statt. Dies führt dazu, dass die Qualifikationen der Bewerber*innen nicht hinreichend verglichen werden, was bewirken kann, dass bewusste oder unbewusste Zuschreibungen und Vorurteile verstärkt werden. Der sogenannte Unconscious Bias (zu deutsch: Unbewusstes Vorurteil) wird hier wirkmächtig: Studien belegen die Annahme, dass Personen vorzugsweise eingestellt werden, die der einstellenden Person in Bezug auf Geschlecht, Herkunft, Werdegang, Habitus ähneln.

Darüber hinaus gibt es einige weitere Aspekte zu beachten:

•  Gibt es Maßnahmen zur Herstellung von Chancengerechtigkeit in der Personalauswahl? (z.B. anonymisierte Bewerbungsverfahren, standardisierte Interviewleitfäden, Quoten zum Nachteilsausgleich).

•  Wird bei Bewerbungsverfahren darauf geachtet, eine Vielfalt an biografischen und fachlichen Erfahrungen zu berücksichtigen und wertzuschätzen?

•  Werden die herkömmlichen Ausschreibungskanäle erweitert?

•  Wird im Vorstellungsgespräch Diversitätskompetenz abgefragt und als Auswahlkriterium bewertet?

Ausschreibungstexte sollten die Stelle – im Hinblick auf Aufgaben, Anforderungen, Qualifikationen, Stundenzahl etc. – so genau wie möglich beschreiben. Auf diese Punkte zu achten, fördert die Zugänglichkeit von Ausschreibungstexten. Überfrachtete Texte mit ausgesprochen vielen und hohen zu erwartenden Anforderungen, können Bewerber*innen, die von Diskriminierung betroffen sind oder deren Lebenslauf von der erwarteten Norm abweicht, abschrecken und davon abhalten, sich überhaupt zu bewerben. Demgegenüber ist es für die Zugänglichkeit der Ausschreibung vorteilhaft, einen Abschnitt darüber zu verfassen, was Sie als Arbeitgeber*in bieten und wie Sie sich selbst als lernende Institution verstehen. Dies können Weiterbildungsmöglichkeiten sein, Hinweise zu Prozessen der Organisationsentwicklung, diskriminierungskritische Reflexions- und Empowerment-Räume oder andere Maßnahmen zur Förderung des Betriebsklimas. Eine Benennung solcher Maßnahmen zeigt ein Bewusstsein dafür, dass auf beiden Seiten Erwartungen bestehen und auch seitens der Institution aktiv Verantwortung für eine Diversitätsorientierung übernommen wird.

3. Förderung eines angenehmen Betriebsklimas

Wie schon anfänglich gesagt – Diversität entsteht nicht, indem Personen eingestellt werden, die vorher nicht da waren, sondern Diversität als gelebte Praxis benötigt Strukturen, in denen sich alle wohlfühlen und sich einbringen können. Doch in einem stark hierarchisierten Kulturbetrieb gelten oftmals ungeschriebene Normen, die dem Einbezug von unterschiedlichen Perspektiven entgegenstehen. Der Text »White Supremacy Culture« beschreibt beispielsweise, wie implizite Normen wie Perfektionismus oder Individualismus oder bestimmte Arbeitsweisen und Verfahren, wie z.B. die Fokussierung auf das geschriebene Wort als Teil der Organisationskultur, zu Ausschlüssen führen können, weil sie als Norm und Standard gelten, ohne dass das jemals bewusst und proaktiv von den in den Organisationen arbeitenden Menschen benannt oder ausgewählt wurde. Ein erster Schritt, um Raum für eine wirklich diverse Organisation zu schaffen, ist es, diese Normen und Standards erkennen und benennen zu können und darauf basierend konkrete Gegenstrategien zu formulieren. Die Etablierung einer wertschätzenden Betriebskultur, die Schaffung von Transparenz über Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen oder die Förderung von kollaborativen, gemeinschaftlichen Arbeitsweisen können hierbei beispielsweise wichtige Schritte sein, um eine Arbeitskultur zu schaffen, die Vielfalt anerkennt.

Folgende Fragen helfen bei der Reflexion bestehender Betriebskulturen weiter:

•  Gibt es eine Arbeitskultur, die Mitarbeitende dazu einlädt, eigene Ideen und unterschiedliche Erfahrungen einzubringen?

•  Können Aufgabenfelder und Arbeitszeiten so frei gestaltet werden, dass sie ein flexibleres Arbeiten ermöglichen?

•  Gibt es eine Transparenz über Entscheidungsprozesse und Vergütungspraxis?

•  Wird der Aufbau und die Nutzung von Empowerment-Räumen und Reflexionsräumen unterstützt? (z.B. durch Supervision, Teilnahme an Intervisionsgruppen, Möglichkeit zur Teilnahme an Empowerment-Seminaren)

•  Gibt es ein internes/externes Verfahren zum Umgang bei Vorfällen von Diskriminierungen – z.B. gibt es Ansprechpersonen, eine Antidiskriminierungs-Strategie/Policy?

•  Wird nachhaltig in die Einbindung von unterschiedlichen Communities sowie langfristige Vernetzung investiert?

4. Schaffung von ZUGÄNGEN von Anfang an

Auch (bezahlte) Praktika, Stipendienprogramme oder Freiwilligendienste wie BFD, FSJ-Kultur, Volontariate etc. können erste Ansatzpunkte sein, um langfristig Zugänge zu schaffen und um die Einstellung von Personen aus marginalisierten Gruppen gezielt zu fördern. Die in dieser Publikation beschriebenen Programme sind positive Beispiele: das im Rahmen des KIWit-Verbundes von der Stiftung Genshagen konzipierte Traineeprogramm zur diversitätsorientierten Nachwuchsförderung, welches neun Berufseinsteiger*innen mit eigener oder familiärer Migrationsgeschichte den Einstieg in einen Kulturbetrieb ermöglichte. Und die ebenfalls von der Stiftung Genshagen durchgeführte KIWit-School, die zum Zeitpunkt vor der Studienwahl ansetzt und Menschen, die sich für einen Beruf in Kunst und Kultur interessieren, deren Zugänge aber eingeschränkt sind, bei der Wahl des Studiengangs und bei der Bewerbung unterstützt. 

Es liegt hierbei in der Verantwortung der Institutionen und Häuser, Lern- und Qualifizierungsräume bereitzustellen, zu begleiten sowie sich selbst als lernende Institution zu verstehen – und letztendlich langfristige Perspektiven für Berufslaufbahnen im kulturellen Feld zu ermöglichen.

Folgende Fragen können bei der Schaffung von Zugängen unterstützen:

•  Nutzen Sie Vernetzungen und Kooperationen mit unterschiedlichen Communities, Selbstorganisierungen, Schulen, Jugendclubs etc., um Ausschreibungen zu verbreiten?

•  Bemühen Sie sich bei externen Beauftragungen, eine angemessene Vergütung und Honorierung anbieten zu können?

•  Wird Einsteiger*innen die Möglichkeit geboten, Einblick in unterschiedliche Arbeitsfelder zu erhalten?

•  Welche Fertigkeiten, welches Wissen wird weitergegeben? (z.B. Programme oder Konzepte zur Öffentlichkeitsarbeit zu gestalten, Anträge zu schreiben, Projekte zu planen, Finanzpläne zu erstellen etc.)

•  Welche zusätzlichen Weiterbildungsmöglichkeiten werden bereitgestellt?

•  Inwieweit wird frühzeitig an weiterführenden Arbeitsmöglichkeiten gearbeitet, bevor der Job endet?

Zu guter Letzt…

All dies sind nur erste Reflexionsfragen, die dabei helfen können, Stellschrauben für eine diversitätsorientierte Personalpolitik und letztendlich auch Organisationskultur in den Blick zu nehmen, den Status Quo zu überprüfen. Um konkret zu werden und eingefahrene Routinen neu denken zu können, ist aber eine externe Begleitung in Form von Fortbildungen, Workshops und/oder Prozessberatung elementar.

Eine diversitätsorientierte Öffnung lässt sich nicht allein abhandeln mit einem schillernden Leitbild, das auf dem Papier existiert, aber nicht Herzen und Strukturen erreicht. Sie ist keine Projekt-Checkliste, die es einfach abzuhaken und abzulegen gilt. Öffnungsprozesse sind immer auch Lernprozesse und setzen eine bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen (institutionellen) Kulturgebundenheit voraus. Das bedeutet auch, die Orientierung an der Mehrheitskultur als alleinigen Maßstab für das eigene Wahrnehmen und Handeln in Frage und andere Wissensarchive ins Zentrum zu stellen. Denn das Wissen, kulturelle Produktionen und Widerstandsbewegungen von Schwarzen Menschen und People of Color sind schon lange da – sie kommen jedoch im allgemeinen Kanon viel zu wenig zum Tragen, werden nicht gehört. Und hier sind wir alle gefragt, im Sinne einer De-Zentrierung Räume zu öffnen und Platz zu machen für andere Perspektiven, Geschichtsschreibungen, Deutungen.

words, words, words…

Auch die Auseinandersetzung mit Sprache ist ein wichtiger Teil eines Sensibilisierungs- und Lernprozesses, da Worte nicht neutral sind. Manche Begriffe müssen vielleicht ganz neu gelernt werden, klingen erst einmal fremd, sind nicht leicht zu verstehen, weil sie vielleicht akademischen Konzepten entspringen, oder sie sind Selbstbezeichnungen von Communities. Das kann irritieren, nachdenklich machen und herausfordern. Aber es liegt auch eine große Chance darin, eine Sprache zu finden, bei der sich alle gemeint und respektiert fühlen.

Lust auf Lernen können beispielsweise folgende Bücher, Publikationen, Seiten machen:

•  Glossar auf der Website von Diversity, Arts, Culture Berlin: https://www.diversity-arts-culture.berlin/diversity-arts-culture/woerterbuch

•  Glossar auf der Website von i-päd (Initiative intersektionale Pädagogik): http://www.i-paed-berlin.de/de/Glossar/ 

•  Oegg e.V. (2013): Leitfaden für rassismuskritischen Sprachgebrauch: https://www.oegg.de/wp-content/uploads/2019/12/Leitfaden_PDF_2014.pdf

•  Arndt, Susan / Ofuatey-Alazard, Nadja (Eds.) 2011: Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster: Unrast Verlag.

Dieser Text wurde bereits in der Broschüre »Diversitätsorientierte Nachwuchsförderung und Personalgewinnung im Kunst- und Kulturbereich. Erfahrungen der Stiftung Genshagen und ein Leitfaden für Kulturinstitutionen« publiziert. Wir bedanken uns sehr herzlich für die Möglichkeit der Zweitveröffentlichung.


Literaturverzeichnis

Ahmed, Sara (2012): On Being Included. Racism and Diversity in Institutional Life, Durham and London: Duke University Press.

Ahyoud, Nasiha; Aikins, Joshua Kwesi; Bartsch, Samera; Bechert, Naomi; Gyamerah, Daniel; Wagner, Lucienne (2018): Wer nicht gezählt wird, zählt nicht. Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten in der Einwanderungsgesellschaft – eine anwendungsorientierte Einführung. Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership, Citizens For Europe (Hrsg.), Berlin. Online verfügbar: www.vielfaltentscheidet.de/publikationen 

Aikins, Joshua Kwesi / Gyamerah, Daniel: Handlungsoptionen zur Diversifizierung des Berliner Kultursektors. Eine Expertise von Citizens For Europe, Berlin. Projekt: Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership. Im Auftrag der Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) e.V. & AKOMA Bildung & Kultur. Online verfügbar: https://vielfaltentscheidet.de/wp-content/uploads/2017/04/Final-f%C3%BCr-Webseite_klein.pdf 

Arts Council England (2017): Culture Change toolkit https://www.artscouncil.org.uk/advice-and-guidance/culture-change-toolkit#section-1 

DeutschPlus Broschüre (2018): »Vielfalt intersektional verstehen«. Ein Wegweiser für diversitätsorientierte Organisationsentwicklung. I-PÄD in Kooperation mit DeutschPlus von Tuğba Tanyılmaz, Edwin Greve (Autor*innen), I-Päd – Intersektionale Pädagogik (Migrationsrat Berlin e.V.), Sohal Behmanesh, Derya Binışık, DeutschPlus e.V. – Initiative für eine plurale Republik (Hrsg.), Berlin. Online verfügbar: https://www.deutsch-plus.de/wp-content/uploads/2018/01/vielfalt-intersektional-verstehen-barrierefrei.pdf 

Okun, Tema (2011): White supremacy culture: www.dismantlingracism.org/uploads/4/3/5/7/43579015/okun_-_white_sup_culture.pdf  

Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) e.V. (2017): Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung: Ein Handlungsansatz der RAA Berlin. Online verfügbar: http://raa-berlin.de/wp-content/uploads/2018/12/RAA-BERLIN-DO-GRUNDSAETZE.pdf 

Sebastian Seng, Nora Warrach (Hg.) (2019): Rassismuskritische Öffnung. Herausforderungen und Chancen für die rassismuskritische Öffnung der Jugend(verbands)arbeit und Organisationsentwicklung in der Migrationsgesellschaft. Im Auftrag des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit (IDA) e.V. Online verfügbar: https://www.idaev.de/fileadmin/user_upload/pdf/publikationen/Reader/2019_IDA_RKOE.pdf

Spivak, Gayatri Chakravorty (1996): The Spivak Reader. Hg. von Donna Landry u. Gerald Maclean. New York/London: Routledge.

Autor*innen

Lena Prabha Nising ist Erziehungswissenschaftler*in (M.A.) und Bildungsreferent*in. Zudem ist sie freiberuflich tätig als Berater*in und Referent*in im Kontext von macht- und rassismuskritischer Bildungsarbeit, Intersektionalität sowie diversitätsorientierter Öffnung von Institutionen. Hier beschäftigt sie u.a. die Frage, wie eine vielfaltssensible, rassismuskritische Öffnung von Kulturbetrieben gelingen kann.

Sophie Ali Bakhsh Naini ist Kulturwissenschaftlerin (M.A.) sowie Social Justice und Diversity Trainerin mit einem inhaltlichen Fokus auf Rassismuskritik und Beraterin für diversitätsorientierte Öffnung von Organisationen mit Fokus auf Kulturbetriebe. Darüber hinaus ist sie Beraterin bei Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership, einem Arbeitsbereich von Citizens For Europe, wo sie ebenfalls die Geschäftsführung als Referentin unterstützt

#Do-it-ourselves – Institutionen machen als künstlerische Praxis

1. März 2022

Wer soll Ihrer Meinung nach ein Theater leiten: ein violetter Oktopus oder ein weißes Pferd? Am Ende dieses Textes finden Sie eine Antwort. Möglicherweise.

2021 ging in den deutschsprachigen Theatern immer mal wieder eine Türe auf, aus der ein Mensch aus den Tiefen des Betriebs in die Öffentlichkeit trat, manchmal vielstimmig orchestriert von einem »Skandal«: Zum Beispiel ein Intendant mit schwerwiegenden Vorwürfen von Machtmissbrauch und sexueller Belästigung im Gepäck, oder ein Schauspieler, der für sich beschlossen hatte, nicht mehr in einem strukturell rassistischen System Stadttheater funktionieren zu wollen. Manchmal öffnete sich diese Back Door auch bloß, um sich gleich wieder zu schließen, nachdem die theaterinteressierte Öffentlichkeit einen kurzen Blick auf das Innenleben des Betriebs werfen konnte, in dem Stimmen laut und nachdrücklich auf Machtmissbrauch, disfunktionale Kommunikation und mangelnden Schutz von Integrität der Mitarbeitenden hingewiesen hatten. Wir reden vom Ex-Volksbühnen-Intendanten Klaus Dörr, vom Schauspieler Ron Iyamu, von der Ikone des postmigrantischen Theaters und Intendantin des Gorki Theaters Shermin Langhoff. Und mit ihnen von Vorfällen in Berlin, Düsseldorf oder Karlsruhe. 

Die so genannten »Skandale« haben vor allem etwas geschafft: zu verschleiern, dass eigentlich niemand von ihnen überrascht war. Sie zeigen in der Analyse vor allem eines: einen unüberwindbaren Graben zwischen einer Leitung und den Mitarbeitenden, die sich zusammenschliessen, um Missstände in der Führung und Etablierung einer Betriebskultur aufzuzeigen. Durch die Türen ausgeschleudert werden Einzelpersonen; entweder, weil sie in der Leitung nicht mehr tragbar sind (wie Dörr), oder weil sie als Arbeitnehmer*innen beschließen, nicht mehr Teil solcher Strukturen sein zu wollen (wie Iyamu). Doch während Künstler*innen, Theatermitarbeitende, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen seit Jahren Reformbedarf und Transformationsdringlichkeit des deutschsprachigen Stadttheaters aufzeigen, bleibt dieses wider besseren Wissens eine zum Verzweifeln zähe Institution; weiß, bürgerlich und männlich dominiert.

Wenn »der Fisch vom Kopf her stinkt«, wie im Theater so oft und gerne gesagt wird, macht es dann Sinn, die Transformation auch von der Spitze des Organigramms aus zu denken? Neue Intendanzmodelle lassen das vermuten. Größere und kleinere Häuser treten mit Co-Leitungen an, die insbesondere in der Schweiz, dem Land, das ebenfalls von einer 7-köpfigen Exekutive geführt wird, kulturpolitisch mit grossem Elan installiert werden: das Neumarkt Zürich wird seit 2019 von einem weiblichen Dreier-Direktorium geleitet, auch das Theaterhaus Gessnerallee ist mit einer weiblichen Dreier-Leitung gestartet, dasselbe hat das Schlachthaus Bern ab Sommer 2022 vor. Das Schauspielhaus Zürich operiert seit 2019 mit einer männlichen Doppelspitze, und die Leitung Schauspiel vom Theater Basel liegt seit 2020 in den Händen eines Vierer-Direktoriums, das seinem Schauspiel-Ensemble erweiterte Kompetenzen in der Programmation und bei künstlerischen Entscheidungen einräumt. 

Mehr als Symbolpolitik?

Doch sind Co-Leitungen mehr als bloße Symbolpolitik und effizientere Arbeitsteilung bei dem immensen Workload, der für eine Theaterdirektion anfällt? Wie verändern sich die Strukturen tatsächlich und erwirken Transparenz, reale Diversifizierung auf allen Ebenen des Betriebs und eine ausgeglichenere Verteilung von Entscheidungsgewalt? 

Hier lohnt es sich, den Blick im Organigramm nach unten zu richten und den Bewegungsmelder einzuschalten. Wer die kollektive Agency von Mitarbeitenden mitschneiden möchte, braucht Seismografen und Taschenlampe, denn viele institutionstransformierende Initiativen, Projekte und Verbindungen laufen unter dem Radar einer Leitung. Es lohnt sich, genau hinzuschauen: Wie arbeiten Kolleg*innen an der Transformation ihrer Organisation mit: kollaborativ, eigeninitiativ, informell, anti-patriarchal, diskriminierungskritisch, queer, partikular, konspirativ, feiernd, elaborierend, aktivistisch, empathisch, verbindend, progressiv…? 

Vielleicht hilft es hier auch, in einem schnellen Gedankentest den Begriff des (männlichen, weißen) »Intendanten«, der sich auf ungeklärte Weise aus französischen und deutschen Militär- und Verwaltungszusammenhängen in den Bereich der Kunst geschmuggelt hat und in erster Linie Durchsetzung und Direktive meint (und im absolutistischen Frankreich sogar »Steuereintreiber«), mit dem Begriff der »Autor*in« zu ersetzen. Autor*innen einer Institution sind diejenigen Akteur*innen, die diese schaffen, schöpfen, gestalten – und damit zu Urheber*innen eines produktiven Zusammenhangs werden.

Wenn wir nämlich eine Institution nicht als eine in Stein gemeißelte Struktur, sondern als eine von diversen Akteur*innen betriebene stetige Praxis begreifen, lässt sich die Frage nach ihrer Autor*innenschaft stellen: Wer betreibt diese instituierende Praxis, wer ist also der*die Produzent*in der Institution, wer arbeitet an ihrer Veränderbarkeit, wer gestaltet sie mit welchen künstlerisch-kritischen Intentionen? Was, wenn die diversen Akteur*innen eines Theaters die Institution genauso als Werk-in-progress begreifen wie eine Inszenierung oder ihre künstlerische Theaterpraxis generell? Wenn »Theater machen« und »Institutionen machen« keine getrennten Angelegenheiten sind, sondern zum gleichen Tätigkeitsfeld gehören: der Gestaltung eines künstlerischen Produktionszusammenhangs? Hier wird es Zeit für ein, frei nach Leslie A. Fiedler, »cross the borders, close the gaps«.

Ein Theater produziert nicht nur Werke für ein Publikum, sondern auch Kommunikationsstrukturen und Verhältnisse des sich-gegenseitig-aufeinander-Beziehens, des sich-Zeigens, sich-ausgesetzt-Seins, die als politisch zu begreifen sind, weil sie auf die Lebensbedingungen, Fertigkeiten, Potentiale und die psychische Disposition der Mitarbeitenden einer Organisation zurückwirken. In diesem Sinne wird der Betrieb zu einem binnenpolitischen Raum, in dem sich diejenigen bewegen und ihn gestalten, die sich als seine »Autor*innen« begreifen, zu einem »Raum mit Öffentlichkeitsstruktur« (Paolo Virno), der beansprucht, was früher dem Feld der Politik vorbehalten war: das Verhandeln der Bedingungen der Zusammenarbeit und des betrieblichen Zusammenlebens. 

»Institutionelle Autor*innen« agieren innerhalb einer Organisation als Doppelagent*innen: Sie sind meist als ausgebildete professionelle Theaterschaffende aus den Bereichen Schauspiel, Regie, Dramaturgie oder Kulturmanagement angestellt – gleichzeitig übernehmen sie informell häufig institutionstransformative Aufgaben. Damit gemeint sind Tätigkeiten, die nicht nur einen kritischen Diskurs über die Verfasstheit einer Institution etablieren und aufrechterhalten, sondern auch in der Verschränkung von strukturellen Maßnahmen und künstlerischen Praxen institutionelle Veränderungen prozessieren. Für diese Tätigkeiten gibt es bis anhin weder Berufsbezeichnungen und noch finanzierte Positionen, sie bewegen sich fluide zwischen künstlerischer und organisatorischer Praxis und sind in einem traditionellen Organigramm nicht lokalisierbar. Trotzdem finden in Theatern gegenwärtig zahlreiche kollaborative, institutionstransformierende Prozesse statt, die diverse Themen, Ziele und Ausprägungsformen haben. 

Ein Beispiel: Schauspielhaus Zürich 

Fokus Schauspielhaus Zürich: Dort zeigen sich zurzeit verschiedene Formen einer möglichen »institutionellen Autor*innenschaft«. Mit der Intendanz von Stemann/von Blomberg hat 2019 am Schauspielhaus Zürich das Projekt eines Theaters begonnen, das Diskriminierungen jeglicher Art entgegenarbeiten und geschützte Räume für künstlerische Entfaltung jenseits traditioneller Machtverhältnisse schaffen möchte. Ein solches Projekt, das die Betriebskultur und -struktur von Grund auf mit neuen Prämissen unterlegt und ideell durchdringt, ist langfristig angelegt und muss auf vielen Ebenen stattfinden. 

Einige der transformativen Ziele des Hauses bedürfen direktiver struktureller Massnahmen: Die Zugänglichkeit für alle Körper zu Positionen, Strukturen und Räumen der Institution kann zum Beispiel top down über eine diskriminierungssensible Einstellungs- und Lohnpolitik, eine fest angestellte Diversitätsagentin, Anpassungen in der Infrastruktur, neue Standards in der Kommunikation und weitere Strategien, die Ungleichheiten aller Art auffangen, vorangetrieben werden. Institutionelle Autor*innen interessiert hingegen, wie diskriminierungssensible Strategien von den Mitarbeitenden selbst initiiert, praktiziert und vergrössert werden und bottom up in eine Institution hineinwachsen können. 

Alle hier skizzierten Vorstöße, Projekte und Versuche am Schauspielhaus zeichnet aus, dass sie eigeninitiativ und informell sind, sie entstehen jenseits der offiziell vereinbarten Aufgaben der Mitarbeitenden im Betrieb und außerhalb von Sitzungsstrukturen. Sie sind oft abteilungsübergreifend und kollaborativ organisiert. Einige der Bewegungen diffundieren noch nicht in die Gesamtstruktur des Hauses, erobern sich aber ständig mehr Raum. Ein paar Beispiele: 

*Eine Kostümassistentin treibt die Dekolonisierung des Kostümfundus voran und durchforstet die Kostümteile nach tradierten kolonialen, rassifizierten Stereotypen, katalogisiert Bleibendes und entsorgt Überkommenes. 

*Die fünf festangestellten Produktionassistent*innen haben ein Manifest verfasst, in dem sie nicht nur ihre Aufgaben neu definieren und ihre Grenzen markieren, sondern sich auch von der traditionellen Rolle als Dienstleistende der Regie verabschieden. Das Manifest ist für Probenprozesse am Haus mittlerweile bindend. 

*Produktionen mit sensiblen Themen, die sich um Intimität, Sex, Machtmissbrauch und Körperbilder drehen oder auf der Zusammenarbeit mit nicht-professionellen Spieler*innen basieren, erhalten nun auf Initiative der Dramaturgie eine Begleitung durch diskriminierungssensible Coaches und/oder eine*n Intimacy Coordinator, die*der verantwortlich ist für die Schaffung eines diskriminierungsarmen Probenraums. So werden Produktionen nicht nur körpersensitiv begleitet, sondern auch der hausinterne Diskurs über die Themen Safer Spaces und Consent, Verletzlichkeit und Vertrauen abteilungsübergreifend vertieft. 

*Eine Gruppe von Dramaturg*innen, Assistent*innen und Ensemblemitgliedern erarbeitet zur Zeit eine »Praxis der Fürsorge«, ein kollaboratives Projekt, das sich zum Ziel setzt, für die Mitarbeitenden des Hauses ein Bündel von Strategien zu entwickeln, die einen bewussten und sorgsamen Umgang mit unterschiedlichen Körpern, anti-diskriminatorisches Sprechen und machsensitives Handeln im Betrieb nachhaltig verankern. Sie fragen, wie Praktiken der Fürsorge alle Körper mitdenken und ihrer Verletzlichkeit und Gefährdung durch Krankheit, Erschöpfung und Diskriminierung gerecht werden können; wie sich ein sorgsames Sprechen in Arbeitssituationen – zum Beispiel in Proben, Sitzungen, im Austausch mit dem Publikum – an einem Haus etablieren kann. Wie aktiv ein Selbst-Bewusstsein für das eigene Handeln, die eigenen Grenzen, das eigene Sprechen und das der anderen entwickelt und in Proben- und Arbeitssituationen Consent hergestellt und abgelehnt wird. Wie Mitarbeitende eine gegenseitige Sorgfaltspflicht wahrnehmen können. Das Team bietet Räume für Erfahrungsaustausch und gemeinsames Lernen und entwickelt ein regelmässiges Angebot an Übungen, Trainings und Tools für den Berufsalltag.

Fazit

In all diesen Projekten wird eine »institutionelle Autor*innenschaft« sichtbar, die ein Theater als Organisation als veränderbar begreift und im Rückgriff auf tradierte Strukturen kritisch beleuchtet und transformiert. So wirken die Initiativen auf Produktions- und Kommunikationsstrukturen ein, denken Repräsentationspolitiken mit – und prägen eine neue Kultur des Produzierens und Zusammenarbeitens am Theater. Der Begriff der »institutionellen Autor*innenschaft« eröffnet demnach ein neues Terrain innerhalb der Institution (und der konkreten Organisation), den es auszuloten gilt. Mit ihm treten die Mitarbeitenden eines Theaters auf neue Weise in die Sichtbarkeit. Indem sie Handlungsmacht auf institutioneller Ebene erlangen, Prozesse initiieren und gestalten und ihre Potentiale besser ausschöpfen können, verändern sich ihr Status und ihre Handlungsfähigkeit in einer Organisation und damit traditionelle Berufsbilder. Das Bündel dieser institutionstransformierenden Prozesse steht für ein emanzipatorisches Theater, das es, wie alles am Theater, kollaborativ zu erproben und nachhaltig in der entlohnten Arbeitszeit zu verankern gilt. 

Und weil es wichtig ist, steht es am Ende: Ohne Geld und ohne Zeit gibt es keine institutionstransformierenden und emanzipatorischen Vorgänge – egal, auf welcher Ebene eines Betriebs sie stattfinden. Nur wenn Praxen des Instituierens, wie auch immer sie aussehen und wo auch immer sie stattfinden, Teil der Berufsbilder am Theater und anerkannter Teil vertraglich vereinbarter Aufgaben werden, kann »institutionelle Autor*innenschaft« tradierbares Wissen generieren und nachhaltig wirksam und sichtbar sein. 
Darum ist dieser Text ein Plädoyer für den Oktopus statt für das weiße Pferd, auf dem ein meist männlicher Ritter-Intendant die Zügel straff in der Hand hält. Für den Oktopus, bei dem der eine Arm vielleicht nicht weiß, was der andere macht, einen violetten Oktopus, wie er seit Antritt der neuen Leitung als Maskottchen in der Zürcher Gessnerallee lebt. Und damit ein Plädoyer für eine Institution, die in ihrem Kopf Platz für neun Gehirne hat und viele Arme braucht, um mit der Wirklichkeit ihrer Mitarbeitenden in Berührung zu kommen. Theater ist ein wildes Tier mit mehr als einem pulsierenden Herzen.

Autorin

Foto: Perspektiven SDDB

Fadrina Arpagaus, geboren in Zürich, studierte Germanistik und Philosophie in Zürich und Berlin und schloss mit einem Master of Arts ab. Sie war als Dramaturgin u.a. am Theater Basel, am Theater Neumarkt Zürich und am Konzert Theater Bern engagiert und leitete mehrere Jahre das Programm der Zürcher Kulturinstitution »Karl der Grosse«.

Seit der Spielzeit 2019/20 ist Fadrina Arpagaus Teil des Dramaturgie-Teams am Schauspielhaus Zürich. Sie ist zudem Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste und co-leitet den »Dramenprozessor«, das Schweizer Förderprogramm für junge Dramatiker*innen.

Kollaboration als Arbeitsweise: Zwischen Selbstoptimierung und Strukturwandel

21. Februar 2022

Die Schlagwörter ›Kollaboration‹ und ›Agilität‹ werden, wie das Beispiel der Kulturpolitischen Gesellschaft selbst hervorragend verdeutlicht, in Kulturmanagement und -politik zunehmend als Wege aus den veralteten Strukturen des Kulturbetriebs angepriesen. Trotz der zunehmenden und oftmals synonymen Begriffsverwendung fehlt es in der Praxis an konkreten Handlungsweisen und Orientierungsmodellen. Vielmehr bleibt es bei vielversprechenden Hymnen wie beispielsweiser dieser:

»Gerade der Aspekt der Kollaboration ist eine entscheidende Voraussetzung für mögliche Veränderungen im Kulturbereich, da in derartig organisierten Arbeitskontexten unterschiedliche Expertisen – auch außerhalb der Organisation – in den Produktionsprozess integriert werden und in der Regel auch Personen beteiligt werden, deren Ansprüche, Denkweisen oder Fähigkeiten in der Kulturarbeit noch zu wenig repräsentiert sind.«

Es scheint, als wären die Transformationsvorstellungen längst klar formuliert, als wären zukunftsfähige Unternehmen längst nicht mehr linear und hierarchisch strukturiert, sondern netzwerkartig organisiert. Als würden interne Strukturen in hybriden Arbeitsgruppen immer wieder neu beleuchtet, Abläufe hinterfragt und optimiert, neue Produkte aus der Zusammenführung unterschiedlicher Zuständigkeitsfelder und Wissensformen entwickelt. Insbesondere die Digitalisierung ist dabei eine große Hilfe und ermöglicht dezentrale Zusammenarbeit, Selbstorganisation und häufigere Korrekturschleifen. Aber ist das wirklich so?

Der folgende Beitrag möchte den Herausforderungen des strukturellen Umbaus im Kulturbetrieb nachgehen und handlungsorientiert Probleme aufzeigen. Grundannahme ist, dass viel zu lange die Trennung in Theorie und Praxis auf der einen Seite und die Vermischung von Inhalt und Struktur auf der anderen Seite aufrechterhalten wurde – statt konzeptuelle Ansätze auf ihre Umsetzbarkeit zu befragen. Wie lässt sich diese vielgeforderte Neugestaltung praktisch umsetzen? Und welche Idee von Kollaboration als Begriff und als Arbeitsweise werden dabei imaginiert?

Dem Folgend, möchte ich mich vor allem auf bereits vorhandene Ansätze und Thesen des Blogs beziehen, um offenzulegen, dass sie einerseits viele wichtige Standpunkte offerieren, andererseits aber stärker aufeinander Bezug nehmen sollten, um nicht repetitiv, sondern transformativ zu wirken. Wir alle kennen mittlerweile die Parolen und Utopien eines zukünftigen Kulturbetriebes. Doch wie diese umzusetzen sind, ist bisher unklar und führt schnell zu Resignation oder Gesprächsversandung. Klar: Alte Hierarchien sollen zugunsten von einem solidarischen miteinander endlich über Bord geworfen werden – doch wie funktioniert das? Der folgende Beitrag baut auf Erkenntnissen vorheriger Beitragenden auf und skizziert Herausforderungen und Ansätze kollaborativer Arbeit.

Agilität durch Kollaboration

Bleiben wir zunächst im vertrauten Umfeld der theoretischen Erörterung, so fällt auf, dass die Begriffe ›Kollaboration‹ und ›Agilität‹ mit sehr unterschiedlichen Beigeschmäckern zu kämpfen haben. Obwohl sie eigentlich dieselbe Problematik von unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Beide Begriffe beschreiben eine Abwendung von tradierten Arbeitsmodellen, wobei ›Agilität‹ eher auf der strukturellen Ebene und im Managementjargon benutzt wird und ›Kollaboration‹ als eine alternative Form des Zusammenarbeitens verstanden werden kann.  Darüber hinaus stammen beide Konzepte aus der Zeit des Umbruchs von fordistischen zu postforstischen Arbeitsverhältnissen. Unter zeitgenössischen Informations- und Wissensregimen sind sie zu Imperativen immaterieller Arbeit herangenwachsen und damit für kulturelle Arbeitsfelder interessant geworden.

Während ›Agilität‹ im neoliberalen Image dabei eher im konkreten Projektmanagement auftaucht und mit Prekarisierung und Überforderung von Arbeiter*innen durch Top-Down Belehrungen verbunden wird, werden ›Kollaborationen‹ zunehmend als neue Form der solidarischen und hierarchiefreien Zusammenarbeit angepriesen. Da der Begriff  ›Kollaboration‹ von älteren Generationen vor allem im Kontext des Zweiten Weltkrieges als Zusammenarbeit mit dem Feind verstanden und nach wie vor durch den Duden entsprechend definiert ist, liegt die Vermutung nahe, dass im deutschsprachigen Kontext häufig von ›Kooperation‹ gesprochen wurde, selbst wenn kollaboratives Arbeiten gemeint war. Im englischsprachigen Raum – somit auch in der deutschen Start-up -und Kunstszene – hat sich spätestens seit den 2000er Jahren ›collaboration‹ als Mantra der projektbasierten Arbeit etabliert.

Im Kulturbereich scheint sich eine immer breiter werdende Gruppe von Akteur*innen dem Begriff der ›Kollaboration‹ unter einem allgemeinen Transformationswillen anzunähern, was jedoch vor allem zu inflationärer Schlagwortverwendung denn zu konkreter Bedeutungszuschreibung und Praxisanwendung führt. In aktuellen Debatten versprechen Kollaborationen die Flexibilität und Individualisierung von Arbeitsrealitäten auf der einen, neue Stabilität und Zusammenhalt in Kontext von unsicheren Strukturen und neoliberalen Leistungsdruck auf der anderen Seite.

Doch welche Wirkungen können in der Realität eingelöst und welcher Rahmen muss für erfolgreiche Kollaborationen geschaffen werden? Nicht überspielt werden sollte die Tatsache, dass auch kollaborative Arbeitsweisen schnell in Selbstausbeutung und Prekarisierung abrutschen können, basieren sie doch auf einem hohen Maß an Selbstorganisation und Verantwortung aller Akteur*innen.

Während strukturkritische Autor*innen wie Tara McDowell von prekären, post-beruflichen Bedingungen im Kulturbereich sprechen und damit insbesondere jüngere Generationen meinen, für die ein Vierjahresvertrag Sesshaftigkeit bedeutet, sind ein Gros der Stellen in deutschen mittelgroßen Kulturinstitutionen noch immer unbefristet besetzt.  Folglich kann die selbstbestimmte Freiheit einer kollaborativen Organisationsstruktur innerhalb eines institutionellen Transformationsprozesses  für Mitarbeiter*innen, die jahrzehntelang nach dem Top-Down-Prinzip gearbeitet haben, zu Verunsicherung führen – stützt sie sich schließlich auf dem Ansatz des lebenslangen Lernens auf und hinterfragt damit stets erlernte Expertisen zugunsten neuer Erkenntnisse und Anpassungen von rostigen Strukturen.

Das bedeutet auch, dass Mitarbeiter*innen und Führungspersonen ihre Stärken, Schwächen und Interessen kennen und kommunizieren müssen, und sich nicht mehr auf Routine verlassen können. Das mag zunächst mehr Arbeit, vor allem mehr Kommunikation, mit sich bringen, eine Transformation lässt sich jedoch nur durch aktive Umstrukturierung von Praktiken und Abläufen und nicht nur durch inhaltlich-programmatische Progression umsetzen.

Neue Erkenntnisse durch Querverbindungen

Ein schönes Beispiel aus der Praxis stellt das kollaborative Projekt »Öffne die Blackbox der Archäologie! Museum als CoLabor« von dem Museum für Archäologie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in Herne, dem LWL-Römermuseum in Haltern am See und dem Deutschen Bergbau-Museum in Bochum dar. Auf der Seite des Hauptförderers, der Kulturstiftung des Bundes, wird das Vorhaben folgendermaßen beschrieben.

»Nach einem Open Call der drei Museen wurde im Frühjahr 2021 dafür ein Beirat gegründet, der in diesem Fall nicht aus Fachleuten, sondern aus fast 100 Menschen verschiedener Hintergründe und Generationen besteht. […] Die Partner orientieren sich an Methoden des agilen Managements wie z. B. Design Thinking und arbeiten kollaborativ, prozessorientiert und co-kreativ im Sinne einer Kultur der Digitalität

Konkret hat sich hierfür eine übergreifende Projektsteuerungsgruppe der Museen gebildet, die gemeinsam mit einem Beirat aus engagierten Bürger*innen in regelmäßigen, moderierten Workshops zusammenkommt und mit Hilfe eines externen Coachings spielerisch neue Konzepte und Arbeitsweisen entwickelt. Kollaboration wird hier somit zunächst in einem Pilotprojekt mit zusätzlicher Hilfestellungen erprobt. Interne Strukturen werden nicht direkt auf den Kopf gestellt, sondern es wird gemeinsam mit dem gemischten Team aus Museumsmitarbeiter*innen und Bürger*innen überprüft, welche Methoden für die musealen Struktur im internen Team anwendbar sind und welche in experimentellen Projekten verortet bleiben sollten. Gerade das Arbeiten mit freiwillig partizipierenden Mitarbeiter*innen, die einige Stunden ihrer Arbeitszeit in kollaborative Ansätze investieren möchten und aus Interesse agieren, scheint eine sinnvolle Vorgehensweise, um Überforderung und hierarchische Festsetzung von unsicheren Angestellten zu vermeiden.

Von der Theorie in die Praxis – und zurück

Neben globalen Vernetzungsbewegungen und der akademisch-theoretischen Auseinandersetzung bedarf es zudem Transformationsprozessen auf lokaler und regionaler Ebene: Innerhalb der Institutionen sollten Arbeitsprozesse nach Interessen und Fähigkeiten anstatt nach künstlerischen Disziplinen und Hierarchien fokussiert werden. Denn Strukturen und Zuständigkeiten lassen sich immer dann am leichtesten verändern, wenn sich alle Beteiligten weiterhin mitgenommen fühlen, wenn Flexibilisierung nicht Verunsicherung bedeutet, sondern Lernprozesse in bekannte Abläufe integriert und honoriert werden.

Kollaboration kann dann als Arbeitsweise interessant sein, wenn sie gezielt eingesetzt und nicht nur als Synonym für verschiedenste Formen der Zusammenarbeit benutzt wird. Hierzu könnten etwa die von Anke von Heyl angeschnittenen »iterativen Prozesse« fruchtbar sein. In diesen werden Abläufe und Feedbackschleifen so oft wiederholt und angepasst, bis sie den intern zuvor definierten Zielvorstellungen des Teams entsprechen. Würde man Kulturorganisationen zu dieser Optimierung von Abläufen zudem eine außenstehende, vermittelnde Person langfristig zur Seite stellen, könnten Verschiebungen unaufdringlich, im alltäglichen Arbeitsablauf ohne Neustrukturierung von außen oder ständige Selbstevaluation herbeigeführt werden. Es könnte dann um die Aktualisierung von Strukturen und Beziehungen statt um die selbstoptimierende Prüfung des individuellen Leistungsvermögens der Arbeitenden gehen, wie es von kritischen Akteur*innen wie Ulrich Bröckling prognostiziert wurde. 

Wird dieses Vorhaben noch mit Zeit für die Teilnahme an regelmäßigen internen Gesprächsformaten und Workshops – etwa zu digitalen Organisationstools wie Trello oder Slack und kollaborativer Erkenntnisgenerierung – unterstützt, könnten sich veränderte Arbeitspraktiken auch nachhaltiger festsetzen, als es aktuell der Fall ist. Denn bedingt durch den Umstand, dass eine Vielzahl von Veränderungsversuchen in Projektförderstrukturen an den vorhandenen zeitlichen und finanziellen Mitteln scheitern, führen Transformationsforderungen oftmals zu Pauschallösungen und Überlastung der einzelnen Akteur*innen, statt zu einer langfristigen Verschiebung innerhalb der spezifischen Strukturen.   

Qualifizierte Coachingansätze und Modellarbeit

Ein Grundsatz von Kollaboration ist, nicht bekanntes Wissen zu reproduzieren, sondern durch Querverbindungen und assoziatives Denken neue Erkenntnisse zu generieren, die auf unterschiedlichsten Wissensformen und Fähigkeiten aufbauen. Gerade deshalb scheint es umso wichtiger, Erkenntnisse von Plattformen wie dieser zu nutzen, zu vertiefen und in der Praxis modellhaft zu erproben, anstatt sich innerhalb eines kleinen Fachkreises gegenseitig zu bestärken und dieselben großen Begriffe und Ansätze zu proklamieren. Ein Vorschlag wäre daher, eine Modellentwicklung für konkrete Transformationsarbeit an Kulturinstitutionen auszuschreiben und zu finanzieren. Ein erster Schritt wäre verschiedenen Stimmen und Ansätze in einem gemeinsamen Think Tank zusammenzuführen und diesen Austausch in einen praxisnahen Projektentwurf umzuwandeln, mit und an dem gearbeitet und praxeologisch geforscht werden kann.

Denn auch wenn Modelle und Leitfäden allein nicht ausreichen werden, könnten so dennoch vorhandene Ansätze wie infrastrukturelle Förderungen und begleitendes Mentoring auf ihre Umsetzbarkeit erprobt werden. Kollaboration und Flexibilisierung sollte somit nicht nur als Aufgabe gestellt werden, sondern in übergreifenden Arbeitsgruppen von Forschung, Kulturinstitutionen und kulturpolitischen Entscheidungsträger*innen vorgelebt werden. Schließlich könnten daraus auch qualifizierte Coachingansätze oder Fortbildungsmodelle entstehen, die zeitweise weitaus effektiver ansetzen könnten als progressive Verschriftlichungen oder sich um sich selbst kreisende Diskussionen.

Autorin

Foto: Sandra Stein

Paulina Seyfried ist freie Kunstwissenschaftlerin und Kulturarbeiterin. Sie arbeitet freiberuflich für verschiedene Kunstvereine und Künstler*innen im organisatorischen wie kuratorischen Bereich. Zudem gibt sie regelmäßig Workshops in Projektmanagement und individuellen Fördermöglichkeiten.

Sie absolvierte ihren Bachelor der Kunst- und Bildgeschichte an der Humboldt Universität zu Berlin und ihren Master an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Schnittstelle von Institutionskritik, Infrastrukturen und kollaborativen Arbeitsweisen in der Kunstwelt. 2021 hat sie das Recherche- und Arbeitsstipendium Bildende Kunst der Stadt Köln erhalten.

Cross-Innovation, Interdisziplinäre Zusammenarbeit, Ko-Kreation – eine Einladung zur Vertiefung

14. Februar 2022

Wenn sich eines im Förderprogramm LINK der Stiftung Niedersachsen abgezeichnet hat, dann ist es die wachsende Notwendigkeit von interdisziplinärer Zusammenarbeit. Digitalität lässt tradierte Kultursparten und die Trennung zwischen Fachabteilungen zunehmend verschwimmen. Eine übergreifende Zusammenarbeit in neuen Teams und der Blick über den Tellerrand werden immer wichtiger.

Begonnen haben wir 2018 indem wir jede Kultursparte einzeln in den Fokus genommen und nach aktuellen Projekten und zukünftigen Möglichkeiten der Anwendung von Künstlicher Intelligenz geschaut haben. Als Testballon luden wir gezielt Informatiker*innen und Kulturschaffende mehrerer Sparten aus Hannover ein, die teils konträren Denk- und Arbeitsweisen kennenzulernen und gemeinsam Projektideen zu entwickeln. Die so angestoßenen Prozesse der Entwicklung einer gemeinsamen Sprache, der Bereitschaft, die eigene Komfortzone zu verlassen und sich auf ungewohnte und teils unbequeme Vorgehensweisen einzulassen, legten den Grundstein für die zwei langfristig erfolgreichen künstlerischen Pilotprojekte von Philipp Henkel, Florian Kluger, Farhad Ilaghi Hosseini und Patrick Glandorf, die im Oktober 2021 (pandemiebedingt verspätet) in der Galerie Bohai unter dem Titel »AKUSTISCHE KI – ZWEI HAPPENINGS« in Hannover vorgestellt wurden. Die Ergebnisse hätten nicht fachintern und ohne die interdisziplinären Impulse von außen erreicht werden können.

Innovation durch Kunst und Technologie

Bei der Betrachtung von Kultur-, Forschungseinrichtungen und Unternehmen fällt auf, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen einer großen Mehrheit und einigen wenigen Leuchtturmprojekten wie dem europäischen Knowledge Innovation Center gibt, die ganz im Sinne von Cross-Innovation den Austausch und die interdisziplinäre Zusammenarbeit stärken. Die Erkenntnisse zum Nutzen dieser Formate sind also nicht neu, nur leider weder in Wirtschaft, Wissenschaft oder Kultur flächendeckend bekannt.

Im Perspektiv-Papier der Bundesregierung Kulturen im digitalen Wandel wird u.a. neben dem Thema Personalentwicklung für möglichst breit aufgestellte Teams auch das Thema Vernetzung durch Plattformen, Verbundstrukturen und Kompetenznetzwerke angesprochen. Das Impulspapier der DFG »Digitaler Wandel in den Wissenschaften« betont ebenfalls die Bedeutung des fachlichen und interdisziplinären Austauschs als »entscheidend für die Bewertung der Entwicklung, die Chancennutzung und die Bewältigung der Herausforderungen

Ähnliche Ziele verfolgt das europäische STARTS-Programm: »S+T+ARTS is a platform that aims to link technology and artistic practice more closely. It is implemented by European policy to promote innovations that also benefit the art world. It supports collaboration between artists, scientists, engineers and researchers to develop more creative, inclusive and sustainable technologies, and focuses on people and projects that help address the social, environmental and economic challenges with which the European continent is confronted.« Seit 2016 wurden so u.a. Künstler*innen-Stipendien in Technologie-Unternehmen und Forschungseinrichtungen finanziert und ein Austausch und eine Kollaboration ermöglicht.

Tradierte Vorgehensweise vs. Künstlerische Experimente

Das Denken und Arbeiten in Netzwerken und Teams ist also keine Modeerscheinung, sondern die erprobte Grundlage kreativen Schaffens, die die Entwicklung von Innovationen fördert. Es gibt eklatante Unterschiede zwischen naturwissenschaftlichen Lösungsfindungsprozessen im weitesten Sinne einerseits, die auf Wissen und Erfahrung basieren und eine logische Kombination feststehender Zutaten umfassen, und kreativen Schaffensprozessen andererseits, die durch Impulse von Außen angestoßen werden und häufig eine Abwendung oder zumindest eine Neuordnung von bisherigen Vorgehensweisen beinhalten. Künstlerische Forschung beispielsweise versucht alle Elemente des Prozesses zu hinterfragen und neue Lösungswege z.B. durch Experimente herbeizuführen.

In kreativen Branchen und in manchen Start-ups finden wir Beispiele für diese kreativen Schaffensprozesse: Hier werden durch ein ergebnisoffenes, experimentelles Vorgehen agile Strukturen etabliert: Zentral dafür ist ein freier strukturierter Arbeitsprozess, der auf branchenfremde Expert*innen und disziplinenübergreifende Kommunikation zurückgreift und Scheitern erlaubt.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch die amerikanische Psychologin Alison Gopnik: Sie untersuchte 2016 kreative Lösungsfindungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. In ihrer Testreihe zeigte sich deutlich, dass Kinder eine Vielzahl von kreativen Lösungswegen versuchten, während Erwachsene sich auf pragmatische, einfache Lösungen konzentrierten. Gopnik schlussfolgert, dass wachsendes Vorwissen und sicherlich auch der emotionale Erwartungsdruck, schnell zu einer guten Lösung zu kommen, Erwachsene in ihrer Kreativität massiv einschränkt. Ohne Vorwissen und in einer stressfreien Umgebung könnten auch Erwachsene wieder lernen kreativ zu sein.

Über die eigene Branche hinaus

Jede Branche hat ihre gedanklichen Grundpfeiler. Strukturen, Umstände, Erwartungen, an denen einfach nicht gerüttelt wird. Branchenfremde haben den Vorteil, dass sie in diesem Sinne nicht vorgeprägt sind und scheinbar irrationale Vorschläge äußern können, die zu großartigen Ergebnissen führen können. Ihr Mangel an Fachwissen wird hier ein Bonus: Sie können scheinbar naive Fragen stellen und damit Prozesse kritisch beleuchten.

Ein frischer Blick ohne die berufsbedingten Scheuklappen ist für nahezu alle Aufgabenbereiche wertvoll. Um diese Entwicklungspotentiale auszuschöpfen, muss die Kommunikation mit Akteur*innen benachbarter Sparten und Branchen strukturiert angegangen werden: Es braucht die Bereitschaft, Fragen und Herausforderungen mit branchenfremden Personen zu teilen und dabei die eigene, fachliche Überlegenheit abzulegen. Darüber hinaus müssen Unternehmensvorstände, Kulturträger*innen und Förder*innen Experimente und deren Evaluierung ermöglichen – auch ein Scheitern ist eine produktive Erfahrung und birgt wertvolles Wissen, das systematisch analysiert und festgehalten werden soll. Ähnlich wie in der Natur die Biodiversität ein hohes Gut darstellt, benötigen Teams eine heterogene Zusammensetzung – was nicht bedeutet, dass die Zusammenarbeit immer harmonisch und konfliktfrei abläuft.

Wie lässt sich nun die Dynamik heterogener Teams nutzen?

  1. Durch die Begegnung auf Augenhöhe trotz fachlicher Unterschiede.
  2. Durch die Bereitschaft in die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache und ein Teambuilding zu investieren.
  3. Durch die Bereitschaft, die eigene Komfortzone zu verlassen.
  4. Durch die Überzeugung, Spannungen im Team als Chance nutzen zu können.
  5. Indem der gemeinsame Rahmen (mögliche Ziele, Zeitumfang, Form der Zusammenarbeit, …) festgelegt wird.

Kreative Kollaborationen

Eine Vielzahl von Kreativitätstechniken orientiert sich an  künstlerischen Denk- und Arbeitsweisen von Künstler*innen um gezielt Emotionen, scheinbar spontane und willkürliche Impulse sowie Ideen zu fördern. Und es ist kein Zufall, dass diese Techniken immer populärer werden: Das Denken in tradierten Strukturen und die Orientierung an Vorwissen kann den riesigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr gerecht werden. Da wir im Kulturbereich ähnlich wie Wissenschaft und Wirtschaft auch abhängig von einer Weiterentwicklung unserer Inhalte, Strukturen, Zielgruppen sind, ist es an der Zeit, unsere Stärken zu kombinieren und einen intensiven und offenen Austausch als Basis für interdisziplinäre Kooperationen zu beginnen.

Die Erforschung und Anwendung von Künstlicher Intelligenz (in der Kultur) zielt nicht primär auf den Ersatz von menschlichen Künstler*innen durch Technik, sondern fokussiert die Kollaboration als vielfältiges Werkzeug. Es geht um den LINK zwischen Mensch und Maschine, die Verbindung zwischen unterschiedlichen Kultursparten und scheinbar gegensätzlichen Branchen. Das Ziel ist die Bündelung von Netzwerkpotenzialen und dem gemeinsamen Lernen voneinander. Denn: Die Zukunft gehört nicht den Starken oder Mutigen – sondern den Kommunikativen.

Autorin

Foto: Katrin Ribbe

Dr. Tabea Golgath ist Referentin für Museen und Kunst und koordiniert seit 2018 das Förderprogramm LINK – KI und Kultur der Stiftung Niedersachsen. Sie promovierte zu nachhaltigen Vermittlungsmethoden in Geschichtsmuseen und führte seit 2007 kontinuierlich Lehraufträge am Historischen Seminar und dem Zentrum für Lehrerbildung der Leibniz Universität Hannover und am Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Universität Basel durch. Sie engagiert sich für die Erschließung von KI-Anwendungen in der Kultur und die zukunfts- und nutzerorientierte Weiterentwicklung von Kultureinrichtungen durch Interdisziplinarität, Agilität und Digitalität.

Mehr Transformation wagen – gleich ab Montag

31. Januar 2022

Ein Plädoyer für konkretes Handeln in der Kulturpolitik

Im Kulturbereich werden schon lange die bestehenden Arbeitsstrukturen hinterfragt. Dabei geht es um ein breites Themenspektrum von inakzeptablen und prekären Arbeitsbedingungen bis zu schwerem Machtmissbrauch. Längst wird über Möglichkeiten und Wege einer Transformation diskutiert. Auch gibt es bereits Ansätze und Praktiken von anderem Arbeiten und Institutionen oder Kommunen, in denen neue Strukturen erprobt werden.

In Anbetracht der Dringlichkeit von Veränderung plädieren wir dafür, Transformation nicht länger nur als den großen Wandel zu diskutieren, nach dem alles anders sein soll. Das Spektrum der Perspektiven und Potenziale ist zweifellos deutlich größer als das Entweder Oder von richtig oder falsch, Top Down oder Bottom Up. Neben der Auseinanderset­zung mit Führungsfragen liegt es nahe, immer auch das individuelle Tätigkeits- und Verantwortungsfeld im Hinblick auf seine Veränderbarkeit zu überprüfen: Was kann ich gleich nächsten Montag anders machen, ohne von jemandem abhängig zu sein, damit die Veränderung eintritt?

Wir sind davon überzeugt, dass mit dem Fokus auf die konkrete Umsetzung im Alltag eine Vielfalt von praktischen und ganz konkreten Schritten für das unmittelbare Handeln entsteht, die für die größeren Schritte sehr hilfreich ist.     

Somit scheint es nur sinnvoll, nicht länger an der einen ultimativen Strategie zu arbeiten und Zeit und Energie zu ver­lieren, wenn es darum geht, vermeintlich einen richtigen Weg zu definieren. Folgerichtig wäre es umso zielführender, diverse und denkbar offene Räume für den Austausch über verschiedene Herangehensweisen zu etablieren. Machen wir es uns doch zum Prinzip: die DO-THINK-Balance. Überall dort, wo es um das große Ganze geht, gewichtige Pa­piere und grundlegende Strategien, empfiehlt es sich, im Nebenraum in Ad-hoc-Teams mit unterschiedlichsten Erfah­rungen am Konkreten und Unmittelbaren zu arbeiten. Auf dass es für alle schneller voran geht!

Als einen Baustein dieser Strategie haben die Landes- und Regionalgruppen Berlin-Brandenburg und Hamburg der Kulturpolitischen Gesell­schaft zusammen mit dem Netzwerk Agile Kultur 2021 das Forum Kollegiale Beratung entwickelt. Ab 2022 bietet es – wo immer notwendig – und zudem viermal jährlich analog oder digital einen bereits jetzt schon bewährten Rahmen, in dem Menschen zusammenfinden und sich vernetzen können. Auf ko-kreative Weise arbeiten sie in einem vorgegebenen Setting gemeinsam an der Verbesserung individueller Arbeitssituationen und unmittelbar anwendbarer Arbeitswei­sen, Formate und Maßnahmen zum eigenen konkreten transformierten Handeln im Kulturbereich.

Autor*innen

Wibke Behrens, Dr. Annette Jagla, Moritz von Rappard und Christopher Vila.

Die Autor*innen sind Teil des informellen Netzwerks Agile Kultur, das sich für eine größere Innovationsorientierung im Kulturbereich engagiert. Die Mitglieder des Netzwerks arbeiten in Kulturinstitutionen, sind in der Beratung, in Verbänden, Vereinen oder in Stiftungen tätig und teilen das Interesse an einem Wandel in der Kultur.

Zeit für Transformation(en). Notwenige Paradigmenwechsel in der Kulturpolitik

30. September 2021

Die Kulturpolitische Gesellschaft positioniert sich seit Anfang 2021 als Think-Tank für die Transformation des Kulturbereichs. Es geht dem Verband darum, den Diskurs über Zukunftsfragen und die notwendige Orientierung an gesellschaftlichen Veränderungen zu stärken.

Angesichts einer Zunahme existentieller Krisen (Klimawandel, Corona-Pandemie) und sich verändernder Produktions- oder Rezeptionsgewohnheiten im Kontext vielfältiger, digitalisierter Lebenswirklichkeiten, können wir uns die Aufrechterhaltung eines veralteten Status quo im Handlungsfeld der Kultur schlicht nicht mehr erlauben. Die von vielen traditionsbewussten Führungskräften zurückgewünschte Normalität führt mehr denn je in Richtung Bedeutungslosigkeit. Es braucht dringend eine kritische Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Arbeitsweisen und die damit verbundene progressive Weiterentwicklung kultureller Infrastrukturen.

Aus diesem Grund ist es durchaus ein positives Signal, dass sich in vielen Kulturorganisationen bereits mehr oder weniger ernsthafte Reformbemühungen abzeichnen. Allerdings vollziehen sich diese in der Regel nur auf der programmatischen Ebene und haben selten nachhaltige strukturelle Konsequenzen in Bezug auf den Abbau von Hierarchien oder Machtasymmetrien, sich verändernde kollaborative Arbeitsabläufe im Querschnitt und die Etablierung neuer (Schnittstellen-)Funktionen.

Dabei sind gerade diese strukturentwickelnden Maßnahmen notwendig, um dauerhaft neue Arbeitsergebnisse möglich zu machen. Da derartige Strukturanpassungen in der Regel mit einer Neuverteilung von Macht, Kontrolle, Status und Deutungshoheit in den Institutionen verbunden sind, versuchen Führungskräfte diese zu vermeiden, um ihre eigene Stellung im System nicht zu gefährden. Derartige Veränderungen müssen deshalb von den jeweiligen kulturpolitischen Instanzen von außen eingefordert und begleitet werden. Für diese Entwicklung der (Infra-)Strukturen braucht es eigenständige Fördermittel, Unterstützungsleistungen und Anreize. An dieser Stelle offenbart sich die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels – hin zu einer Kulturpolitik der Transformation.

Der Begriff der Transformation beschreibt den gestaltenden Prozess der Veränderung. Entgegen eines veralteten Begriffsverständnis geht es dabei nicht mehr darum, dass sich ein System vom vorherrschenden Ist-Zustand zu einem ebenfalls fixen Soll-Zustand entwickelt. Angesichts der Schnelllebigkeit und Komplexität gesellschaftlicher Wirklichkeiten bedarf es vielmehr dauerhaft lernender Kulturverwaltungen oder -organisationen, die sich und ihre Arbeitsergebnisse immerwährend im Kontext verändernder Erwartungen reflektieren und diese entsprechend anpassen.

Die mit der Transformation verbundenen Prozesse sind dann nicht mehr temporär, sondern müssen zu einem eigenständigen Bestandteil des Organisationszwecks werden. Dafür braucht es in den Systemen nicht nur entsprechende Funktionsstellen, Handlungskontexte und Methoden, sondern auch ein Wissen über ein transformationsorientiertes Management. Letzteres ist besonders wichtig, da es im Kulturbereich an Kompetenzen und an einem gemeinsam geteilten Begriffsverständnis für die hier beschriebenen Prozesse der Neuausrichtung mangelt.

Viele Kulturmacher*innen diffamieren Transformationsthemen aufgrund einer angeblichen neoliberalen, rein wirtschaftsorientierten Geisteshaltung. Aus diesem Grund sind auch andere Begriffe aus diesem Feld – wie etwa Innovation, Kreativität oder Fortschritt – verpönt, und werden kaum bis nie verwendet. Nicht selten lautet der Vorwurf, dass es letztlich nur um Effizienzgewinne und damit um mögliche Begründungen einer Kürzung von Fördermitteln geht. Diese Kritik ist insofern paradox, da Prozesse der Erneuerung von den unterschiedlichen Stakeholdern (etwa dem Publikum, der Politik oder der Verwaltung) positiv bewertet werden. Tendenziell ließe sich somit eher eine zusätzliche Legitimation der Förderung(en) argumentieren.

Die Abwertung von Transformationsthemen dient in vielen Fällen vielmehr der Absicherung des Status quo. Gerade öffentlich geförderte Kulturinstitutionen sind besonders anfällig für strukturkonservative Haltungen. So führen unter anderem die dauerhafte Förderung, die hohe Machtzentrierung durch das Ideal künstlerischer Universalgenies, ein falsch verstandenes Konzept künstlerischer Freiheit sowie der ausgeprägte akademische Kanon zu einer enormen Selbstbezüglichkeit und einer Entkopplung von gesellschaftlichen Fragestellungen.

Für die Vertreter*innen von Kulturorganisationen gibt es keine wirklichen Verpflichtungen, die eigene gesellschaftliche Verantwortung zu reflektieren und sich dementsprechend zu positionieren. Davon profitieren derzeit insbesondere die oftmals rein fachlich ausgebildeten Führungskräfte, die in den Systemen noch zu oft entsprechend ihrer programmatischen Eigeninteressen agieren können. Mit ernsthaften – von Akteur*innen aus Kulturpolitik und Kulturverwaltung gleichermaßen eingeforderten – Transformationsbestrebungen ließe sich diese Innenorientierung aufbrechen.

Die sich stattdessen etablierende Außenorientierung wäre mit einer stärkeren Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen und damit zusammenhängend mit einer Ausrichtung an sich verändernden Bedarfen verbunden. Nicht ohne Grund wurde in den vergangenen Monaten viel über die gesellschaftliche Relevanz von Kulturproduktionen gesprochen. Diese ist der Kultur auf einer gesellschaftlichen Metaebene durchaus immanent, muss in der alltäglichen Praxis unter Berücksichtigung der Teilhabe möglichst vieler Menschen und unter der Bedingung einer Nutzung digitaler Technologien immer wieder neu unter Beweis gestellt bzw. verhandelt werden.

Hier offenbart sich die Aktualität der Forderung einer »Kultur für alle von allen«, die eine radikalere Publikumsorientierung voraussetzt. Daran anknüpfend muss eine transformationsorientierte Kulturpolitik einfordern, dass Kulturproduktionen viel deutlicher aus der Vermittlungsperspektive gedacht werden, da dieses Handlungsfeld den Wissenstransfer zwischen Produzentinnen und Rezipientinnen organisiert. Trotz jahrzehntelanger Debatten seit den 70er Jahren ist dieser Paradigmenwechsel nie ernsthaft eingeleitet worden.

Der Vermittlungsbereich ist bis heute fast immer der schwächste Organisationsteil, verfügt in der Regel über wenig Einfluss innerhalb der Institutionen und leidet unter prekärer Beschäftigung. Es ist an der Zeit, dass Kulturpolitiker*innen ihren Gestaltungsauftrag für eine Kulturpolitik der Transformation annehmen und die notwendige Weiterentwicklung kultureller Infrastrukturen einfordern. Daran anknüpfend müssen dauerhaft geförderte Institutionen in Bezug auf eine Anpassung an den gesellschaftlichen Wandel stärker in die Pflicht genommen und durch daran angepasste Förderprogramme entsprechend begleitet werden.

Ganz offensichtlich reicht es nicht mehr aus, einen großen Teil der nicht bereits gebundenen Finanzmittel alleine für künstlerisch-kreative Inhalte auszugeben. Gleichzeitig zeigt sich, dass eine projektförmige Transformationsförderung, die oft ebenfalls auf der Ebene des Programms ansetzt, viel zu selten nachhaltige Effekte erzielt. Stattdessen braucht es eine Strukturoffensive zur Stärkung von Transformationen im Kulturbereich.

Es ist bereits deutlich geworden, dass es dem Handlungsfeld der Kultur an Wissen über Transformationsthemen und die damit verbundenen Herangehensweisen mangelt. Im Kontext einer sich rasant verändernden Gesellschaft ist es durchaus problematisch, dass es in diesem Bereich keine Kultur der Weiterbildung gibt und in vielen Kulturorganisationen deshalb kaum Budgets dafür vorhanden sind.
Neben einer systematischen Förderung der Weiterentwicklung organisationaler Strukturen – etwa durch neue Funktionsstellen zur Strukturentwicklung – sind deshalb auch entsprechende Programme der Kompetenzentwicklung im Sinne von (kollegialen) Beratungen, Coachings oder Weiterbildungen notwendig.

Daran anknüpfend wäre es durchaus sinnvoll, wenn flächendeckend intermediäre Organisationen aufgebaut oder gestärkt werden, die Kulturmacher*innen bei der Neuausrichtung ihrer Kulturarbeit unterstützen. Diese neuen Institutionen könnten als Wissensspeicher dienen, Transformationsprozesse begleiten, das notwendige Methodenwissen vermitteln und themenspezifische Vernetzungen unterstützen. Durch den Aufbau derartiger Strukturen ließe sich zudem verhindern, dass diese Aufgaben an teure Agenturen aus der Wirtschaft ausgelagert werden.

Darüber hinaus sollte eine Strukturoffensive für Transformationen auch Maßnahmen zur Stärkung des Cultural Leaderships unterstützen. Bis heute existieren in Deutschland keine staatlich finanzierten Weiterbildungsangebote für Führungskräfte im Kulturbereich – und das obwohl das Leitungspersonal in der Regel oftmals deutlich zu programmatisch entsprechend eines akademischen Fachkanons ausgebildet ist und die Steuerung von Organisationen erst in der Praxis erlernt. Dadurch sind die aktuell notwendigen Transformationskompetenzen für die infrastrukturelle Weiterentwicklung der eigenen Systeme nach wie vor unterrepräsentiert.

Die Strukturoffensive sollte auch die Stärkung kommunaler Kulturverwaltungen als Trägerinstanzen vieler Kulturorganisationen beinhalten. Im Kontext der New Public Management-Bewegung der 1990er-Jahre wurde dieser Bereich in vielen Fällen an die Grenze der Arbeitsfähigkeit konsolidiert. Gerade in finanzschwachen Städten und Gemeinden mangelt es an Schnittstellenfunktionen, die Kulturmacher*innen (aus den Institutionen) bei der Qualifizierung und inhaltlichen Neuausrichtung begleiten. Durch entsprechende Unterstützungsleistungen könnten sich Kulturverwaltungen deutlich stärker als Moderator*innen des Wandels positionieren.

Lange Zeit spielte das Thema der Transformation auf der kulturpolitischen Agenda nur eine untergeordnete Rolle. Die Corona-Pandemie wirkte hier allerdings als Katalysator, da viele altbekannte Problemstellungen des Kulturbereichs wieder in den Blick geraten sind und neue Herangehensweisen erforderlich machen. Die Kulturpolitik muss nun die richtigen Rahmenbedingungen auf den Weg bringen, um zukunftsweisende Reformen unterstützend zu begleiten.

Dieser Text erschien bereits unter der Rubrik »Texte zur Kulturpolitik« des Deutschen Kulturrats am 01. September 2021.



Autor

(c) Helena Grebe


































Dr. Henning Mohr ist Leiter des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. in Bonn. Der Kultur- und Innovationsmanager hat u.a. für das Deutsche Bergbau-Museum Bochum gearbeitet. Zuvor promovierte er am DFG-Graduiertenkolleg »Innovationsgesellschaft heute« (TU Berlin, Institut für Soziologie) über die Innovationspotentiale künstlerischer Interventionen in Transformationsprozessen.

Mit Datenerhebung Veränderungen anstoßen — für einen gerechteren Kulturbetrieb

15. September 2021

Bei der Erhebung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten ist immer die Frage zentral, inwieweit strukturelle Diskriminierung stattfindet und welche Mechanismen bewirken, dass bestimmte Personengruppen ausgeschlossen werden bzw. andere für diese entscheiden und Kriterien der Arbeitsweise vorgeben. Ein Problem besteht darin, dass Diversität häufig mit Internationalität gleichgesetzt wird und strukturelle Diskriminierungsdimensionen so ausgeblendet werden. So wird beispielsweise selten die Frage gestellt, inwiefern Ableismus, also die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, sich auf den Kulturbetrieb auswirkt oder inwiefern die Perspektiven von Künstler*innen of Colour vertreten sind.

Und hier stellt sich dann nicht nur die Frage, inwiefern vielleicht die Kunst dieser Personen Eingang in die Institutionen findet, sondern vor allem auch ob die Personen, die diese Diskriminierungserfahrungen machen, auch Leitungspositionen innehaben. Es braucht Zahlen, um den Status quo im Kulturbetrieb besser beschreiben und datenbasiert Maßnahmen zur Förderung von Vielfalt und Chancengleichheit ergreifen zu können. (Auch für den Bereich des Kuratierens ist es wichtig, Daten darüber zu erheben, wessen Arbeiten eigentlich ausgestellt werden. Nur so kann an diesen Zahlenverhältnissen, die häufig strukturelle Diskriminierung widerspiegeln, etwas geändert werden.)

Unsere Erhebung fragt als erste in Deutschland differenziert nach Erfahrungen von Personen in Kunst- und Kultureinrichtungen entlang aller Diskriminierungsdimensionen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Es geht also darum zu ermitteln, inwiefern Diskriminierung aufgrund von Behinderung, (zugeschriebener) Religion, (zugeschriebenem) Geschlecht, aufgrund des Alters oder der sexuellen Identität gemacht werden. Des Weiteren beziehen wir die Diskriminierungsdimension Ostsozialisierung, den sozialen Status sowie die Diskriminierung aufgrund des Körpergewichts mit ein.

Außerdem wird erhoben, inwiefern Personen rassistische Diskriminierungserfahrungen machen. Dabei können die Befragten angeben, aufgrund welcher Zuschreibung sie diskriminiert wurden. Denn bei Diskriminierung ist die diskriminierungsrelevante Fremdzuschreibung und nicht eine vermeintliche bzw. einzig wahre Gruppenzugehörigkeit relevant. Personen erleben Diskriminierung auch aufgrund von nicht zutreffenden Zuschreibungen – etwa wenn Sikhs aufgrund ihrer religiösen Tracht als Muslime diskriminiert werden.

Eine solche Differenzierung ermöglichen wir in unseren Befragungen nach der Auto-hetero-Perspektive, bei der Diskriminierte die diskriminierende Zuschreibung, also als wer sie diskriminiert wurden, gesondert angeben können. Da dazu in Deutschland bisher keine Daten vorliegen, war unsere Pilotstudie zur Erhebung von Diversität in der Berliner Verwaltung, in deren Rahmen das beschriebene Erhebungsinstrument erstmals getestet wurde, hier wegweisend.

Um Repräsentationsfragen differenziert stellen zu können, musste das Instrument für die teilnehmenden Kultureinrichtungen individuell, je nach Kontext in Bezug auf Sprache und Fragen, angepasst werden. So stellen sich in der Besucher*innnenforschung für Museen beispielsweise die Fragen: Wer kommt, wer kommt nicht? Wer kann es sich leisten, ins Museum zu gehen – finanziell, aber auch zeitlich? Wer findet dort ihre*seine Geschichten – Geschichten, die berühren? Wer wählt aus, was dort zu sehen ist – wer zu sehen ist? Solche Fragen lassen sich durch qualitative Forschung beantworten:

Im Rahmen der Nichtbesucher*innenforschung, die das Team von Citizens For Europe. Vielfalt entscheidet ebenfalls im Auftrag von Diversity Arts Culture durchgeführt hat, war daher das Ziel, mithilfe von Fokusgruppengesprächen mit Personen, die intersektionale Diskriminierungserfahrungen machen, herauszufinden, warum Personen bestimmte Kunst- und Kultureinrichtungen nicht besuchen, inwiefern sie sich repräsentiert und/ oder diskriminiert fühlen.


Welche Maßnahmen können ergriffen werden?

Ein Best-Practice-Beispiel ist die Arbeit des Arts Council England, der Fördermittel inzwischen an Diversitätsquoten geknüpft hat, da klar wurde, dass gerade auch im Kunst- und Kulturbetrieb sich strukturelle Nachteile nicht von selbst ausgleichen. Bei der Eröffnung des Berliner Projektbüros für Diversitätsentwicklung, Diversity Arts Culture, stellte Abid Hussain, der Direktor für die Abteilung Diversity des Arts Council England, das Programm Creative Case for Diversity vor und machte deutlich: »Talent is everywhere, but opportunity isn’t.«

Es gehe also darum, durch gezielte Maßnahmen unterrepräsentierte Communitys zu fördern. Dabei machte er auch deutlich, dass dies ein langfristiger Prozess sei, denn »um Dinge im Ballett, der klassischen Musik oder der Oper zu verändern, müssen wir mit den Kindern beginnen, die heute zwei oder drei Jahre alt sind«. Resultate werden also weder in zwei oder drei Jahren zu sehen sein noch in fünf: »Wenn es eine Veränderung bei den Talenten, die auf der Hauptbühne in der Oper stehen, geben soll, dann braucht das 10, 15, 20 Jahre. Diese Zeit müssen wir investieren.«

Für den Arts Council England war es eine wichtige Voraussetzung, dass die strukturelle Dimension des Mangels an Diversität anerkannt wurde. Nur durch diese Erkenntnis konnten echte Veränderungen bewirkt werden. In Deutschland ist die Ausgangslage insofern eine andere, als Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten bisher hauptsächlich in Bezug auf die Kategorie Geschlecht – und dabei einem binären Geschlechterverständnis folgend – erhoben wurden.

Das bedeutet, dass es nicht möglich ist, quantitative Aussagen über den Status quo zu machen und zu sagen, wie viele Personen, die zum Beispiel rassistische Diskriminierung erfahren, in Einrichtungen arbeiten, ausstellen oder diese besuchen. (Dass es bei der Erhebung von Gleichstellungsdaten um die richtige Ansprache von People of Colour geht, zeigt auch dieser Artikel, der sicherlich eine gute Absicht hat, dann aber von »Zuwanderern« spricht.)

Auch gibt es keine Aufzeichnungen darüber, wie sich die Diversität im Kulturbetrieb mit den Jahren verändert hat. Im Bereich der Geschlechtergerechtigkeit gibt es bereits Strategien und Maßnahmen wie Gender Mainstreaming, Gender Budgeting und Quoten. Gerade im Bereich der Filmbranche wurde durch #metoo deutlich, wie weit Sexismus dort verbreitet ist. (Siehe auch die Debatte um #metwo. Citizens For Europe. Vielfalt entscheidet plant aktuell ein neues Projekt im Bereich Film.)

Für den Abbau von strukturellem Rassismus bzw. der Förderung von Personen, die rassistische Diskriminierung erleben, gibt es in Deutschland bisher noch nicht einmal die entsprechende Datengrundlage. In der Realität stehen diese Dimensionen jedoch nicht nebeneinander, sondern wirken vielfach zusammen und bringen besondere Diskriminierungsrealitäten hervor. Deren Konturen lassen sich am differenziertesten durch die Erhebung intersektionaler Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten nachzeichnen. (Es geht hier keinesfalls um die »Erfassung« oder das Zählen von Personen. So zielt die Anfrage der AfD in Stuttgart, Zahlen über Migrant*innen in Kulturbetrieben zu veröffentlichen, in eine völlig andere Richtung. Gerade auch wegen der vielen Angriffe von rechts auf die Kulturpolitik braucht es die Erhebung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten mit entsprechenden Standards bzw. festen Kernprinzipien.)

Antidiskriminierung und Gleichstellung. Welche Daten braucht es?

Die meisten Fördermaßnahmen für Frauen beziehen sich auf eine statistische Datengrundlage. Das zeigt: Ein differenziertes Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsmonitoring muss auch die Grundlage für Maßnahmen in anderen Diskriminierungsdimensionen sein. Es braucht daher mindestens Daten in Bezug auf alle Dimensionen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, gerade auch in Bezug auf rassistische Diskriminierung.

Mit Hilfe der Daten, die wir erheben, kann der Status quo in Bezug auf Diversität ermittelt werden, um wirksame Strategien zur Förderung von Vielfalt und Chancengleichheit zu entwickeln. Dafür ist es essenziell, dass die Datenerhebung den folgenden sieben Kernprinzipien folgt:

Es wird also deutlich, dass jeweils kontextspezifisch der Status quo der Diversität betrachtet werden muss, um Aussagen darüber treffen zu können, welche Personengruppen von Ausschlüssen betroffen sind. Diese Zahlen und Erfahrungen können dann genutzt werden, um konkrete Fördermaßnahmen zu entwickeln. Ein besonders eindrückliches Beispiel sind die Blind Auditions: »Musikerinnen werden mit einer fünf Prozent höheren Wahrscheinlichkeit eingestellt als Männer, wenn Symphonieorchester Blind Auditions anwenden. Eine Studie an elf Orchestern zeigte, wie eine einfache Veränderung einen großen Einfluss hatte.« (Siehe hier die Darstellung des Arts Council England.)

Gleichzeitig ist aber auch klar, dass anonyme Bewerbungsverfahren in manchen künstlerischen Bereichen, wie zum Beispiel bei Vorsprechen oder Vortanzen im Theater- bzw. Tanzbereich nicht umsetzbar sind. Darüber hinaus wird bei einer solchen Maßnahme nur eine von vielen Barrieren in den Blick genommen. Es kann sich aber nicht darauf verlassen werden, dass es an anderer Stelle im Bewerbungsverfahren nicht zu Ausschlüssen und diskriminierenden Situationen kommt.

Auch bei Verfahren, die die Erhöhung von Chancengleichheit zum Ziel haben, kann es dazu kommen, dass gegenteilige Effekte entstehen. Dies zeigt beispielsweise eine Studie, die die Anwendung von Stimmverzerrern untersuchte, die der Diskriminierung von Frauen in Bewerbungsgesprächen entgegenwirken sollten. Die Studie ergab, dass die stereotyp als nachteilig angesehene Zurückhaltung von Frauen noch negativer ins Gewicht fiel, wenn das Geschlecht nicht zugeordnet werden konnte.

Für die Entwicklung von Maßnahmen und Strategien ist es besonders sinnvoll, wenn Personengruppen, die mit Hilfe dieser Maßnahmen unterstützt werden sollen, danach gefragt werden, für wie wirksam sie diese halten. Die genannten Beispiele zeigen, dass Strategien und Maßnahmen nicht kontextunabhängig entwickelt werden können und von Personengruppen, die unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen machen, unterschiedlich bewertet werden. Die Erhebung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten kann Aufschluss über die Repräsentation und Inklusion bestimmter von Diskriminierung betroffener Gruppen geben und zur diversitätsorientierten Organisationsentwicklung beitragen.

Erstveröffentlicht in: »Wir hatten da ein Projekt … Diversität strukturell denken«, hrsg. von Diversity Arts Culture. Kulturschaffende können kostenlos ein gedrucktes Exemplar der Publikation per E-Mail bei Diversity Arts Culture bestellen: info@diversity-arts-culture.berlin



Autor*innen

© Séverine Lengle


















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Joshua Kwesi Aikins ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership. Er begleitet unsere Projekte im Bereich Forschung und Beratung durch einen menschenrechtsbasierten, rassismuskritischen Ansatz und bringt dabei neben Menthodenkenntnissen auch sein Wissen im Bereich Open Source Lösungen in die innovative Bearbeitung wissenschaftlicher Herausforderungen ein.

Seine konzeptionellen und theoretisch grundlegenden Analysen sowie die Anwendung innovativer Methoden sichern die Forschungsqualität aus diskriminierungskritischer Perspektive. Kwesi entwickelt diverse Fokusgruppen-, Planspiel- und Expert*innen- gestützte Formate zur qualitativen Erfassung von Diskriminierungsdynamiken und Ermächtiungsstrategien im Kultursektor.

Ausgehend von seiner zweijährigen Tätigkeit als Koordinator eines Parallelberichtes an den UN-Antirassismusausschuss konzipierte er die methodischen Grundlagen und begleitete die Umsetzung der Erhebung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten unter Führungskräften der Berliner Verwaltung. Er veröffentlichte unter Anderem zu Aneignung und Widerstand in Jugendkulturen, alltägliche Gegenwart der kolonialen Vergangenheit, Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten sowie postkolonialer Kritik. Als Mitglied im Beirat der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland setzt er sich für umfassendes Empowerment und antirassistische Politik ein.

Kwesi promoviert an der Uni Kassel und lehrt dort zu dekolonialen Perspektiven auf Entwicklung sowie indigenen politischen Autoritäten in Ghana.


Sophie Ali Bakhsh Naini arbeitet als Referentin der Geschäftsstelle und Projektmitarbeiterin im Advocating for Inclusion-Team. Zuvor war sie in Hamburg als Bildungsreferentin mit dem Schwerpunkt Kultur und Vielfalt in der W3 – Werkstatt für Internationale Kultur und Politik tätig. Als zertifizierte Trainerin für Soziale Gerechtigkeit und Vielfalt (FH Potsdam) berät sie Institutionen und bildet Gruppen zum Thema Antidiskriminierung und Vielfalt aus.

Ihre Erfahrungen im Kulturbereich und in der politischen Bildung bringt sie in ihre Arbeit als Beraterin für Vielfalt und Öffnungsprozesse ein. Ihre Ausbildung in Diversitätsorientierter Organisationsentwicklung setzte sie bei der RAA Berlin (Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie e.V.) fort.

Sophie studierte Kulturwissenschaft und Soziologie in Berlin und Frankfurt Oder mit den Schwerpunkten visuelle Kultur und postkoloniale Theorie und forschte an widerstandsfähiger Bildpolitik und antimuslimischem Rassismus. Während des Studiums arbeitete sie als Management-Assistant und Kuratorin am Berliner Kunstraum Savvy Contemporary – The Laboratory of Form-Ideas.


Daniel Gyamerah leitet das Team Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership sowie das Portfolio zu Vielfalt, Antidiskriminierung und inklusiver Führung. Seine Hauptaufgaben umfassen die Steuerung der angewandten Forschung und der Advocacy-Arbeit. Er leitete die Konzeption, Durchführung und Verbreitung einer Pilotstudie zu Diversität unter Führungskräften der Berliner Verwaltung. Dabei wurden erstmals im deutschen Kontext differenzierte Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten entlang aller Dimensionen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes erhoben.

Seine Leidenschaft gilt der Entwicklung von Inklusionsstrategien, dem Aufbau von Community-Netzwerken und der Institutionalisierung von Empowerment. Daniel ist Gründungsmitglied der neuen deutschen organisationen (ndo) und Vorsitzender von Each One Teach One (EOTO).

Seine Veröffentlichungen behandeln strategische Inklusions- und Antidiskriminierungsansätze in der Verwaltung sowie im Kultur- und Bildungssektor. Daniel war Teach First Deutschland Fellow und ist Mitglied des Transatlantic Inclusion Leaders Network (TILN). Daniel hat einen B.A. in Politik und Verwaltung von der Universität Konstanz und einen MPP von der Hertie School of Governance.


Als wissenschaftliche Mitarbeiterin ist Lucienne Wagner bei Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership zuständig für die Forschung zu Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten, deren Erhebung und Analyse. Außerdem promoviert Sie zu Diversität an deutschen Hochschulen und hier bestehenden theoretischen Potenzialen für kritische Praxis. Zuvor arbeitete Sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem empirischen Forschungsprojekt zu Geschlecht und Alter am Institut für Soziologie an der Freien Universität zu Berlin.

Teile ihres Masterstudiums der Sozialwissenschaften mit einem Fokus auf Geschlechter- und Arbeitssoziologie absolvierte sie an der University of California Berkeley. Im Anschluss an das Auslandsstudium fertigte Sie unter anderem durch den DAAD finanziert eine Studie zur dortigen Diversitätspolitik durch mit dem Titel Working from both ends: Intersektionale und queere Diversitätspolitik an der UC Berkeley. Lucienne ist außerdem zertifizierte Social Justice und Diversity Trainierin und gibt regelmäßig Trainings.


Deniz Yıldırım ist Soziologin und hat die wissenschaftliche Leitung im Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership Team inne. Sie ist Co-Sprecherin von Bunt-Grün, dem Empowerment-Netzwerk für People of Color und Schwarze Menschen innerhalb des Grünen Landesverbandes und hat ein tiefes Verständnis für die Schnittmenge von politischen Prozessen, Community Empowerment und datengestützter Politikgestaltung.

Deniz verfügt über sechs Jahre Forschungserfahrung für die Universität Duisburg-Essen, die Universität Kassel, das Sozioökonomische Panel (SOEP) des DIW und das Centre March Bloch, das quantitative und qualitative Analysen in den Bereichen Diskriminierung, Migration und Datenwissenschaft kombiniert.

Ihre aktuelle Forschung konzentriert sich auf die Messung sozialer Ungleichheit und Stratifizierung und ist inspiriert von Theorien der sozialen Gerechtigkeit und dem Kampf gegen rassistische Diskriminierung. Deniz hat einen Master-Abschluss in Soziologie – Europäische Gesellschaften der Freien Universität Berlin und ist zertifizierte Diversity-Trainerin.

Willkommen in der Neuen Deutschen Welt

9. September 2021

In den 80er Jahren gab es keinen Rassismus. Wir lernten in der Schule, dass Menschenrassen ein faschistisches Konzept waren, und wenn es Rasse nicht gibt, folgt daraus nur logisch, dass es auch keinen Rassismus geben konnte. Entsprechend war es nicht möglich, darüber zu sprechen, ohne so zu wirken, als wolle man Menschen erneut aufgrund von äußerlichen Merkmalen wesenhaft unterscheiden. All das ändert sich gerade mit atemberaubender Geschwindigkeit. Deutschland entdeckt (Anti-)Rassismus und (Post-)Kolonialismus. Plötzlich sprechen wir über PoCs und über BiPoCs. Und das ist wichtig. Es ist aber auch gleichzeitig beängstigend.

Wirkt es doch so, als gäbe es jetzt mehr Rassismus. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Wir sind an einem gesellschaftlichen Punkt, an dem wir uns dem endlich stellen können. Nur wenn wir etwas benennen können, können wir es auch ändern. Mehr noch, brauchen wir Sprache, um über Sachverhalte überhaupt nachdenken zu können. [1]

Rassismus hat nicht nur eine äußere Dimension, sondern auch viel mit Ich-Werdungs-Problemen zu tun. In Bezug auf den Kulturbereich heißt das, dass der Wunsch Schriftsteller*in zu werden für meine weißen Freunde so ähnlich war, wie im oberen Management arbeiten zu wollen, ehrgeizig aber ein Berufswunsch. Für mich war er wie der Wunsch, zum Mond zu fliegen, ein unerreichbarer Traum.

Rassismus macht etwas mit unserer Phantasie, mit der Vorstellung davon, wo unser Platz in dieser Gesellschaft und wieviel Bewegungsspielraum dort für uns ist. Die Aussiebungsprozesse setzen viel früher an. Und sie sind unsichtbar. Kulturförderungen, Residenzen und Stipendien bedenken das jedoch in der Regel nicht. Und sie tun das nicht, weil sie von rassistischen Menschen betrieben werden, im Sinne von Menschen, die andere Menschen vorsätzlich und bewusst auf Grund ihres Phänotyps diskriminieren wollen. Das ist die landläufige Definition von Rassismus und sie ist falsch. Missversteht sie doch den Kampf gegen Rassismus als Kampf gegen böse Menschen.

Wenn jeder Rassismus ein bewusster, individueller und absichtlicher wäre, wäre alles super. Dann könnten Menschen nämlich in der Tat einfach damit aufhören. Dabei ist der meiste Rassismus unbewusst, weil er internalisiert ist. Nebenbei ist es unmöglich, keine rassistischen Stereotype verinnerlicht zu haben – egal auf welcher Seite der race divide wir stehen. Rassismus ist das Wasser, in dem wir schwimmen. Wir alle bekommen das so genannte rassistische Wissen [2] bereits mit der Muttermilch eingeflößt. Und das ist jetzt sexistisch, weil das natürlich nicht die Schuld der Mütter ist.

Das Gegenteil von rassistisch ist nicht nicht-rassistisch, sondern anti-rassistisch, erklärt  der  Historiker und Gründungsdirektor des Anti Racist Research and Policy Center der American University Ibram X. Kendi. [3] Denn wenn wir uns damit begnügen, Rassismus einfach nur abzulehnen, bleibt die Auseinandersetzung mit der Wirkmächtigkeit dieser Strukturen aus. Das können wir an den hilflosen Versuchen vieler Institutionen – von der Polizei, über die Medien bis zum Gesundheitssystem – sich zu diesem Thema zu positionieren, sehen, die häufig nach dem Motto verläuft: Wir finden Rassismus ganz schrecklich, deshalb kann es bei uns auch keinen Rassismus geben.

Anti-Rassismus dagegen geht von der Analyse aus, dass wir in einem Gesellschaftssystem aufgewachsen sind, das auf rassifizierten Hierarchien basiert – auf der Ausbeutung anderer Länder durch Kolonialismus, auf rassistischen Menschenbildern, die unsere Philosophie durchdringen und so weiter und so fort. [4] Deshalb wäre es höchst verwunderlich, wenn ein Gesellschaftszweig davon frei bliebe, als wäre er abgeschnitten vom Rest der Wissensproduktion. Und das ist die gute Nachricht! Der Prozess, in den wir gerade eintreten, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und kein Zeichen davon, dass bei uns etwas nicht stimmt. Die kulturpolitischen Handlungsempfehlungen von Interkultur Ruhr sind eine Orientierungshilfe im scheinbar unendlichen Meer der Anti-Rassismus-Ansprüche.

Doch mehr noch sind sie eine Entlastung. Es geht nicht darum, sich anzustrengen, so nette Menschen wie möglich zu werden. Spoiler: Selbstverpflichtungen funktionieren nahezu nie, weil dabei jede*r das Rad selbst erfinden und es, um im Bild zu bleiben, durch eine Welt aus Quadern rollen muss. Selbstverpflichtungen sind im besten Fall Selbstüberforderungen – im schlechtesten Fall sind sie leere Worte.

Was wir brauchen, ist eine Institutionalisierung von anti-rassistischem Wissen sowie einer anti-rassistischen Praxis, um einen wirklichen Wandel herbeizuführen. Das entspricht übrigens auch den Forderungen des Europarats, der von Deutschland aktive Maßnahmen gegen Rassismus fordert, allem voran mehr »Aufklärungsarbeit in Institutionen« und die Verankerung von in die »Bildungsgesetze und in die Lehrpläne«.

Neben Aufklärung/Wissen geht es vor allem um Teilhabe und Repräsentation. Nun machen mehr BiPoCs noch nicht unbedingt anti-rassistische Kunst und Kultur. Was sie jedoch tun ist, ein Signal auszusenden. An andere BiPoCs und an die Institutionen. Wie häufig habe ich gehört: Ach, Frau Sanyal, Ihre Erfahrungen sind ja faszinierend, aber doch eher so Spartenthemen. Sprich: Nicht repräsentativ. Dabei sind sie genau das. Und das würden Menschen auch eher sehen, wenn wir angemessen repräsentiert wären, wenn wir als Teil dessen wahrgenommen würden, was ›echte‹ Kultur ist, was das ›echte‹ Leben ist, was ›echte‹ Deutsche sind.

Schließlich ist eine der zahlreichen Funktionen von Kultur, kollektive Erinnerungen aufzubewahren und zu gestalten: Wie funktioniert Erinnern in der Bundesrepublik? Wer ist Teil der Erinnerungskultur, und damit auch Teil des Bildes, das wir von uns in die Zukunft projizieren? Im Kern: Wer sind wir?

»Wir sind Viele« ist kein Slogan, es ist die Beschreibung einer Lebensrealität, die wir produktiv machen können. Und das bezieht sich nicht nur auf die Sender*innen, sondern auch auf dem Adressaten*innen. Wenn wir bestimmte Positionen unterrepräsentieren, werden sich auch nur bestimmte Menschen von unseren kulturellen Produkten angesprochen fühlen. Wie kann die Kultur dann aber ihrem Anspruch als fünfte Kraft in einem demokratischen Staat nachkommen? Als Ort der Rede- und Imaginationsfreiheit? Aber auch als gesellschaftlicher Raum der Begegnung und Berührung? Kultur ist der Ort, an dem Empathie entsteht und geschult wird, ein Labor für die Auseinandersetzung mit dem Anderen, auch mit dem Anderen im Eigenen.

Das Besondere an Kultur ist, dass hier Utopien nicht nur gedacht, sondern experimentell bereits erlebbar gemacht werden können. Die kulturpolitischen Handlungsempfehlungen sind aus einem kollektiven Prozess entstanden. Sie (und die Erfahrungen, die aus ihrer Umsetzung entstehen) werden das kulturelle Leben in Deutschland nachhaltig bereichern – für uns alle! Und sie werden nicht nur die Inhalte bereichern, sondern auch die Arbeitsprozesse. Diversität bedeutet, dass wir nicht in alten Strukturen festgefahren bleiben müssen. Anti-Rassismus bedeutet ein Mehr an Menschlichkeit in Kunst und Kultur und damit in dem, wie unsere Gesellschaft sich selbst erklärt. 

Dieser Text erschien als Geleitwort zur Publikation Interkulturelle Arbeit im Ruhrgebiet. Kulturpolitische Handlungsempfehlungen (2020), Autor*innen Fatima Çalışkan & Miriam Yosef, Redaktion: Johanna-Yasirra Kluhs, Jola Kozok, Fabian Saavedra-Lara. Sie kann hier heruntergeladen werden.

Autorin

© Guido Schiefer

Mithu Sanyal wurde 1971 in Düsseldorf geboren und ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin, Journalistin und Kritikerin. 2009 erschien ihr Sachbuch „Vulva. Das unsichtbare Geschlecht“, 2016 „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“. 2021 erschien bei Hanser ihr erster Roman Identitti.


[1] Vergl. Kübra Gümüsay: Sprache und Sein. Hanser: 2020

[2] Vergleiche Mark Terkessidis: Die Banalität des Rassismus. Transkript Verlag: 2004

[3] Ibram X. Kendi: How to be an Antiracist. Bodley Head/Penguin: 2019

[4] Vergleiche: David Theo Goldberg: Racist Culture. Philosophy and the Politics of Meaning, Blackwell: 1993