Hello, White Diversity!

11. März 2021

Neulich waren wir auf einer Konferenz eingeladen, auf der sich junge Mitarbeiter*innen deutscher Kulturinstitutionen über zukünftige Politik austauschten. Coronabedingt versammelten sich vier Dutzend Young Urban Professionals auf Zoom und hielten einen Zettel mit Hashtags in die Kamera, was ihnen am Herzen liegt. Fast überall stand ganz oben auf der Wunschliste: #diversität.

Wir blickten ratlos auf die Namen der Teilnahmeliste und die Gesichter im Split Screen: Eine neue Generation macht sich auf den Marsch durch die Institutionen. Aber augenscheinlich wäre kaum eine*r der Anwesenden auf eine weitere Diversifizierung der Kulturlandschaft persönlich angewiesen. In Theater, Oper, Museen und Stiftungen etablieren sich in der Programmarbeit Newcomer, die in den 1990er und 2000er Jahren aufgewachsen sind. Sie meinen, die Prinzipien einer gleichstellungsorientierten Gesellschaft mit der Muttermilch aufgesogen zu haben: Care-Arbeit soll ehrlich geteilt werden! Du musst gar nicht hetero sein! Und Deutschland ist selbstverständlich ein Einwanderungsland!

Diversität als weiße Ressource

Seit rund 20 Jahren initiiert die deutsche Mehrheitsgesellschaft neue Prozesse von Gleichstellung. Marginalisierte Gruppen werden heutzutage scheinbar in die Dominanzkultur integriert statt ausgegrenzt. Die bereits gestarteten Diversitätsprogramme in der Kultur sind Teil dieser Entwicklung. Als profilgebende Agenda hat Diversitätskompetenz aber bisher strukturell wenig erreicht. Sie dient in erster Linie als Ressource bei der beruflichen Etablierung eher privilegierter Menschen, die selbst massiv von struktureller Diskriminierung profitiert haben: Aussortierung auf dem Gymnasium, Benefits wie das Jahr an der High School, Studium ohne Rentabilitätserwartung, familiärer Support bei prekären Lücken und miesen Einstiegsgehältern. Wenn das so weitergeht, werden auch die Entscheidungsträger*innen der kommenden zwanzig Jahre in der überwältigenden Mehrheit weiß, obere Mittelschicht und ein bisschen linksliberal sein.

Was die Angehörigen der Dominanzkultur als Fortschritt erleben, ist für die tatsächlich von Diskriminierung betroffenen Menschen in Deutschland nur eine weitere Mutation jahrzehntelanger Ignoranz. Auch der neuen Generation fehlt das Bewusstsein für die Ambivalenz von Diversity Management, wie sie in den USA seit den 1990er Jahren in der Arbeit feministischer Theoretiker*innen of Color seit der Entstehung des Konzepts kritisiert wurde. Schon vor 20 Jahren argumentierten etwa Chandra Talpade Mohanty[1] und Nirmal Puwar[2], dass Diversität vorgibt, einen blühenden Pluralismus zu fördern, obwohl sie die Kontinuität sexistischer und rassistischer Diskriminierung nur verschleiert. Daran anknüpfend fragte Sara Ahmed 2012[3], ob Reformen nicht neben Diversität auch andere kritischere Begriffe aufgreifen müssten, etwa Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit.

Die Neue Kulturpolitik hat einen rassistischen Bias

Der Stand der Debatte zur Diversifizierung der Kultur diagnostiziert häufig, dass das Problem inzwischen begriffen worden wäre und Diversität auf der Ebene der Repräsentation im Kulturprogramm immer mehr erreicht würde. Was fehle, sei jetzt eine Arbeit an den Strukturen! Zentrales Argument hierfür ist das Teilhabemodell der nunmehr 50 Jahre alten Neuen Kulturpolitik, die mit Hilmar Hoffmann als »Kultur für alle«[4] zusammengefasst wird. Wer Hoffmanns Standardwerk noch einmal liest, wird feststellen, dass die Neue Kulturpolitik aber letztendlich eine Reaktion darauf war, den sich entgrenzenden Künsten institutionelle Rahmenbedingungen zu geben. Die Neue Kulturpolitik war mit einer Pluralisierung und Zunahme der Kulturinstitutionen verbunden: dem Museumsboom, der Entstehung von Freiem Theater und Performance, der Etablierung und Professionalisierung von Kultureller Bildung, Vermittlung und Soziokultur, um nur einige zu nennen.

Ist es nicht komisch, dass all diese Strukturen sich gegenwärtig unter Berufung auf »Kultur für alle« transformieren und öffnen möchten? Denn bereits in den 1970ern war Deutschland Einwanderungsland, auch wenn die Bundesrepublik es weitere 30 Jahre nicht wahrhaben wollte. Der Wohlstand der Bundesrepublik, der die Neue Kulturpolitik finanziert hat, wurde nicht zuletzt von sogenannten Gastarbeiter*innen erwirtschaftet. Es ging aber bei der Neuen Kulturpolitik in erster Linie um eine symbolische Entgrenzung der Kunst und die kulturpolitische Reaktion darauf, die nicht identisch mit einer tatsächlichen sozialen Grenzverschiebung der Teilhabe an Kulturproduktion war. Über Einwanderung nach Deutschland, die (West-)Deutschland bereits über 20 Jahre lang grundlegend verändert hatte, verlor der damalige Kulturreferent von Frankfurt am Main 1979 kein Wort. Im achtseitigen Kapitel »Kultur für Minderheiten« geht es stattdessen um Alkoholkranke und ehemalige Strafgefangene…

1977 schrieb der Unterabteilungsleiter für Sozialpolitik der damaligen sozialliberalen Bundesregierung, Wolfgang Bodenbender, in seiner »Zwischenbilanz der Ausländerpolitik« hingegen: »Die ausländischen Arbeitnehmer zahlten in diesem Zeitraum erhebliche Steuern, ohne in entsprechendem Umfang öffentliche Leistungen  – vor allem im Hinblick auf die soziale Infrastruktur – in Anspruch zu nehmen.«[5]

Wenn auch heute unter dem Stichwort Diversität die wiederholte Öffnung der Institutionen behauptet wird, setzt das einen dominanzkulturellen Irrtum der bundesrepublikanischen Kulturpolitik weiter fort, der Teil des Problems und nicht der Lösung ist. Die Annahme, dass Kulturinstitutionen für migrantisierte Menschen nur geöffnet werden müssten, ist ein rassistischer Bias. Millionen migrantisierter Menschen haben längst schon vor der Gründung vieler Kulturinstitutionen in Deutschland gelebt. Mehr noch: Sie haben sie bezahlt.

Immer doppelte Arbeit

Während die Akteur*innen der Dominanzkultur ihre Wirkungsstätten durch die Neue Kulturpolitik ausweiten konnten, mussten migrantisierte Kulturproduzent*innen ihre Räume oftmals nach Feierabend erkämpfen: mit Vereinsgründungen, in der Stadtteilarbeit, mithilfe der Communities und erst langsam ab Mitte der 1980er Jahre mithilfe der Kulturpolitik. Allerdings nur um, bis heute nicht selten, als Soziokultur oder Folklore abgewertet zu werden. Migrantisierte Kulturarbeit ist immer doppelte Arbeit gewesen: Sie muss nicht nur kreativ sein und Projekte umsetzen, sondern zugleich erst die Strukturen aufbauen, in denen sie sich entfalten kann.

Diversität erneuert das leere Versprechen der Neuen Kulturpolitik und der anschließenden Multikulturalismus-Debatte der 1990er Jahre, dass Kultur für alle da wäre. Die Behauptung von interkultureller Öffnung und Diversifizierung der Strukturen ist die Held*innenerzählung von Insider*innen, die die Tore der Institutionen für die Ausgeschlossenen aufreißen. Die Geschichte der Outsider*innen vor den Mauern tradierter öffentlicher Kulturförderungen ist in der deutschen weißen Akademie noch gar nicht erzählt worden. Was vielen als größter Fortschritt der Neuen Kulturpolitik gilt, ist daher wahrscheinlich ihr größter Selbstbetrug: Aus dem Vorsatz weißer Institutionen, sich interkulturell oder jetzt: divers zu öffnen, muss das Eingeständnis werden, jahrzehntelang rassistisch ausgeschlossen zu haben.

Was heißt das für die Generation, die #diversität in die Kamera hält, wenn Sie nicht den rassistischen Bias ihrer Vorgänger*innen wiederholen will?

Es wird nun darum gehen, die öffentlichen Ressourcen der Kulturproduktion chancengerecht umzuverteilen. Denn in der Etablierung im Berufsleben manifestieren sich drei- bis dreieinhalb Jahrzehnte Ungleichheit in rassistischen, klassistischen, ableistischen und patriarchalen Strukturen.

Wann werden von Diskriminierung betroffene Kulturschaffende nicht mehr wie eine Reservearmee hin- und hergeschoben? Wer kriegt (häufiger) die festen Stellen, wer bleibt (häufiger) in prekärer Projektarbeit stecken? Wer schafft es in die Positionen, in denen sich Strukturen verändern lassen, die die Babyboomer*innen nach und nach räumen? Wann wird Diversifizierung nicht nur mit Blick auf Theaterprogramme und Ausstellungsdisplays diskutiert, sondern auch anhand von Stellenentwicklungsplänen und Quotenregelungen?

Diversifizierung ist keine Party, auf der man den Zuspätgekommenen noch einen Klappstuhl dazustellt. Stattdessen müssen wir diskutieren, wem der chancengerechte Zugang zu Kulturproduktion als Teil demokratischer Rechte vorenthalten wurde und wird. #keinstueckvomkuchen #dieganzebaeckerei


[1] Mohanty, Chandra Talpade (2003): Feminism without Borders: Decolonizing Theory, Practicing Solidarity. Durham/ London: Duke University Press.

[2] Puwar, Nirmal (2004): Space Invaders: Race, Gender and Bodies out of Place. Oxford: Berg.

[3] Ahmed, Sara (2012): On Being Included. Racism and Diversity in Institutional Life. Durham/ London: Duke University Press.

[4] Hoffmann, Hilmar (1979): Kultur für alle. Perspektiven und Modelle. Frankfurt am Main: S.Fischer.

[5] Bodenbender, Wolfgang (1977): »Zwischenbilanz der Ausländerpolitik«, in: Klaus Ronneberger (Hrsg.): Türkische Kinder in Deutschland: Referate und Ergebnisse des Seminars der Südosteuropa-Gesellschaft über Bildungsprobleme und Zukunftserwartungen der Kinder türkischer Gastarbeiter, 15. – 17. November 1976. Südosteuropa-Studien 26/ Nürnberger Forschungsberichte 9. Nürnberg: Nürnberger Forschungsvereinigung, S. 25-47.

Autor*innen

Foto: Albina Maks

Michael Annoff arbeitet ethnografisch, kuratorisch und vermittelnd. Seit 2016 akademische Mitarbeit für Kultur & Vermittlung im Studiengang Kulturarbeit der FH Potsdam. Zuvor an der Graduiertenschule im Studium General der UdK Berlin tätig.

Nuray Demir arbeitet künstlerisch, kuratorisch und choreographisch. Projekte auf Kampnagel, am HAU Hebbel am Ufer, in den Sophiensälen und den Wiener Festwochen. Seit 2019 ist sie Teil der künstlerischen Leitung von District*Schule ohne Zentrum.

Seit 2018 entwickeln Michael Annoff und Nuray Demir »Kein schöner Archiv«. Es dokumentiert das immaterielle Erbe der postmigrantischen Gesellschaft, unter anderem in Kooperation mit dem FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum, HAU Hebbel am Ufer und dem Haus der Kulturen der Welt:

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Nur die Bretter, die die Welt bedeuten

9. März 2021

Von »den Brettern, die die Welt bedeuten« schrieb Friedrich Schiller in seiner Ode An die Freude, die seither als Synonym für die Theaterbühnen stehen. Oft zitiert, klingen diese Worte für mich nach einer abgedroschenen und romantischen Vorstellung von rauschenden Premieren, gefeierten Künstler*innen und einem begeisterten Publikum. Wieviel Impact diese Worte aber tatsächlich Tag für Tag auf mich, meine Arbeit als Regieassistentin am Stadttheater und die Theaterwelt haben, beginne ich erst langsam im vollen Umfang zu begreifen.

Schiller betrachtete die Schaubühne als eine immerwährende Institution mit zeitlosen Idealen – als eine moralische Anstalt: »Wenn keine Moral mehr gelehrt wird, keine Religion mehr Glauben findet, wenn kein Gesetz mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch anschauern, wenn sie die Treppen des Palastes herunter wankt […]«. Schiller in allen Ehren, versuche ich diese von ihm beschriebenen Ideale in den deutschen Theaterbetrieben zu finden, finde sie nicht und entdecke im Gegenteil ein strukturelles System höchster Doppelmoral auf den Bühnen, hinter den Kulissen und in den Rängen und frage mich, ob der moralische Zusammenbruch im Theater bereits stattfindet und ob er umzukehren ist.

Beide Fragen beantworte ich mit Ja und dies führt mich zum Wie.

In meinem Essay untersuche ich das System Stadttheater auf seine inneren Strukturen, überprüfe den Stellenwert der demokratischen Werte und nehme hierfür besonders Bezug auf den Berufsstand der Theaterassistierenden. Ich stelle die These auf, dass das Stadttheater ein System falscher Werte ist und sich selbst abschaffen wird, wenn es seine hierarchischen Strukturen nicht reformieren und seinen elitären Herrschaftsgedanken nicht ablegen wird. Die Assistierenden stellen die Krücke eines kranken Systems dar. Ferner verfolge ich die These, dass eine Heilung der Basis die Lösung für die aufgeführte Problematik bereitet. Diese Basis bilden die Assistierenden.

Die systematische Abschaffung

»Der Apparat triumphiert immer noch, sinkende Besucherzahlen drohend im Nacken« (Wille 2019: 1), schrieb die Theater Heute. Laut der aktuellen Statistik des Deutschen Bühnenvereins 2017/2018, stieg die Anzahl der Neuinszenierungen und die des theaternahen Rahmenprogramms, bei gleichzeitig sinkenden Besucherzahlen. Das Theater bangt um seine Relevanz innerhalb der Gesellschaft und kämpft um seine Sichtbarkeit, vor allem beim jüngeren Publikum und scheitert bisher in der Konkurrenz zu den Neuen Medien. Den Zuschauerraum füllen, auch über die deutschen Grenzen hinweg, hauptsächlich die treuen Abonnent*innen, von einem diversen Publikum kann allerdings keine Rede sein. Der Wunsch nach einem diversen Ensemble und Diversität innerhalb der Leitungsteams besteht zwar, findet aber in der Realität kaum Umsetzung. Dies wäre aber angesichts der Erstarkung von Rechtspopulisten in Deutschland und Europa eine der wichtigsten Maßnahmen. 

Diese Tragödie stürzt die Theater in ein Dilemma, das unter anderem direkte Auswirkungen auf die inneren Strukturen der Betriebe hat. Es gilt: In kürzerer Zeit mehr Produktionen auf die Bühnen bringen, die sich gegenseitig in ihrer Komplexität und in ihren technischen Anforderungen überbieten sollen. Die Hoffnung: Das Publikum bei Laune zu halten und die eigene Finanzierung zu sichern. Überarbeitete und unterbezahlte Mitarbeiter*innen, finanziell ausgebeutete Künstler*innen und technische Abteilungen mit überlasteten Werkstätten sind die Folge.

Zunehmend gelangen Informationen über schlechte Arbeitsbedingungen, Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz, sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch an die Öffentlichkeit. Der Verdacht kommt auf, dass sich die Stadttheater zunehmend zu problematischen Orten entwickeln, die in ihrer Außenwirkung so gar nicht mit einem liberalen und demokratischen Kunstverständnis übereinstimmen. Überkommene Hierarchien und der unerschütterliche Glaube an das künstlerisch autonome Regiewerk sind die Realität. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, gilt es in die neue Generation – die Assistierenden – zu investieren und diese zu selbstreflektierten und verantwortungsvollen Theatermacher*innen auszubilden, die im Bewusstsein eines inklusiven, weltoffenen und inspirierenden Theaters des 21. Jahrhunderts handeln.

Theaterassistent*innen – die faulende Basis

Ich möchte mich im weiteren Verlauf auf die Assistierenden konzentrieren in dem Bewusstsein, dass die Situation für Schauspielanfänger*innen ähnlich prekär ist. Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Assistierenden wird unmittelbare positive Effekte auf die Arbeitsbedingungen der jungen Spieler*innen haben und darüber hinaus das gesamte Theatersystem von unten nach oben reformieren.

Die Assistierenden sind die Zugpferde der Theater. Trotzdem oder gerade deswegen sind sie in der Regel kaum vertraglich geschützt. Im Gegenteil: Die Häuser erhöhen zusätzlich den Druck auf ihre Assistent*innen, indem sie meist nur die Mindestgage erhalten, im Verhältnis aber die meisten Arbeitsstunden leisten und ohne vertragliche Absicherung oder berufliche Perspektiven sind. So entziehen die Theater ihren Assistierenden jegliche Grundlage für ein erfüllendes Berufs- und intaktes Sozialleben. (Schmidt 2019: 156) Dies hat zur Konsequenz, dass die Betroffenen ihren Lebensmittelpunkt in den Betrieben verordnen, was zu einem positiven Abhängigkeitsverhältnis für die Häuser führt, die nun noch einfacher über ihre Assistierenden verfügen können.

Das Schwächen der Basis hat System: Die Häuser haben kein Interesse an der Ausbildung, Förderung oder Ermächtigung ihrer Assistierenden, nicht zuletzt, weil für eigene Arbeiten, ein Mentoring durch die Dramaturgie oder Regie keine Zeit vorgesehen ist. Mündige und verantwortungsvolle Partner*innen auszubilden, würde faire Löhne, angemessene Arbeitszeiten und -bedingungen erfordern – dies nicht im Sinne der Häuser. Für sie scheint es finanziell rentabler zu sein, die Assistierenden in regelmäßigen Abständen auszutauschen, da viele von ihnen ohnehin von einer Vertragsverlängerung absehen. Zeitgleich wird eine neue Assistent*innen-Generation an die Theaterküste gespült. Es wird kein Mehrwert erzeugt: Wissen wird nicht weitergegeben, Erfahrungen verbleiben bei Einzelpersonen.

Die Assistierenden nehmen diese Umstände in Kauf, in der Hoffnung auf Wertschätzung, eine künstlerische Ausbildung und eine anschließende Theaterkarriere, mit der sie nicht selten in den Beruf gelockt werden. Dieser Trade-off zwischen Zeit, Geld, Erfolg und Sicherheit ist vollkommen irrational aufgebaut. Dies führt zu Frustration, Wut, Angst und Unsicherheit bei den Theatermacher*innen und Leitungsteams von morgen. Versagensängste werden geschürt und so tief verankert, dass sie sich durch die gesamte Berufslaufbahn ziehen – keine guten Grundvoraussetzungen für das potentielle Mitglied einer zukünftigen Theaterleitung. Die überholten Werte und asymmetrischen Machtstrukturen werden auf perfide Weise auf die nächste Generation übertragen. (Schmidt 2019: 7) Das System sichert sich selbst und verhindert eine Reformierung der Theater. Daher gilt es, den Assistenzberuf hinsichtlich seiner Nutzen-Kosten-Abwägung neu zu balancieren, um so einen fruchtbaren Nährboden für das Theater der Zukunft zu generieren.

Die Ausbeutung durch Nicht-Ausbildung

Wie sieht der Arbeitsplatz eines Theaterassistierenden aus? Die wenigsten Kolleg*innen bekommen eine Einführung in ihren zukünftigen Tätigkeitsbereich oder eine Stellenbeschreibung ausgehändigt. In den meisten Fällen gibt es keine festen Ansprechpartner*innen, die für Assistierende zuständig sind. Wissen über strukturelle Abläufe während des Probenprozesses, der Umgang mit den verschiedenen Gewerken und den Gastkünstler*innen, sowie das Voranbringen der eigenen künstlerischen Karriere wird nicht weitergegeben und bewusst zurückgehalten, um den Berufsstand zu schwächen.

Die meisten Kolleg*innen gehen daher durch eine harte Schule, in der sie nach dem Trial-And-Error-Prinzip auszuloten versuchen, was ihre Aufgaben, Pflichten, und seltener ihre Rechte sind. In dem hierarchischen System haben sie als letztes Glied der Kette keine Autorität, keine Autonomie und müssen als Kommunikator*innen der Produktionen alle Aufgaben von unten nach oben delegieren, was einen Widerspruch in sich bildet. Dieses Arbeitsumfeld verhindert aktiv, dass sich die Assistierenden zu fähigen Mitarbeiter*innen entwickeln, was nicht selten zu Mobbing und einem respektlosen Umgang mit den Betroffenen führt.

Dazu kommt ein enormes Arbeitspensum: Die Arbeit der Theaterassistent*innen umfasst die komplette Organisation und Koordination einer Produktion, spätestens ab dem ersten Probentag. Sie sind Dreh- und Angelpunkt in der Kommunikation innerhalb und zwischen den externen Regieteams, den Darsteller*innen, den verschiedenen Gewerken, der Disposition und der Leitung. Sie sind verantwortlich für einen reibungslosen Probenprozess und verpflichtet, zu jeder Zeit für alle Produktionsbeteiligten und deren Bedürfnisse Ansprechpartner*innen zu sein.

Bei einer durchschnittlichen Produktion eines Bühnenstücks bedeutet dies:
Die Koordination von 30 bis 40 Mitarbeiter*innen rund um die Uhr.
Bei einer Projektdauer von durchschnittlich vier bis acht Wochen und einer Produktionsdichte von nicht selten fünf bis sieben pro Spielzeit.

Assistierende gleichen fehlerhafte Ressourcenplanung und Personalmangel aus, indem sie den verschiedenen Abteilungen zuarbeiten. Sie betreuen den Abendspielplan des laufenden Repertoires sowie Wiederaufnahmen, Umbesetzungen und Gastspiele. Ein komplexer und verantwortungsvoller Job, der innerhalb des Systems nur eine geringe Wertschätzung erlangt. In der Regel ist dieses Arbeitspensum ohne die Unterstützung von Hospitierenden nicht zu bewältigen. Diese arbeiten in der Regel unbezahlt und übernehmen nicht selten hauptverantwortlich die Arbeit der Assistierenden, wenn diese nicht auf den Proben sein können. Das System fußt demnach auf unbezahlten und nicht ausgebildeten Arbeitskräften.

Die offizielle Wochenarbeitszeit der Assistierenden von circa 44 Stunden berechnet sich wie folgt: 5 Tage à 8 Arbeitsstunden plus 4 Stunden durchschnittlicher Wochenendarbeit.
Der realistische Arbeitsaufwand, beläuft sich allerdings auf mindestens 54 Stunden pro Woche: 5 Tage à 10 Arbeitsstunden plus 4 Stunden durchschnittlicher Wochenendarbeit.

Während der Endproben, die im Durchschnitt zwei Wochen vor der geplanten Premiere beginnen, erreicht das tägliche Arbeitspensum der Assistent*innen Spitzenwerte von 14  bis 16 Stunden und mehr. Die Zahlen berücksichtigen die 1,5 freien Tage der Sonderregelung des NV Bühne Solo-Arbeitsvertrages.

Als Beispiel liste ich im Folgenden einen Endprobentag auf, wie er im Tagesplan des künstlerischen Betriebsbüros verfasst werden könnte:
10:00-14:00 Szenische Bühnenproben
14:00-17:30 Beleuchtungsproben
18:00-22:45 Szenische Bühnenproben

Daraus ergibt sich ein von der Disposition geplanter Arbeitstag für Assistierende von 12 Stunden 15 Minuten, ohne vereinbarte Pausen. Zusätzliche Arbeiten, die nicht auf den Tagesplänen gelistet sind:
09:00-10:00 Vorbereitung und Organisation der Bühnenprobe
17:30-18:00 Vorbereitung und Organisation der Bühnenprobe
22:45-0:00 Kritik des Regieteams, Planung des folgenden Probentags

Es ergeben sich weitere 2 Stunden 45 Minuten ohne geplante Pause. Die Dunkelziffer der Arbeitsstunden könnte höher liegen, da bei der Auflistung keine Zeit für Telefonate, Schriftverkehr und Meetings berücksichtigt wurde. Die Frage nach der Einhaltung von Ruhe- und Nachtruhezeiten erübrigt sich in der Darstellung.

Da im Durchschnitt fünf bis sieben Produktionen pro Spielzeit betreut werden, ist davon auszugehen, dass geleistete Mehrarbeit nicht ausgeglichen werden kann, da kein zeitlicher Rahmen dafür vorgesehen ist. Durch das Überschreiten der täglichen Arbeitszeit von 10 Stunden, dem nicht gegebenen Freizeitausgleich und der Verkürzung der Nachtruhe sowie der vertraglich festgelegten Ruhezeiten, verstoßen die Betriebe gegen das Arbeitszeitgesetz und bewegen sich im illegalen Bereich. Selten werden verkürzte Ruhezeiten und verkürzte Nachtruhe in Form eines »Schweigegeldes« beglichen. Dafür müssen die geleisteten Überstunden auf dem Tagesplan der Disposition nachvollziehbar sein. Zusätzliche Mehrarbeit, die nicht auf dem Tagesplan vermerkt wird, fällt unter den Tisch. Die Crux dabei: Das künstlerische Betriebsbüro entscheidet, welche Personen und Tätigkeiten auf dem Tagesplan vermerkt werden, somit liegt die Beweispflicht bei den Assistierenden, die nun mehr über eine privat erstellte Arbeitszeiterfassung ihre Überstunden nachzuweisen versuchen. Ein Versuch, der oftmals ins Leere läuft.

Nicht alle Assistierenden sind Berufsanfänger*innen, ebenso besitzen viele von ihnen ein abgeschlossenes Hochschulstudium, trotzdem entspricht ihr Gehalt in den meisten Fällen einer Einstiegsgage von 2.000 Euro bis 2.100 Euro brutto. Schauspielanfänger*innen steigen ebenfalls in dieser Gehaltsklasse ein.

Das Weiße Theater für alle

»›Wir kriegen das Geld vor allem, um Widerstand zu leisten gegen die Mächtigen, gegen die schlechten Sitten, gegen die Korruption, gegen das Verbrechen, gegen den Faschismus, gegen den Antisemitismus‹, hat Claus Peymann bewusst provokant aber unverändert aktuell formuliert.«

Als finanzierte Kulturinstitution steht das Theater in der Pflicht, für alle Bevölkerungsgruppen und -schichten zugänglich zu sein – unabhängig von Herkunft, sozialem oder wirtschaftlichem Background. Um das zu erreichen, müsste der Spielplan ein breites Spektrum an Themenkomplexen verhandeln und so vielfältig werden wie unsere Gesellschaft. In der Realität aber kämpfen die Theater mit sinkenden Besucherzahlen, die gesellschaftliche Relevanz von Theater nimmt ab und in endlosen Debatten geht es um die Fragen, wie mehr Diversität auf der Bühne und im Zuschauerraum geschaffen werden kann und wie man das Interesse beim jungen Publikum weckt. Denn leider sind Theater noch immer Orte der Stände und Klassen: Es kommt ins Theater, wer es sich leisten kann und wer sich angesprochen fühlt.

Viele der am Theater arbeitenden Künstler*innen haben einen akademischen Background und kommen aus der wohlhabenden Mittelschicht. Dies ist nicht sehr verwunderlich, wenn man sich verdeutlicht, dass Berufsanfänger*innen aufgrund der geringen Einstiegsgage von 2.000,- Euro brutto oftmals auf den finanziellen Rückhalt ihres Umfeldes angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Theaterschauen und Theatermachen bleibt daher noch immer einer privilegierten Minderheit vorbehalten, die sich Theater leisten kann – allen anderen bleiben die heiligen Hallen verschlossen.

Das Problem: Theater hat sich zunehmend zu einem intellektuellen Dunstkreis elitärer Selbstgerechtigkeit entwickelt. Die Tragik: Das Theater kennt die Problematik eines weißen Theaters im Innern und die Konzentration auf ein weißes bildungsbürgerliches Publikum nach Außen, zieht aber aus der Erkenntnis nur wenige künstlerische Schlüsse. Theater ist eine Organisation mit Moralkodex. Eine Organisation, die von einem patriarchalen, hauptsächlich weißen, abled, akademisierten und heterosexuellen System getragen wird. Die geprägt ist von Hierarchien, Machtmissbrauch und Selbstgerechtigkeit. Ein solches Theater kann keine Institution für Gleichheit, Diversität, Inklusion und Partizipation sein. Wie können Theater wieder eine Kulturinstitution mit Bildungsauftrag werden und offen für alle Bevölkerungsschichten sein?

Diversität in Bezug auf die Ethnie

Die Bretter, die die Welt bedeuten – ein Hort für die Kunst des weißen privilegierten alten Mannes? Der Anspruch nach Critical Whiteness ist kompliziert, wenn wir das Theater in seinen Grundstrukturen in einem rein weißen System gefangen halten. Diversität kann nur gelingen, wenn gezielt die künstlerische Bearbeitung von nicht-weißen Narrativen und Thematiken durch BIPoCs gefördert werden.

Bereits werden Stimmen betroffener Personen laut, die von reverse discrimination sprechen: Kann es demnach die Lösung sein, Theater so weit zu beschneiden, dass die Bearbeitung bestimmter Stoffe nur den Künstler*innen vorbehalten ist, die direkt von der Thematik betroffen sind? Ein Blick in die Theatergeschichte beweist, dass in der Vergangenheit alle Stoffe ausschließlich von weißen Künstler*innen bearbeitet wurden. Ein System und sein Publikum, das zuvor nie nicht-diskriminierend war, sollte den eigenen Anspruch haben, zunächst seine inneren Strukturen und Sehgewohnheiten zu korrigieren, bevor es von Gleichberechtigung sprechen kann.

Die Zeit drängt, sich genau auf dieses konträre Experiment einzulassen, eine Neustrukturierung voranzutreiben und das überkommene Wertesystem von innen heraus zu revolutionieren. Auch hier sehe ich den Lösungsansatz in der Ausbildung der Assistierenden: Wird der Weg frei für junge Theatermacher*innen aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und -schichten, werden diese im Umkehrschluss neue Bedürfnisse an das Theater und seine künstlerischen Ansprüche stellen und mit ihrem Wissen und Erfahrungen neue Formate und Narrative formen. Dieser neue künstlerische Ansatz wird in der Lage sein, ein neues Publikum für sich begeistern zu können.

Systemrelevanz und Neue Medien

Seit Februar 2020 legt der Ausbruch von Covid-19 die gesamte Theaterbranche lahm. Laut Politik gilt das Theater als nicht systemrelevant. Im Stufenfahrplan Baden-Württembergs beispielsweise, zur schrittweisen Lockerung der Corona-Beschränkungen, finden sich die Theater auf der 5. Stufe und fallen unter »nicht absehbar«. Auch von Seiten der Bevölkerung gibt es außerhalb des traditionellen Publikums und jenen, die am Theater arbeiten, nur wenige Stimmen, die eine schnelle Wiedereröffnung der Betriebe fordern. Es scheint, als habe das Theater seine Relevanz nicht nur innerhalb der Politik, sondern auch innerhalb der Gesellschaft verloren.

Covid-19 und seine Folgen decken diese Realität lediglich auf. Das Versammlungsverbot entzieht den Theatern die existentielle Grundlage, trotz ausgefeilter Hygienekonzepte, und deckt die mangelnde Investition der vergangenen Jahre in Neue Medien auf. Mit dem Hochladen von laienhaften Homevideos der Darsteller*innen und der Veröffentlichung von qualitativ minderwertigen Mitschnitten, versuchen die Theater über das Netz präsent zu bleiben. Dabei wirken die wenig repräsentativen Formate eher abschreckend auf Nicht-Theatergänger*innen, anstatt diese von einem zukünftigen Theaterbesuch zu überzeugen. Über das Streaming von archivierten Inszenierungen freut sich derweil wohl eher nur das Fachpublikum. Im Vergleich zu den hippen Videos der Digital Natives, fällt das Theater weit zurück. Dabei gilt es gerade diese Generationen als zukünftigen Publikumsstamm zu begeistern.

Das Theater gerät zunehmend unter den Druck, sich gegen die Neuen Medien zu behaupten. Der eigene Anspruch wächst, tagesaktuelle Diskurse auf der Bühne quasi sofort verhandelbar zu machen. Der Wunsch, sich immer wieder neu erfinden zu können, wird zur Belastungsprobe. Das Theater fürchtet um nichts Geringeres, als um seinen Platz in einer schnelllebigen Welt, der es nicht hinterherkommt und lässt sich auf einen ungleichen Wettkampf ein, den es nicht gewinnen kann. So fallen die Institutionen dem eigenen Trugschluss zum Opfer, ihre Existenz legitimieren zu müssen, indem sie sich in die Konkurrenz zu den Neuen Medien begeben. Dabei verliert das Theater seine Authentizität.

Theater ist (noch) nicht dafür konzipiert, aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen ad hoc auf der Bühne umzusetzen, sondern dafür, Narrative und Formate zu entwickeln, die in ihrer Übersetzung zeitlos sind. Es gilt daher, den Theaterbetrieb auf allen Ebenen neu zu denken: Diskurse über das post-Corona Theater sind dringend notwendig. Ebenfalls könnte diese auferlegte Auszeit von den Theatern genutzt werden, die eigenen Strukturen zu reformieren und ins Gespräch darüber zu kommen, wie das Theater des 21. Jahrhunderts eine faire und gleichberechtigte Institution werden kann. Die wenigen Häuser, die diesen wichtigen Schritt wagen und bereits gezielt in neue Formen und digitale Medien investieren, werden als Gewinner aus der Krise hervorgehen und Teil einer neuen künstlerischen Bewegung und Ästhetik sein.

Die Heilung der Basis

Weltweit liegt der Schlüssel für eine offene Gesellschaft in der Bildung, im Wohlstand und in der Sicherheit der Bevölkerung begründet. Gemäß der Redewendung man erntet was man sät, gilt es, die Assistierenden im Sinne eines liberalen Theatersystems auszubilden und positiv auf ihre Entwicklung einzuwirken, um zu ermöglichen, dass sie sich zu verantwortungsvollen Theatermacher*innen und fähigen Leitungsteams zu entwickeln, die diese Werte in das Theater von morgen weitertragen: Die junge Generation wird durch eine potenzielle Bildung für die Themen unserer Zeit sensibilisiert, ist offen für alternative Vorgehensweisen und hat ein geschultes Auge für veraltete whiteness-Strukturen. Egozentrisches Vorgehen und Machtanspruch nehmen ab. Die Theater werden entriegelt und machen den Weg frei für das Theater der Zukunft, das für Gleichheit, Diversität und Partizipation steht.

Eine Investition in diesen Bereich würde ganzheitliche positive Auswirkungen auf das gesamte System bedingen: Die Basis wird gestärkt, Arbeitsbedingungen und Arbeitsklima verbessern sich. Davon profitiert das Ensemble. Ein starkes Ensemble wird einen angstfreien Raum für gute Probenbedingungen schaffen. Gute Probenbedingungen bieten den Nährboden für hochwertige künstlerische Projekte. Ein gutes Arbeitsklima erhöht das gegenseitige Verständnis für die verschiedenen Arbeitsabläufe innerhalb der Gewerke und den administrativen Abteilungen. Mehr Verständnis erleichtert die Kommunikation. Dies wirkt sich positiv auf den Produktionsprozess aus. Zeit und Kosten werden gespart – der Apparat läuft. Die Heilung nach innen bedingt die Öffnung der Theater nach außen: Neue Einflüsse können einströmen und bereiten den Weg für neue Visionen. Für diese Umsetzung braucht es fünf Stufen:

Stufe 1: Die Anpassung der Gagen

Die erbrachte Leistung und die hohe Verantwortlichkeit des Assistierendenberufs stehen in keinem Verhältnis zur derzeit gezahlten Einstiegsgage von 2.000,- Euro brutto. Es ist notwendig, die Gehälter durch eine maßgebliche Erhöhung der Mindestgage anzupassen. Dies würde sich ebenfalls positiv auf den Berufsstand der Schauspielanfänger*innen und künstlerischen Mitarbeitenden auswirken, die in diesem Zuge ebenfalls eine Gagenanpassung anstreben könnten.

Ferner ist es wichtig, Assistierende nicht per se als Berufseinsteiger*innen zu deklarieren, sondern die Vorteile und das Potential ihrer Berufserfahrung zu erkennen. Ihre Berufserfahrung ist für den Betrieb nützlich und sollte durch eine finanzielle Aufwertung gefördert werden. So könnten kompetente Kolleg*innen auch langfristig gehalten werden, was wiederum positive Auswirkungen auf den Produktionsprozess einer Inszenierung hätte und Kosten einsparen würde.

Die Aufstockung der Gehälter setzt eine Umverteilung von Geldern voraus. Um in der Konsequenz andere Berufsfelder zu schützen, müssten verschiedene Stellschrauben neu justiert werden wie zum Beispiel die Anpassung von Spitzengehältern innerhalb des Systems, ein sehr gutes politisches Strategiekonzept zum Akquirieren von öffentlichen Geldern, sowie der schonende Umgang mit menschlichen Ressourcen, Material und Zeit. Letzteres ist nur durch eine Optimierung des Produktionsprozesses zu erreichen, welche eine exakte Planung durch Tages- und Wochenpläne voraussetzt (vgl. Stufe 2), an dessen Umsetzung nicht zuletzt die Assistierenden von heute und die Regieteams von morgen maßgeblich beteiligt sind.

Stufe 2: Generieren von Zeit

Die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes ist nur durch eine Reduzierung des Arbeitspensums der Assistierenden zu gewährleisten. Die hohe Arbeitsbelastung und der große Zuständigkeitsbereich resultieren aus der chronischen Überarbeitung und Unterbesetzung des gesamten Apparats. Die Optimierung von Workflows, eine klare Aufgabenverteilung in Form einer Stellenbeschreibung, die Aufstockung des Personals oder die Förderung bereits bestehender Arbeitskräfte, sind Lösungsansätze.

Die Standardisierung und die Effizienzoptimierung der innerbetrieblichen Arbeitsabläufe könnten vor allem im Hinblick auf aufwendige Kommunikationsstrukturen Zeit einsparen und dienen einem ökonomischen Probenprozess. Das Erstellen von verlässlichen Tages- und Wochenplänen durch die Regie ermöglicht den Gewerken zuverlässig und mit ausreichendem Vorlauf, Anfragen zu bearbeiten und die Bereitstellung von Materialien zu gewährleisten. Redundanzen oder Fehlproduktionen könnten vermieden werden. Zusätzlich würden sie auch die effiziente Koordination von menschlichen Ressourcen ermöglichen. Produktionsbeteiligte könnten den Anforderungen entsprechend eingeplant werden. Lange Wartezeiten und Über- beziehungsweise Unterbesetzungen würden reduziert und Kosten eingespart. Auch das Zeitmanagement von Freizeit wäre reliabel.

Die klare und ubiquitär zugängliche Dokumentation von sogenannten Standard Operating Procedures (SOPs) ist in anderen Betrieben und Institutionen ein bewährtes Mittel, um eine zuverlässige Sicherung und Weitergabe von ablaufrelevanten Informationen zu gewährleisten. Die Einführung einer solchen zentralen SOP-Struktur kann auch am Theater wesentlich zur Verbesserung der Effizienz sowie zur Vermeidung von Fehlern beitragen. Produktionsbeteiligte wären in einer solchen Struktur verpflichtet, die für sie relevanten Informationen selbstständig zu erfassen und umzusetzen. Zusätzlich sollten alle kurzfristigen Informationen durch die Assistierenden, via standardisierter E-Mailadressen, an alle Beteiligten verschickt werden. Der Arbeitgeber hat zu gewährleisten, dass alle Mitarbeiter*innen entweder ein internetfähiges Smartphone besitzen oder einen uneingeschränkten Zugang zu einem Rechner oder Laptop haben. Zuverlässiger Internetzugang im gesamten Theater ist unabdingbar. 

Die Verminderung von Redundanzen durch die Ermächtigung der Assistierenden als weisungsbefugtes Organ würde helfen, lange Kommunikationswege zu verkürzen und den Produktionsprozess zu beschleunigen.

Mit der Aufstockung um eine Teilzeitkraft oder einen Minijob könnten sich die Assistierenden in den zeitintensiven Phasen der Endproben in einer Art Schichtsystem zuarbeiten. Hospitierende, die sich bereits in einer Zusammenarbeit qualifiziert haben, könnten für diese Stelle relevant sein. Diese indirekte Investition in die Hospitant*nnen wäre zugleich eine Investition in zukünftige hochqualifizierte Assistierende, welche wiederum den Produktionsprozess positiv beeinflussen würden. Ein reibungsloser und gut organisierter Ablauf spart Zeit, Geld und Nerven und würde sich in der Konsequenz positiv auf das Arbeitsumfeld auswirken. Die gewonnene Zeit sollte unter anderem in die Ausbildung der Assistent*innen investiert werden. Die Schaffung einer solchen Stelle hätte wiederum Auswirkungen auf die Umverteilung der Gelder.

Stufe 3: Förderung und Ausbildung

Der Grundstein für das zukünftige Theatersystem wird durch die Ausbildung der kommenden Generation gelegt, indem ein neues Wertesystem gefördert und neue Strategien vermittelt werden. Damit dies gelingt, müssen die Theater ihre Assistent*innen zu starken und emanzipierten Partner*innen formen, sowie sie künstlerisch und theaterpolitisch ausbilden und die Theaterassistenz als Ausbildungsberuf anerkennen.

Für die künstlerische Ausbildung braucht es ein Mentoring durch die Dramaturgie oder die Hausregie und Formate, in denen sich die angehenden Künstler*innen ausprobieren können, konstruktive Kritik erhalten und ihre künstlerische Handschrift formen. Zudem sollten Weiter- und Fortbildungen angeboten werden. In eigenen Arbeiten lernen sie den Umgang mit dem Ensemble, sensibilisieren sich für strukturelle Vorgänge, einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen und erkennen die Vorteile einer respektvollen und gleichberechtigten Arbeitsatmosphäre. Durch mehr Sicherheit werden Frustration und Versagensängste abgebaut und die Assistierenden entwickeln sich zu verantwortungsvollen Regisseur*innen, Ausstatter*innen und Dramaturg*innen und fähigen Leitungsteams.

Es gilt, den Assistierendenberuf für Menschen zu öffnen, die, aufgrund unterschiedlicher sozio-politischer Strömungen und unterschiedlicher Expertisen, ein neues Bewusstsein für theaterrelevante Kontexte in das System einfließen lassen: Das Theater für alle, das durch Gleichheit, Diversität, Inklusion und Partizipation überzeugt, kann nur entstehen, wenn wir diese Werte in der Basis verankern. Dabei gleicht das Theater im positiven Sinne einer experimentellen Spielwiese, auf der die Auswirkungen und strukturellen Veränderungen durch demokratisches Handeln, Gleichberechtigung und Teilhabe direkt sichtbar werden und sich vom Kleinen auf das große Ganze übertragen lassen.

Stufe 4: Ermächtigung: Das assistierenden-netzwerk

Zu den prägenden Erneuerungen des 21. Jahrhunderts gehören die Zusammenschlüsse der Ensembles zu Netzwerken, welche die Interessen der Berufsstände vertreten und als Gewerkschaften die Verbesserung der Arbeitssituation vorantreiben. Dem ensemble-netzwerk nachempfunden, trägt das assistierenden-netzwerk im nationalen Austausch dazu bei, die Sichtbarkeit der Assistent*innen zu fördern, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern, sowie erstmals eine gemeinsame Wertvorstellungen von gleichberechtigten Theaterstrukturen und fairen Bedingungen zu definieren.

Das Netzwerk denkt Theater als soziale, solidarische, nicht-diskriminierende, faire Wirkstätte für alle Mitarbeitenden und bietet ein Forum zur Vernetzung zwischen den Assistent*innen. Es teilt Erfahrungen, Wünsche und Werte. Es tauscht sich über Arbeitsweisen, Gehälter, Vertragsverhandlungen, Fortbildungen, Debüt-Inszenierungen und Arbeitsbedingungen aus. Das Assistent*innen-Netzwerk fordert gerechte Strukturen, gute Arbeitsbedingungen und faire Vergütung sowie die Unterstützung zur eigenen künstlerischen Laufbahn von Assistent*innen ein. Ziel ist es, sich durch kollektives Wissen selbst zu ermächtigen und eine eigene Lobby zu bilden.

Stufe 5: Die Vision

Zukunftsweisend wäre ein netzwerkbasiertes Ranking der attraktivsten Arbeitgeber*innen innerhalb der Theaterbranche, welches Auskunft über soziale Verantwortung, Chancengleichheit, Karriereperspektiven, Work-Life-Balance, Gehalt, Publikumsattraktivität und das künstlerische Profil der Häuser geben könnte und somit direkt auf die inneren Strukturen schließen ließe.

Dieses Ranking würde sich aus Umfragewerten von Mitarbeitenden, Zuschauer*innen und unabhängigen Befragten, sowie einer Jury speisen. Ziel des Theater-Rankings wäre es, die Theaterwelt auf lange Sicht so umzugestalten, dass Theatermacher*innen ihren zukünftigen Arbeitsplatz nach den oben genannten Kriterien wählen. Ferner könnte ein solches Ranking die Theater auch im europäischen Vergleich gegenüberstellen. Dieses Wertesystem wäre nicht zuletzt auch für das Publikum interessant und könnte dabei helfen, die Politik auf die prekären Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen.

Das Theater des 21. Jahrhunderts

Es steht nichts Weniger als die Gesellschaft selbst zur Debatte. Im Mittelpunkt steht der Mensch, der seine Gegenwart analysiert, seine eigene Individualität und Identität reflektiert und ausbildet, sich seiner gesellschaftlichen Lage bewusst werden kann und mittels der künstlerischen Auseinandersetzung am gesellschaftlichen Diskurs teilnimmt.

Theater kann nur so demokratisch sein, wie es die Gesellschaft selbst ist. Daher muss das Theater des 21. Jahrhunderts Auflösungs- beziehungsweise Austragungsort für die Makel der gesellschaftlichen Strukturen sein. Um sich selbst zu reformieren, muss es durch die Kunst Wege der Reform innerhalb der Bevölkerung finden und diese auf den Bühnen verhandeln. Die Kraft des Theaters liegt darin, dass es sich in der Gesellschaft spiegelt – und umgekehrt. Es soll gleichermaßen beeinflussen und beeinflusst werden. Gesellschaftskritisches Theater ist demnach notwendig und stellt die eigenen Strukturen zur Debatte. Das Theater muss sich durch die Gesellschaft korrigieren und die Gesellschaft durch das Theater.

In einem Zeitalter, in dem Nationalsozialismus, Antisemitismus, Rassismus und Sexismus innerhalb Europas wieder an gesellschaftlichem Nährboden gewinnen und die Grenzen des Sagbaren sich verschoben haben, muss das Theater neue Narrative und Formate entgegensetzen. Dafür muss es als Ort maximaler Diversität für alle Ethnien, Geschlechter sein, für Menschen jeden Alters zugänglich sein, und unabhängig von Behinderung, sexueller Orientierung oder Weltanschauung zugänglich sein. Ein diverses Ensemble reicht nicht, wenn es nicht auch radikal besetzt wird, um die Sehgewohnheiten zu ändern und eine neue Normalität zu etablieren. Die absolute Durchmischung ist das Ziel.

Im Theater des 21. Jahrhunderts geht es um Machtaufteilung, starke Partner*innen, neue Allianzen und faire Strukturen. Es geht darum, Kommunikation auf ein neues Level zu heben und darum, Kunst und technische Gewerke wieder zusammenzuführen und als einen Apparat zu begreifen. Dafür ist es notwendig, den NV-Bühne neu aufzulegen, Netzwerke zu fördern und Betriebsvereinbarungen zu verfassen.

Die Theater müssen ihre alten Ordnungen aufbrechen, sich ihres kulturellen, sozialen und finanziellen Kapitals bewusstwerden und es neu anlegen: Offene Leitungsrunden für das Ensemble, offene Kantinen auch für Bürger*innen, offene Konflikte austragen, offene Dialoge führen, sich wieder der Gesellschaft öffnen.

Dabei geht es um den Mut zur Lücke und keine Angst vor dem Scheitern zu haben, sodass Theater zu einem angstfreien Raum werden kann. Es geht darum, frecher, lauter und ungestüm zu sein, sich durch neue technologische Mittel und soziopolitische Einflüsse ästhetisch neu zu erfinden und strukturell weiterzuentwickeln, damit es den radikalen Umbruch unseres Lebens durch die invasive Technologie, den Konflikt Mensch versus Maschine, die Kritik, die Vorteile, Dystopien und Utopien in künstlerische Kontexte umwandeln kann.

Dies alles können nur Bretter, die die Welt bedeuten.

»Ich glaube fest daran, dass irgendwann ein neues Publikum dieses mutige, suchende, strauchelnde, verzweifelnde, brennende Theater für sich entdeckt und dass dieses Publikum, von dem wir heute nicht einmal zu träumen wagen, die Reihen langsam wieder füllt, bis sie bersten.«


Literatur

Schmidt, Thomas (2019): Macht und Struktur im Theater – Asymmetrien der Macht. Wiesbaden 2019. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH

Wille, Franz (2019): Die Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins zählt die Gaben. In: Theater Heute. Nr. 12/2019. S.1


Autorin

Foto: Sebastian Lulay

Jessica Samantha Starr Weisskirchen

begann ihre Theaterkarriere als Regieassistentin am Theater und Orchester Heidelberg. 2017 gab sie hier ihr Regie-Debüt mit dem Stück Bist du sicher, Martinus?. Sie inszenierte unter anderem am Theaterhaus G7, sowie an der Theaterakademie in Mannheim und brachte die von ihr verfassten Monologe Wendy – ein weiblicher Protagonist und blutrot auf die Bühne. Bis 2020 arbeitete sie als Regieassistentin am Nationaltheater Mannheim. Ein Körper für jetzt und heute ist ihre aktuelle Regiearbeit, zu sehen am Nationaltheater Mannheim. Sie ist Initiatorin des Assistierenden-Festivals SUMMER UP und Gründerin des assistierenden-netzwerks. Seit 2020 studiert sie, neben ihrer Arbeit als Regisseurin und Aktivistin, Theater-und Orchestermanagement an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt.

»Zurück in die Zukunft IV«

2. März 2021

Was liegt jenseits von Big Tech?

In den frühen 1970er Jahren entstand in Chile zur Zeit Salvador Allendes eines der ersten Computernetzwerke überhaupt: Fabriken und Lagerbestände wurden mit einem System von Fernschreibern ausgestattet, die miteinander verbunden waren und ihre Daten an einen Computer in Santiago übermittelten. So sollte die Effizienz der zentral gesteuerten Wirtschaft in einer Zeit, in der es aufgrund von politischen Spannungen einen Mangel an alltäglichen Waren gab, gesteigert werden. Eine Gruppe junger, idealistischer Forscher*innen unter der Leitung des Ingenieurs Fernando Flores entwickelte dieses Projekt. Als Berater und Experte für Netzwerke wurde der britische Kybernetiker Stafford Beer an Bord geholt. Der geplante zentrale Steuerungsraum des Netzwerks in Santiago, in dem die Daten aus den Fabriken ausgespielt und durch Filmprojektoren grafisch dargestellt werden sollten, wurde vom Gestalter Gui Bonsiepe konzipiert. In seinem futuristischen Design spiegeln sich die Techno-Utopien und der Fortschrittsoptimismus der Zeit wider: Betrachtet man heute die Entwürfe, fühlt man sich unweigerlich an die Star Trek-Serie oder Stanley Kubricks Science-Fiction-Klassiker 2001Odyssee im Weltraum erinnert.

Doch warum dieser Exkurs ins tiefe 20. Jahrhundert, wenn es um heutige digitale Transformationen geht?

Während der Lektüre von Eva Tepests Essay, in dem sie unter anderem vorschlägt, die gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung vor dem Hintergrund von Arbeitskämpfen und Klassenbewusstsein zu lesen, fühlte ich mich unweigerlich an diese historische Episode erinnert. Das Cybersyn (»cybernetic synergy«) genannte chilenische Computernetzwerk – im Zuge des Militärputsches von 1973 stillgelegt – kann als ein erster Vorläufer des heutigen Internet gesehen werden. Doch es erinnert sich kaum jemand daran. Hätten nicht Wissenschaftler*innen und Künstler*innen im Bereich von Medienkunst und digitaler Kultur wie Eden Medina dazu publiziert und gearbeitet (und Autor*innen wie Sascha Reh in seinem Roman Gegen die Zeit), wäre dieser frühe Versuch der Vernetzung heute vergessen. Aufgabe einer Kulturpolitik im Kontext der gegenwärtigen digitalen Transformationen sollte es sein, dieses differenzierte und kritische Wissen fruchtbar zu machen und Räume für eine öffentliche Diskussion zu schaffen, in der – ähnlich wie von Eva Tepest gefordert – technischer und sozialer Fortschritt zusammengedacht werden.

Durch meine Familiengeschichte habe ich zugegebenermaßen ein besonderes, persönliches Interesse am kulturellen und auch technischen Aufbruch in dieser Zeit, der für einen kurzen historischen Moment andere Perspektiven eröffnete als diejenigen, die sich im digitalen Kapitalismus unserer Gegenwart manifestieren. Doch auch über die individuelle Biografie hinaus stehen Cybersyn und viele andere Projekte für mich sinnbildlich für die vergessenen oder unsichtbar gemachten Geschichten im Kontext der Digitalisierung.

Die Geschichtlichkeit digitaler Medien

In der öffentlichen Debatte ist die Tendenz erkennbar, technische Entwicklungen als disruptive Phänomene in einer scheinbar geschichtslosen Gegenwart zu verstehen und sie mithilfe von Innovationsrhetoriken in eine lineare, unvermeidbare Zukunft hinein zu projizieren. Die digitalen Medien jedoch, die für uns heute so selbstverständlich geworden sind, haben eine Geschichte, die unmittelbar verwoben ist mit politischen und ökonomischen Entwicklungen und Entscheidungen. Sie lassen sich nicht isoliert davon betrachten. Und somit stellen sie auch nur eine von vielen Möglichkeiten dar, was Technologie sein kann. Ein Beispiel: Forscher*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen haben schon seit geraumer Zeit offen gelegt, auf welchen, teils biologistischen Annahmen die Algorithmen der so wirkmächtigen sozialen Netzwerke basieren, über die ein Großteil der sozialen Kommunikation unserer Gegenwart läuft. Die Grundthese besagt, dass die Vernetzung nach dem Muster von Ähnlichkeit funktionieren soll – seien dies nun Klasse, Hobbies, Interessen, Positionierung im politischen Spektrum oder der Beruf. Doch welches Gesellschaftsverständnis liegt dem zugrunde? Ließe sich nicht auch ein anderes, weniger Homogenität suchendes und in sich geschlossenes Ordnungsprinzip dieser Plattformen denken? Wäre dies nicht auch ein möglicher Weg, um die Abkopplung der gesellschaftlichen Milieus voneinander zu verhindern? Anhand dieses recht simplen Beispiels lässt sich gut nachvollziehen, dass die gegenwärtigen Technologien immer auch politisch sind und einen Teil der Ideologie, die sie hervorgebracht hat, mittransportieren. Verändert man nur ein Element in der Gleichung, ist man manchmal schon in einer anderen Realität – mit sehr manifesten Konsequenzen und Möglichkeiten.

Alternative Technologieentwürfe gibt es nicht nur in der Science-Fiction: Der Bereich von Medienkunst und digitaler Kultur stellt in diesem Zusammenhang ein enormes Wissensreservoir dar. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts experimentieren und forschen Künstler*innen mit den Möglichkeiten digitaler Medien als Gestaltungs- und Ausdrucksmittel. Dabei entsteht ein differenziertes Verständnis der Zusammenhänge zwischen Technologie und Gesellschaft. Und es entwickelten sich selbstermächtigende technologische Praxen, zum Beispiel im Bereich der Hacker*innenkultur, der Open Source-Bewegung und des Critical Engineering – der Umgang mit Technologie also als Aneignung und kritische Auseinandersetzung.

Die frühen Netz-Avantgarden propagierten einen selbstbestimmten Umgang mit Technologie, der sich nicht mit den Voreinstellungen der damals gängigen Software und Hardware begnügte. Ähnlich der Umnutzung von Plattenspielern als Musikinstrumente und künstlerische Werkzeuge, zum Beispiel im Hip-Hop, ging es der kritischen Medienkultur stets darum, Technologie »gegen den Strich zu bürsten«, sie nach den eigenen Regeln umzufunktionieren und zu verändern, um auf diese Weise Potentiale freizulegen, die nicht nur einer kommerziellen Verwertbarkeit nützlich sind. Stets ging es darum, Grenzen auszutesten – manchmal auch die Grenzen der Legalität. Doch durch diesen Aktivismus konnten viele politische und technische Fragen und Probleme im Zusammenhang mit Technologie offengelegt werden, beispielsweise Fragen zu Datensouveränität und -missbrauch, Privatsphäre und Anonymität, Sicherheitslücken und viele weitere.

Die alten Ideale dieser Avantgarde wie der dezentrale Wissensaustausch, der freie Zugang zu Technologie, die Überwindung alter Diskriminierungsmuster im Netz, die Unabhängigkeit von wenigen, dominierenden Konzernen, die Fähigkeit Code zu lesen und ihn zu bearbeiten, sind heute wichtiger denn je, auch wenn sich in den Filterblasen und Echokammern der Fake News und Hate Speech heute das Gegenteil dieser Ideale zu manifestieren scheint. Critical Engineering und vergleichbare Praxen stammen aus einer Zeit, in der die Kommerzialisierung der digitalen Sphäre noch nicht völlig abgeschlossen war. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, sich an sie zu erinnern, sie auch im Kontext von Kunst und Kultur neu zu lesen und zu fragen, was sie heute bedeuten könnten.

Eine solche Diskussion lässt sich nicht bloß als nachträgliche künstlerisch-kulturelle Aufarbeitung oder Illustration von »cutting edge« technologischen Innovationen betreiben, sondern sie sollte – insbesondere vor dem Hintergrund der fortschreitenden Zerstörung unserer Lebensgrundlagen durch die Idee von grenzenlosem Wachstum – die Frage stellen, welcher Fortschritt für die globale Gesellschaft eigentlich wünschenswert ist. Sie sollte die durch »Convenience« und wolkige Wordings vernebelten neuen Ausbeutungsverhältnisse zum Beispiel in der Logistik und Rohstoffindustrie oder der Fertigung von Hardware sichtbar machen, die eine sehr materielle Grundlage dessen darstellen, was wir heute unter »Digitalisierung« verstehen. Sie sollte die Frage aufwerfen, welche neuen Begriffe von Arbeit, Sinnstiftung und Anerkennung wir brauchen, wenn sich das Versprechen auf Vollbeschäftigung durch die fortschreitende Automatisierung nicht mehr einlösen lässt. Und welche Logiken und Annahmen hinter den Diskriminierungsmustern und Machtverhältnissen stecken, die sich in den Algorithmen heutiger sozialer Medien und Plattformen manifestieren.

Rassismuskritischer Aktivismus hat in den letzten Jahren sichtbar gemacht, welche Körper in den digitalen Plattformen als Norm gelten und welche nicht. Der Grund liegt in der nach wie vor weitgehend homogenen Struktur der Gruppe der Autor*innen dieser Plattformen und Programme. Nicht zuletzt sollte es – neben vielen anderen Fragen – auch um das Verhältnis von privater und öffentlicher Hand im Zusammenhang mit der kritischen digitalen Infrastruktur gehen. Soll die Gestaltung der öffentlichen Räume im Digitalen und in den Smart Cities der Zukunft gänzlich wenigen Unternehmen mit vornehmlich kommerziellem Interesse überlassen werden? Die aktuelle Pandemie hat unter anderem auch gezeigt, welche Brüche es beim Zugang zu Technologie entlang der Linien von Klasse, Herkunft, Einkommen und weiteren Determinanten gibt – können wir uns damit begnügen, dass dies nicht zu ändern ist?

Jenseits von Big Tech

Eines der wesentlichen Anliegen der Arbeit im medienwerk.nrw, einem Netzwerk von Institutionen und freien Akteur*innen in Nordrhein-Westfalen, die sich mit Medienkunst und digitaler Kultur beschäftigen, besteht in der Pluralisierung der Erzählungen über Technologie. In individuellen und kooperativen Projekten gehen viele der beteiligten Partner*innen unter anderem der Frage nach, welche Technoimaginationen jenseits der libertär-kapitalistischen Erzählungen und Gründungsmythen von »Big Tech« liegen (vereinfacht gesagt, die Idee, dass in freien Märkten und Unternehmen allein die besten Ideen für gesellschaftlichen Fortschritt entstehen, der Staat sich am besten heraushalten sollte und Technologie in der Lage ist, so gut wie alle gesellschaftlichen Probleme zu lösen, wenn man sie nur machen lässt). Und nach welchen anderen Prämissen – jenseits von kommerziellen Interessen und Expansion – Technologien gestaltet werden können. Cybersyn, revisited, aber eben auch als Auseinandersetzung mit Medienkulturen in vielen weiteren Gegenden der Welt, die oftmals übersehen oder nicht ernst genommen werden.

Dies alles sind gesamtgesellschaftliche Fragen, die sich natürlich nicht allein im Kulturbereich diskutieren lassen. Eine gute Nachricht dabei ist, dass viel Wissen darüber bereits existiert und Kulturpolitik mit ihren Mitteln dabei helfen kann, es mit anderen Gesellschaftsbereichen zu verknüpfen und zu übersetzen. Natürlich braucht es einen angemessenen technischen Standard, um Institutionen und Bildungseinrichtungen zukunftsfähig zu machen. Hier ist selbstverständlich noch einiges nachzuholen. Eine offene, debatten- und experimentierfreundliche Kulturpolitik im Bereich des Digitalen hätte aber eben nicht nur mit der Anschaffung neuester (bald veralteter) Technik zu tun, sondern mit der Entwicklung neuer Schnittstellen für dieses Wissen, der Ermöglichung neuer Allianzen mit dem Ziel von Selbstermächtigung und Emanzipation im Kontext von Technologie und einer langfristigen und vielstimmigen Auseinandersetzung.

In vielen Kunst- und Kulturbereichen sind bereits seit Jahren und Jahrzehnten wesentliche Anliegen zur Stärkung der kulturellen Landschaft in der Region formuliert worden, die mit Möglichkeiten zu tun haben, längerfristig an Themen und Fragestellungen arbeiten zu können und somit Produktionsdruck herauszunehmen. Die Basis hierfür wäre wohl eine Kultur des Vertrauens in die Kulturproduzent*innen, die sich in einer größeren Zugänglichkeit zu strukturellen Förderungen und in einer Reduzierung des Verwaltungsaufwands bei Förderungen auf Seiten von Akteur*innen und Fördergeber*innen niederschlagen müsste. Auch die Stärkung von diverser Repräsentanz in Jurys, Gremien, Institutionen, Verwaltung und Positionen mit Entscheidungsmacht ist eine Forderung, die unbedingt unterstützenswert ist, um Künste und Kultur zu fördern, die in einem stetigen Stoffwechsel mit der vielfältigen gesellschaftlichen Realität stehen.

Wenn ich diesen bereits seit Längerem existierenden Ideen etwas aus Sicht von Medienkunst und digitaler Kultur hinzufügen dürfte, wäre es, die Debatte über Technologie nicht auf die bloße Anwendung von Technik zu verengen, sondern sie als lebendige soziale und politische Diskussion zu verstehen, die alle etwas angeht und auch für alle zugänglich sein sollte. Technologie ist zu einem Teil der Natur geworden, die uns umgibt und längst schon auch unsere Körper und unser Bewusstsein durchdringt. Wir sollten versuchen, diese Prozesse zu verstehen und zu gestalten – nicht nur nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Sehr viele der aktuell drängenden Fragestellungen lassen sich als technologische Fragestellungen diskutieren. Eine Öffnung der Debatte und eine Verknüpfung zum Beispiel mit den aktuellen sozialen und ökologischen Bewegungen wird uns dabei helfen, uns im Dickicht der Gegenwart zu orientieren und unsere Vorstellungskraft für das, was möglich ist, zu trainieren.

Autor

Foto: Anneke Dunkhase

Fabian Saavedra-Lara

ist ein deutsch-chilenischer Kurator im Kontext Medienkunst und digitale Kultur. Er leitet seit 2013 das Büro des medienwerk.nrw.

Handschlag mit der Realität. Gedanken zu einer Überholung des Kulturbetriebs

25. Februar 2021

These 1: Die Professionalisierung von Ein-/Ausschlussverfahren ist konstitutiv für den Kulturbetrieb.

Interkultur Ruhr arbeitet im Auftrag des Regionalverbands Ruhr seit 2016 daran, freie Kulturakteur*innen zu fördern, zu vertreten und sichtbar zu machen, die sich als BiPoCs, diasporisch, migrantisch oder migrantisiert positionieren.

ODER: die aufgrund von Rassismus und damit auch häufig Klassismus diskriminiert werden.

ODER: deren Kunst- und Kulturarbeit sich bewusst in den Zusammenhang einer grundsätzlichen migrantischen Situiertheit unserer Gesellschaft stellt.

Dabei sind es nur manchmal die Akteur*innen selbst, die ihre Arbeit so verstehen. Öfter ist die Bezeichnung Interkulturelle Arbeit eine Reaktion auf die Markierung von außen. Zwar ist das Ruhrgebiet ohne Migration nicht zu denken – aber auch immer noch nicht ohne das konstruierte Migrations-Andere. Das Wir des Projekts Interkultur Ruhr ist eine Reaktion auf das von den Regelsystemen konstruierte Ihr. Denn Ausschluss wird hier zum Identitätsprinzip erklärt und manifestiert eine Nische in der ansonsten weiß dominierten Kulturlandschaft. Das zeigt sich auch in der Ausstattung des Projekts: Im Hinblick auf die Vielzahl von Akteur*innen und Formaten, stellen wir das wohl größte Feld kultureller Praxis dar, sind aber im Hinblick auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen das kleinste Projekt der Nachhaltigkeitsmaßnahmen der RUHR.2010.

Die meisten der engen Kolleg*innen leben unter kontinuierlicher Bedrohung.
Hanau. Halle. Duisburg. Solingen. Krefeld.
Vor langer Zeit, gestern, heute, morgen.
Und die, die bestellt sind, zu schützen, sind oftmals auch gefährlich.
Die institutionalisierten Kulturräume sind weiß: Angefangen von den Leitungsetagen der Häuser, den Angestellten in der Administration, den Programm- und Förderjurys, bis hin zu den etablierten Akteurinnen der Freien Szene. Hier ist der strukturelle Ausschluss und damit einhergehende permanente Vorgang von Othering und Exklusiv Alltag. Interkulturelle Arbeit im Ruhrgebiet ist also nicht zu denken, ohne dass rassistische und antisemitische Gewalt angesprochen wird.

Das betrifft auch die Erinnerung. Nach wie vor ist die Kontinuität dieser Gewalt nicht in das kollektive Gedächtnis der Region eingetragen. Wir müssen über Ungerechtigkeit reden.
Über Vorteile, Vorurteile und Versäumnisse.
Darüber, wer meistens viel bekommt.
Darüber, in welcher Kontinuität das steht.
Darüber, was es bedeutet, weiß zu sein.
Über Kolonialismus, Zwangsarbeiter*innen und Gastarbeiter*innen.
Und wer wen verwaltet.

These 2: Arbeitsrealitäten von Mikrostrukturen handeln außerhalb der Förderlogik.

Doch: Es ändert sich langsam etwas.
Wir profitieren jetzt von der Arbeit der sozialen Bewegungen, der organisierten Minderheiten der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte. Sie haben ihre Arbeit mit geringster institutioneller Unterstützung verwirklicht, ohne strukturelle Förderung und medialem Konfettiregen.

Der Wunsch und die Dringlichkeit nach künstlerischem Ausdruck, und die Selbstsorge-Notwendigkeit von Communities führen dazu, dass ohnehin prekäre Arbeitsrealitäten historisch und aktuell an den äußersten Rand der Selbstausbeutung geraten. Lokale Projekte und Mikrostrukturen erledigen grundlegende Arbeit vor Ort und Stelle. Sie verfügen über Netzwerke, für die große Institutionen ansonsten Outreach-Kurator*innen und Community-Manager*innen temporär einstellen. Und doch erleben sie selten genügend (monetäre) Entlohnung.

Denn: In der Logik bürokratisch aufgeladener Projektförderung ist dieses Tätigsein kaum abzubilden. Spontane, bedarfsorientierte Kulturarbeit dieser Gruppen kann weder sprachlich noch formal dem Regelwerk öffentlicher Förderrichtlinien entsprechen. (Beispiele und Erhebungen zum Thema unbezahlter Arbeit sind in der Dokumentation zum Förderfonds (2018, S. 16) bzw. (2019, S. 13) zu finden.)

Auch hier zeichnen sich erste Veränderungen ab: Im vergangenen Jahr haben diverse Maßnahmenpakete Stipendien zur Unterstützung der Kunst- und Kulturarbeiter*innen ausgelobt. Sie motivieren dazu, die eigene Praxis jenseits von konkreten Projekten als förderwürdig zu verstehen. Selten hat ein so breites Spektrum von Akteur*innen die gleiche Förderung erhalten. Einen Moment lang wurde kaum selektiert, sondern vergeben. Das Anliegen und der Bedarf selbst werden eher vorausgesetzt als beurteilt.

These 3: Entscheidungen sollten auf Dissens und Heterogenität basieren.

Was es jetzt braucht, ist die gleichzeitige Reformation von Regelinstrumenten und –institutionen, sowie die Stärkung der Selbstorganisationen.
Wenn das Interesse daran wirklich ernst gemeint ist, dann muss in diesen Bereichen wesentlich mehr Geld in die Hand genommen werden.
Mehr Mut gesammelt werden, sich selbst aufs Spiel zu setzen.

Wie sieht eine Kulturförderung aus, die unterschiedliche ästhetische Vorstellungen anerkennt?

Ist die Grenzziehung zwischen professionellem und amateurhaftem Kunst- und Kulturschaffen dann überhaupt noch aufrechtzuerhalten?

Wir brauchen anti-hegemoniale und kontroverse Verfahren, um über die Verteilung von Ressourcen und Jobs zu entscheiden. Das heißt: Viele sehr verschiedene Leute sollten an diesen Entscheidungen beteiligt sein.

Wir müssen die angstvolle Vorstellung davor verlieren, dass eine Praktik des Vertrauens in die Breite existierender künstlerischer Formen und Qualitätsvorstellungen im Chaos endet.

Das tut es nicht: Im Gegenteil könnte so eine Kulturlandschaft entstehen, die der Pluriversatilität der Gesellschaft entspricht, in der wir leben.

Und mal ehrlich:
Die Arbeit wird ohnehin gemacht.
Es ist jetzt an der Zeit, dass die, die über die Ressourcenverteilung entscheiden, lernen, hinzusehen und als Arbeit anerkennen, was sich vielleicht den etablierten Kategorien von Wert in der Kultur entzieht. Ankunft in der Gegenwart!
Wir müssen ein genaues Hinschauen und Zuhören organisieren.
Vielleicht sollten Fördermittel sozialräumlich vergeben werden, nicht genrespezifisch.
Vielleicht können Stadtviertel Verfahren entwickeln, wie die dort lebenden Kunst- und Kulturschaffenden die Ressourcen verteilen.
Um hier fair miteinander umzugehen, ist viel Arbeit an der Selbsteinschätzung gefragt: Diskriminierungskritische Qualifizierung und Stärkung marginalisierter Strukturen sind Schlüssel, um neu hören und sehen zu können, um eingeübte Bewertungsaffekte zu überwinden. Deswegen müssen Auswahlgremien ihre künstlerisch-ästhetischen Kriterien enger an gesellschaftliche und politische Realitäten anknüpfen.

Es ist ein guter Moment um grundsätzlich zu werden, Zögerlichkeit zu überwinden und den eigenen Standpunkt zu konsolidieren. Dazu gehört auch: Eine permanente Überprüfung der Ausschlüsse, die man selbst produziert.

Das Ziel ist: Die institutionalisierten Verhältnisse poröser zu machen und die Potenziale und Praktiken selbstverwalteter und -organisierter Arbeit zu stärken und einzubringen.

Für eine gemeinsinnige Kulturlandschaft, die Platz für Viele schafft.

Autorinnen

Foto: Nana Hülsewig

Johanna-Yasirra Kluhs
ist freie Programm- und Produktionsdramaturgin. 2016-21 ko-leitet sie mit Fabian Saavedra-Lara das Projekt Interkultur Ruhr. www.interkultur.ruhr

Foto: Rabia Çalışkan

Fatima Çalışkan
ist freie Künstlerin und Kuratorin. Sie berät u.a. Projekte für den Förderfonds Interkultur Ruhr.

Teile dieses Textes sind am einem Vortrag unter dem Titel Seid ihr okay!? beim Branchentreff des Performing Arts Programs 2020 sowie den Kulturpolitischen Handlungsempfehlungen von Interkultur Ruhr entnommen.

Transformationsforderungen an die Kulturpolitik von Kulturschaffenden mit Behinderungen

23. Februar 2021

Das deutsche Feld der Disability Arts ist eine wachsende, lebendige und aufregende Sphäre. Trotzdem haben wir noch einen langen Weg vor uns, bis wir Kulturschaffenden mit Behinderungen das gleiche Maß an Unterstützung erhalten wie unsere internationalen Kolleg*innen. Ich bin mir aber sicher, dass mit der richtigen Kulturpolitik die Disability Arts in Deutschland in der Lage sein werden, ihr Potenzial als international anerkannter und integraler Bestandteil unserer zeitgenössischen Kulturlandschaft zu entfalten.

Diese Unterstützung ist von entscheidender Bedeutung: Trotz des gestiegenen Bewusstseins und Interesses an Disability Arts in Deutschland gibt es immer noch eine tiefgreifende Unterrepräsentation und Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in den Künsten – auch bekannt als Ableismus. Ein Weg, diese Diskriminierung zu überwinden, ist die Gründung von Kunstorganisationen für Menschen mit Behinderungen. Und insbesondere von Kunstorganisationen, die von Menschen mit Behinderungen geleitet werden, die die Solidarität zwischen Künstler*innen fördern und Ressourcen mit dem allgemeinen Kultursektor teilen. Solche Organisationen sind entscheidend, um den Bekanntheitsgrad behinderter Künstler*innen zu erhöhen.

Best Practice auf Organisationsebene

Weil sie in der Lage sind, auf deren Zugänglichkeitsbedürfnisse einzugehen, können sie dies auf eine empowernde Weise tun. Sie arbeiten daran, die Chancen und die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderung als Künstler*innen, Kunstschaffende und Publikum zu verbessern. Zum Beispiel bieten eine Reihe kleiner lokaler Organisationen wie Berlinklusion (Berlin), Diversity Arts Culture (Berlin), Platz Da! (Berlin) und EUCREA (Hamburg) dem deutschen Kultursektor Informationen, Beratung und in einigen Fällen auch Schulungen an, und geben Künstler*innen mit Behinderung eine Plattform, um sich Gehör zu verschaffen.

In ähnlicher Weise haben eine Reihe von Konferenzen und Symposien, die sich in jüngster Zeit mit den Themen Behinderung, Zugänglichkeit und Inklusion befasst haben, die Möglichkeiten zum Austausch von Wissen, Best Practice und Ressourcen auf nationaler und internationaler Ebene verbessert, wie zum Beispiel Meeting Place (organisiert von Berlinklusion im Jahr 2017), Disability Art & Crip Spacetime (organisiert von Noa Winter und Dr. Nina Mühlemann für das NO LIMITS Festival im Jahr 2020) und ARTivismus von Künstler*innen mit Behinderung (organisiert von Linda Müller und Jana Zöll für das Grenzenlos Kultur Festival im Jahr 2020).

Ableismus im Kultursektor

Allerdings muss auf Landes- und Bundesebene mehr getan werden, um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung an Kunst & Kultur zu erhalten und zu erhöhen. Organisationen, die durch behinderte Menschen geleitet werden und Disability Arts-Organisationen, haben enorm viel getan, um die Arbeit von Künstler*innen mit Behinderungen zu fördern und zu unterstützen. Es gibt aber im sogenannten »Mainstream«-Kultursektor einiges zu tun, um gegen Ableismus vorzugehen. Die Überarbeitung und Neuformulierung der Kulturpolitik auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene ist ein Weg, um solche Veränderungen endlich auf den Weg zu bringen.

Inklusion in politischen und künstlerischen Entscheidungsprozessen

Erstens müssen wir überprüfen, wie unsere gegenwärtige Kulturpolitik gemacht wird, und fragen, inwieweit dieser Prozess diejenigen einbezieht, denen diese Politik angeblich dienen soll. Warum spielt Zugänglichkeit nicht eine stärkere und zentralere Rolle in unserer Kulturpolitik? Bestehen die Berater*innen der politischen Entscheidungsträger auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene aus einem vielfältigen Team von Kulturschaffenden mit einem breiten Spektrum an Erfahrungen und mit unterschiedlichen Behinderungen? Wo dies noch nicht der Fall ist, müssen die Erfahrungen von Künstler*innen und Kulturschaffenden mit Behinderungen in künftige Kulturpolitik einfließen und diese mitgestalten. Insbesondere sollte unsere bestehende Kulturpolitik so umgeschrieben werden, dass die verschiedenen Arten der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen im Kulturbereich abgebaut werden – sei es beim Besuch von Kulturveranstaltungen als Teilnehmer*innen, bei der Suche nach einer Beschäftigung als Künstler*in oder Kunstschaffende*r, oder beim Erwerb einer Ausbildung oder Qualifikation in der Kunst oder Kultur.

Gesetzliche Rahmenbedingungen

Zweitens kann Kulturpolitik mehr tun, um die bestehenden gesetzlichen Anforderungen bezüglich der Rechte von Menschen mit Behinderungen auf Zugang zur Kultur durchzusetzen. Während andere Länder wie Großbritannien und Australien weitaus strengere Maßnahmen zur Durchsetzung dieser Gesetze haben, wie zum Beispiel die Kürzung öffentlicher Mittel für Kultureinrichtungen, die bestimmte Quoten bei der Teilnahme oder Beschäftigung behinderter Menschen nicht erfüllen, gibt es in Deutschland kaum Konsequenzen für Kultureinrichtungen, die Zugänglichkeit unzureichend umsetzen. Um hier Abhilfe zu schaffen, könnte die Kulturpolitik einen stärkeren Rahmen für die Rechenschaftspflicht öffentlich geförderter Kultureinrichtungen schaffen, um Barrierefreiheit für behinderte Zuschauer und Mitarbeiter*innen gleichermaßen umzusetzen. Abgesehen davon sollte Kulturpolitik auch bessere Unterstützung für Kulturorganisationen bereitstellen, damit diese den Übergang von der bisherigen Unzugänglichkeit zu zukünftig mehr Zugänglichkeit schaffen können. Beispielsweise können (vor allem kleinere) Kulturorganisationen dabei unterstützt werden, bauliche Zugänglichkeit zu verbessern, Schulungen für Mitarbeiter*innen durchzuführen und angemessene Vorkehrungen für Mitarbeiter*innen mit Behinderungen zu treffen. Kulturelle Organisationen, die Werke von Künstler*innen mit Behinderungen in Auftrag geben, präsentieren und/oder Kulturschaffende mit Behinderungen in (vor allen Dingen!) Führungspositionen beschäftigen, sollten ermutigt werden und verstärkt Orientierungsangebote erhalten.

Ausschließlich barrierefreie Zugänge

Schließlich kann Kulturpolitik dazu beitragen, die Kulturförderung des Bundes, der Länder und der Kommunen behindertengerecht zu verwalten und zu verteilen. Auch hier ist die Einbindung von Kunstschaffenden mit Behinderungen als Berater*innen in Fördergremien ein wichtiger Schritt. Wir müssen uns fragen: Wie können wir die Barrierefreiheit und die damit verbundenen Kosten als integralen Bestandteil der Kunstproduktion betrachten – und nicht wie bislang als Sahnehäubchen oder nachträgliches Element?

Auf lokaler Ebene hat es einige positive Schritte in die richtige Richtung gegeben. Zum Beispiel beinhalten sowohl die Förderungen der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin als auch des Hauptstadtkulturfonds Anforderungen zur Barrierefreiheit von Ausstellungen und anderen kulturellen Veranstaltungen. Neue Förderlinien wie Durchstarten und IMPACT-Fonds bieten auch eine barrierearme Förderung für einzelne Künstler*innen mit Behinderungen in Berlin. Das ist schön und gut, aber: Die gesamte reguläre Kunstförderung auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene muss für alle Künstler*innen und Kunstschaffenden zugänglich sein, die sich bewerben möchten – unabhängig davon, ob sie eine Behinderung haben oder nicht.

Die Kulturpolitik könnte sicherlich über die bloße Bereitstellung von Mitteln für die Kunstvermittlung oder die bauliche Zugänglichkeit für ein Kunstpublikum mit Behinderungen hinausgehen. Sie muss damit beginnen, die Finanzierung qualitativ hochwertiger kultureller Arbeit zu fördern und zu erleichtern, die von Künstler*innen und Kunstschaffenden mit Behinderungen produziert wird.

Autorin

Dr. Kate Brehme

ist freie Kuratorin und Kunstvermittlerin mit einer Behinderung. Sie hat in Australien, Schottland und Deutschland eine Vielzahl von Projekten, Ausstellungen und Veranstaltungen geleitet und als Kunstvermittlerin für Organisationen wie The Fruitmarket Gallery in Edinburgh und The National Galleries of Scotland gearbeitet. Seit 2008 leitet sie Contemporary Art Exchange, eine kuratorische Plattform für internationale Projekte, Ausstellungen und Veranstaltungen, die professionelle Entwicklungsmöglichkeiten für aufstrebende, junge und marginalisierte Künstler*innen bietet. Im Jahr 2017 gründete Kate zusammen mit Dirk Sorge, Jovana Komnenic und Kirstin Broussard Berlinklusion, das Berliner Netzwerk für Zugänglichkeit in Kunst und Kultur, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Berliner Kunst- und Kulturszene für Künstler*innen und Publikum mit Behinderungen zugänglicher zu machen. Seit Oktober 2020 arbeitet Kate Brehme als Disability Kunst und Kultur Referentin für Diversity Arts Culture.

Meine Kultur ist systemrelevanter als deine Kultur.
Umsehenlernen im Lockdown

18. Februar 2021

Kulturförderung ist ein heikles Thema, egal von welcher Seite man sich ihm nähert. Bei Kulturförderung denkt man zunächst an Förderungen durch die öffentliche Hand. An finanzielle Unterstützungen für Projekte, deren Förderungswürdigkeit von Bürger*innen, deren Steuergelder dabei zum Einsatz kommen, mehr oder weniger anerkannt wird. Kein Kulturprodukt oder -projekt gefällt allen, entsprechend gefällt auch geförderte Kultur immer nur einer mehr oder weniger großen Gruppe von Menschen. Insofern erscheint es sinnvoll, sich von der Vorstellung einer allgemeingültigen nationalen Kultur, die besonders förderungswürdig ist, zu verabschieden. Und als zeitgemäßeres Ziel zu definieren, möglichst vielfältig Kulturen repräsentieren zu wollen, um entsprechend viele im Land lebende Menschengruppen anzusprechen.

Dies heißt nicht, dass die überwiegend von ablen weißen cis hetero Männern geprägte Kultur des bürgerlichen Zeitalters keine Rolle mehr spielen soll. Sie soll nur nicht mehr unhinterfragt dominieren und den Blick auf ›die Anderen‹ und ihre Kulturen verstellen. Millionen Menschen sehnen sich nach angemessener Repräsentation in der Öffentlichkeit, auch als Kulturproduzierende, -rezipierende, -vermittelnde. Sie haben längst verstanden, dass die Wahrnehmung ihrer Kulturprodukte und -projekte nicht von Fragen gesellschaftlicher und ökonomischer Partizipation zu trennen ist. Wessen Musik, Literatur oder Kunst nicht als anschauenswürdig gilt, dem kommt in dieser Gesellschaft grundsätzlich eine Randstellung zu.

Mehr als ein guter Vorsatz

Eine Kulturförderung, die nominell die Öffentlichkeit repräsentiert, muss sich auch real an die Öffentlichkeit richten, sonst wird es absurd. Der nötige Perspektivenwechsel, der in Wirklichkeit eine Öffnung des Blicks meint, wird sich ganz unangestrengt von selbst einstellen, sobald Jurys und Gremien, die Förder- und Preisgelder vergeben, in einer Weise besetzt sind, die selbst wiederum gesellschaftliche Vielfalt repräsentiert. Sich Diversität nur als guten Vorsatz auf die Agenda zu schreiben, ist nicht nachhaltig. Sie muss strukturell und dauerhaft verankert werden, um mehr als ein einzelnes gelungenes Event mit wohlwollendem Pressespiegel hervorzubringen.

Gesellschaftliche Vielfalt ›geht nicht mehr weg‹: Die meisten Menschen leben in internationalen Stadtgesellschaften, wir alle leben in einer globalisierten Welt. Statt weiter Zukunftskonferenzen zu veranstalten, macht man Diversität besser sofort zum Maßstab, am dringendsten bei Jobbesetzungen und Auftragsvergaben. Das Wichtigste, was viele Entscheider*innen in der Kulturförderung zu lernen haben, ist der Umstand, dass sie aufgrund ihrer Herkunft und Bildung besonders schlecht über den Rand tradierter weißer europäischer, von der christlichen Aufklärung geprägter Vorstellungen blicken können. Beim Umsehenlernen brauchen sie dringend professionelle Hilfe. Das ist für Menschen mit erheblichem institutionellem und oft zusätzlich akademischem Prestige sicherlich ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke. Aber es geht ja um Veränderung, und ohne Aufgabe von Gewohnheiten ist diese nicht zu haben.

Schwarzer Rollkragen, flatternder Schal

Wenn man an die üblichen in klassischen Medien erscheinenden Cartoons über Kultur denkt, posieren alle Philosophen in schwarzen Rollkragenpullovern und mit aufgestütztem Kinn, haben alle Dirigenten flatterndes welliges Haar, tragen alle Intendanten ständig Schal, gibt es Frauen nur in sehr dünn (Tanz) oder sehr dick (Gesang) – und ausschließlich in darstellenden Künsten; Queere, BiPoC, Behinderte hat man hier noch nie gesehen. Diese Cartoons karikieren Vorstellungen von ›Hochkultur‹, zugleich geben sie Auskunft über machtvolle Bilder, die seit Jahrzehnten in unveränderter Form existieren. Für diese Beständigkeit können mehrere Ursachen vermutet werden.

Zum einen wird Kultur zwar in der Realität von ganz unterschiedlichen Menschen geschaffen, performt und rezipiert, doch der in der klassischen Medienöffentlichkeit gezeigte Ausschnitt ist immer noch vergleichsweise monokulturell. (Ausnahmen bestätigen die Regel.) Glücklicherweise sind hier bereits Veränderungen spürbar, aber es könnte, es sollte sehr viel schneller gehen. Die selbstverständliche kulturelle Repräsentation von gesellschaftlicher und ästhetischer Vielfalt ist ein äußerst wirksames Mittel gegen das allseitige Einsickern des Reaktionären. Wenn es keine gesetzte kulturelle Norm mehr gibt, sondern viele Varianten, fällt es schwer, den Mythos vom das Eigene bedrohenden Fremden aufrechtzuerhalten, mit dem Rassismus, Antisemitismus, Klassismus, Sexismus, Queer- und Behindertenfeindlichkeit unterfüttert sind.

Zum anderen partizipieren sehr viele Bürger*innen nur ›gefühlt‹ an weiten Bereichen öffentlich geförderter Kultur. Sie gehen nicht ins Theater, in die Oper, ins Konzert, ins Museum oder zu Literaturfestivals. Die Umfragen des Kulturbarometers zeigen, dass dennoch viele von ihnen die Förderung von Hochkultur und freier Szene, also die Existenz von Opernhäusern, Theatern, Philharmonien, Museen und das Stattfinden von Literaturfestivals als sinnvoll bezeichnen. Man kann ein gutes Gefühl daraus ableiten, dass die Kinder in der Schule Schiller lesen, jederzeit eine tolle Ausstellung besucht werden könnte, ein ›gutes Buch‹ vor einem auf dem Couchtisch liegt. Magisches Denken: Man muss es gar nicht wirklich tun, um sich an der Vorstellung zu erwärmen. An physische Orte und Objekte gebundene Kultur kann also auch unabhängig von konkreter Teilnahme positive Auswirkungen aufs individuelle Selbstbild haben, in einer diffusen Weise ›bedeutend‹ sein. Aus dieser Beobachtung lassen sich alternative Handlungsaufforderungen für Entscheider*innen ableiten. Sie können versuchen, diese ›passiven Kulturfreund*innen‹ zu aktivieren, sie ›zurückzuholen‹, ins Museum, in die Oper, die Bibliothek, zur Lyrik und so weiter. Solche Versuche hat es in den letzten Jahrzehnten vielfach gegeben, der Erfolg war mäßig. Sie können umsehen lernen, anerkennen, dass viele Leute ›einfach so sind‹ und sich freuen, dass ihr Schattenpublikum nichts gegen staatliche Kulturförderung hat. Sie können die kulturelle Repräsentation von gesellschaftlicher und ästhetischer Vielfalt durch ein divers besetztes Team strukturell verankern und so organisch Angebote entwickeln, die eine neue, große Zielgruppe ansprechen, die nicht ›zurückerobert‹ werden muss, sondern sich endlich willkommen fühlen wird.

Echtes kulturelles Leben im Internet

Was als bedeutende Kultur wahrgenommen wird, hat im deutschsprachigen Kulturraum auch sehr viel damit zu tun, in welchen Formaten und Medien etwas präsentiert wird. Und hier liegt ein Kernproblem. Das Geld, die Aufmerksamkeit, die Bedeutung im Bereich offizieller Kultur wird im geringsten Maße der Sphäre zugewiesen, in der gesellschaftliche und ästhetische Vielfalt am plausibelsten abgebildet wird: Auf Social-Media- und Streaming-Plattformen treiben Kulturschaffende und -konsumierende den notwendigen Wandel längst erfolgreich voran, gemeinsam. Die #metoo- und #metwo-Bewegungen etwa haben global das Bewusstsein für strukturellen Sexismus und Rassismus geschärft, was auf international operierenden Streamingplattformen schnell zu vielfältigeren Besetzungen von Serien und Filmen geführt hat. Für die Mehrheit der Menschheit findet das ›echte Leben‹ – kleine, aber einflussreiche Teile der Menschheit können sich dies partout nicht vorstellen – in fluiden Mischungen in der digital-virtuellen Sphäre statt und zwar aus Neigung, freiwillig, nicht wie jetzt im Lockdown erzwungen.

Ein Großteil der als öffentlich relevant geltenden, analogen Kultur in klassischen Konzert- und Opernhäusern oder Theatern könnte ohne erhebliche finanzielle Unterstützung durch Bund und Länder gar nicht existieren. Pandemiebedingt hat sich gerade eine Realität eingestellt, in der diese Angebote tatsächlich nicht existieren, und viele Kulturschaffende sich sorgen, dass das Publikum sich endgültig daran gewöhnen könnte, Videoaufzeichnungen (ohne oder mit stark reduziertem Publikum) als Live-Erlebnis zu empfinden – denn gestreamte Aufführungen sind zeitlich ja live. Man teilt die Zeit, in der eine Aufführung stattfindet, nur nicht in einem gemeinsamen physischen Raum. Verschieben sich Aufführungspraktiken notgedrungen und dann gewohnheitsmäßig, dauerhaft ins Virtuelle, verliert die Vorstellung einer Kultur im physischen Raum, die traditionell besonders förderungswürdig das Wahre, Schöne, Gute des jeweiligen Staates symbolisiert, weiter an Plausibilität.

Der Status des Besonderen

Die Trauer der Menschen, die an diese Form der Kultur gewöhnt sind, ist echt und verständlich, man kann sie mitfühlen. Gleichzeitig regt die aktuelle Situation stark zum Denken an, was sehr positiv ist. Dass man jetzt die wesentlichen Teile dessen, was Kultur ausmacht, verloren hat oder vollständig zu verlieren droht, erscheint übertrieben: Netflix streamt immer noch. Menschen lesen Bücher und Comics, hören Aufnahmen, und sehen Konzertfilme. Nur eine sehr bestimmte Ausprägung von Kultur muss aktuell pausieren beziehungsweise sich im Internet einrichten, so gut es geht. Damit hat sie vorübergehend, vielleicht auch permanent, ihren Status des Besonderen verloren. Schon jetzt scheint es weniger plausibel, dass wenige tausend Personen die Kultur eines ganzen Staates repräsentieren.

Die symbolische und ökonomische Macht greift im Netz weniger stark, aber auch im Lockdown sind nicht alle Menschen gleich, soziale Ungerechtigkeiten verstärken sich eher noch. Kultur jedoch wirkt im Internet während des Lockdowns und nicht zuletzt durch die Banalität der häufig zu sehenden heimischen Bücherwand plötzlich gleichgestellt. Zudem wird deutlicher, dass es ein kategorialer Unterschied ist, ob Kulturschaffende im klassischen Betrieb berühmt und im Netz ›gut sind‹, oder ob sie wirklich existenziell darauf angewiesen sind, im Netz zu sein. Viele Autor*innen beispielsweise würden ohne Fangemeinde in sozialen Netzwerken gar nicht existieren, viele kleine Verlage auch nicht. Die einen hatten mal die Wahl, die anderen nie. Selbst in Coronazeiten interessiert aber im Feuilleton mehr, was Vertreter*innen der Normkultur in der Krise erleben,– warum fragt man sich und fürs Publikum nicht, was von den Anderen im Netz gelernt werden könnte, von Kulturschaffenden und -vermittelnden, die im Lockdown relativ normal weiterarbeiten. Ist es, weil sie zu wenig den Cartoon-Images entsprechen? 

Es schadet nicht, jetzt gerade einmal im Netz zu erleben, wie es ist, wenn alle Kultur den gleichen Status hat. Es schadet nicht, als Zuschauende die Live-Lesung des preisgekrönten Autors, der sonst umstandslos in jedes Literaturhaus gebucht wird, direkt neben dem Live-Talk der Journalistin angezeigt zu bekommen, der regelmäßig mit der Bezeichnung ›Netzaktivistin‹ die Professionalität abgesprochen wird. Es schadet nicht, als Mensch zu erleben, wie einen die nicht kompetitive Gemeinschaft der Anderen im Netz durch die Krise tragen kann.

Exklusivität ist kein verlässliches Gütesiegel

Niemand kann sich jetzt in der Krise ernsthaft wünschen, nahtlos an das Vorher anzuschließen, nicht nur, weil es angesichts der kommenden Wirtschaftskrise unrealistisch ist. Warum nicht lieber sofort damit beginnen, repräsentative und performative, analoge und digitale, klassische und neue Kulturen so zusammenzudenken und zu vermitteln, dass viel mehr Menschen daran partizipieren können? Nicht nur, weil dabei die Zuschauer*innenplätze technisch weniger begrenzt sind. Nicht Menschen sind für Kultur, Kultur ist für Menschen. Mehr Kulturen sind für mehr Menschen. Mehr Kulturen in mehr Medien sind für noch mehr Menschen. Exklusivität ist kein verlässliches Gütesiegel besonders guter Kultur.

Es geht nicht darum, Kultur im physischen Raum vollständig durch virtuelle zu ersetzen. Es geht auch nicht darum, komplexe Kultur zu verflachen. Aber es sollte im nächsten Schritt der Kulturarbeit und -förderung um eine möglichst barrierefreie, lebendige Kulturvermittlung gehen, die mit digitalen Mitteln weltweit Menschen anspricht. Viel Geld für Kulturprojekte auszugeben, die jeweils nur eine Handvoll Menschen erreicht, ist konzeptuell nicht mehr akzeptabel. Live-Streams erreichten die breite Öffentlichkeit erst in der Krise des Lockdowns – warum sind sie nicht längst die Norm gewesen?

Im Netz führen Menschen seit Jahren vor, wie man digital Kultur wirkungsvoll vermittelt, in transnationalen Netzwerken zusammenarbeitet, gemeinsam Projektgelder aufbringt und Barrieren erkennt, Grenzen überwindet. Diese Expertisen werden gesamtgesellschaftlich kaum genutzt, weil das Netz entweder dämonisiert oder kleingeredet wird. Es ist aber ein konstitutiver Bestandteil unserer Welt, in der Digitales und Analoges, Virtuelles und Materielles sich längst verschränkt haben. »Es wächst zusammen, was zusammengehört« beschreibt auch, was man während des Lockdowns beobachten kann. Das muss man jetzt, wie im originalen Kontext des Zitats auch, nur noch positiv denken und gestalten. Dabei ist auch ausreichend Raum für interessante Kultur im traditionellen Sinne.



Autorin

Foto: Frohmann Verlag

Christiane Frohmann
studierte Literaturwissenschaft und Philosophie, ist Autorin und Verlegerin. In Texten und Vorträgen setzt sie sich für eine gelassene Digitalisierung und mehr strukturelle Vielfalt in Kultur- und Bildungsinstitutionen ein. Sie ist Botschafterin von #vielfaltdurchlesen. Der Frohmann Verlag wurde 2020 mit einem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet.


Hype oder Rettung?
Agilität im Kulturbereich

16. Februar 2021

Die Welt hat sich verändert und wir befinden uns in einer Phase, in der auch traditionsreiche Kulturinstitutionen und Strukturen auf ihre Anpassungs- und Zukunftsfähigkeit hin überprüft werden müssen. Im Hinblick auf eine nächste Gesellschaft sollte der Kulturbereich intensiv über den Wandel nachdenken. Nicht zuletzt bringt besonders die Digitalisierung historisch neue Rahmenbedingungen, auf die es zu reagieren gilt. Transformation muss als gemeinsamer Prozess von Kulturpolitik, Wissenschaft, Bildung, Sozialkultur und Kulturschaffenden sowie Kulturinstitutionen gesehen werden. Denn es geht um die Veränderung fest etablierter – um nicht zu sagen: verkrusteter – Strukturen und Konzepte.

Auch das Thema Innovation ist hier eine wichtige Denkfigur. In diesem Beitrag soll aber auf ein spezifisches Phänomen geschaut werden, das in den letzten Jahren von vielen Akteurinnen und Akteuren im Kulturbereich diskutiert worden ist. Die Rede ist von der Agilität. In der Tat ein Buzzword, aber es lohnt sich, die dahintersteckenden Gedanken einmal genauer zu beleuchten.

Was ist mit Agilität gemeint?

Grundsätzlich beschreibt man mit Agilität bestimmte Arbeitsmethoden und Prozesse, die sich in der Softwareentwicklung etabliert haben. 2001 haben sich aus diesem Bereich Expert*innen in einem Manifest geäußert, das vier grundlegende Werte beschrieben und zwölf unterschiedliche Prinzipien der Agilität festgelegt hat:

  • Individuen und Interaktionen vor Prozessen und Werkzeugen
  • Funktionierende Software vor umfassender Dokumentation
  • Zusammenarbeit mit dem Kunden vor Vertragsverhandlungen
  • Reagieren auf Veränderung vor dem Befolgen eines Plans

In den darunter vereinten Prinzipien geht es unter anderem um Selbstorganisation, Kundenorientierung, aber beispielsweise auch um die Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen. Flexible Strukturen, iterative Prozesse und Nachhaltigkeit sind weitere Leitplanken. Auf der Grundlage der agilen Prinzipien erwachsen agile Methoden wie zum Beispiel Scrum: Eine häufig angewandte Methode, die den Fokus auf Selbstorganisation der Mitarbeiter*innen legt und ein schrittweises Vorgehen im Arbeitsprozess vorschlägt. Immer im Austausch mit dem Bedürfnis der Nutzer*innen zu entwickelnder Produkte beziehungsweise Dienstleistungen. Solche als Feedback-Schleifen bekannten Rückkoppelungen sind essenziell im ständigen Lernprozess der Agilität.

Im Vergleich zu anderen Konzepten, beispielsweise des Lean Managements, wird noch einmal klar, worum es beim Thema Agilität geht: Der Output zählt, die Produktentwicklung, letzten Endes auch die Effizienz des Unternehmens. Deswegen muss Agilität auch als holistischer Ansatz begriffen werden und alle Unternehmensbereiche umfassen. Wobei man nicht dem Irrglauben erliegen darf, dass Agilität ein Sparprogramm ist, bei dem durch schnelle Prozesse weniger Ressourcen und Mitarbeiter notwendig sein könnten. Die Frage ist nun, ob es Sinn macht und überhaupt funktionieren kann, diese Management-Methoden auf den Kulturbereich zu übertragen.

Status quo und Transformation

Kulturinstitutionen und die Menschen, die mit und in ihnen arbeiten, haben verlässliche Wissensspeicher geschaffen. Einrichtungen wie Theater oder Museen sind Orte der Begegnung und der Auseinandersetzung mit den Künsten; sie bieten im Idealfall Orientierung und Möglichkeiten der Selbstvergewisserung. Es ist gut, dass mit ihnen Stabilität vermittelt wird und dass diese Stabilität beispielsweise auch mit entsprechenden Förderkonzepten gewährleistet werden kann.

Welchen Veränderungsdruck spürt der Kulturbereich also ganz konkret? Dies zu hinterfragen ist zentral. Eine mögliche Antwort ist, dass viele der Institutionen und ihrer Strukturen aus einer anderen Ära stammen, die von hegemonialen Ideen geprägt ist. Konfliktreiche hierarchische Strukturen treffen heute aber auf eine zunehmende Nachfrageignoranz des Kulturpublikums. Stabilität sieht anders aus!

Die Rolle der Kulturpolitik im Agilitätstheater

Es wäre wohlfeil zu sagen, dass Kulturpolitik die konzeptionellen Grundlagen für die Transformation schaffen muss. Dafür müsste Veränderung mit all ihren Auswirkungen schon zu Ende gedacht und mit entsprechenden Erfahrungen belegt sein. Und: Auch die Kulturpolitik bleibt ihrerseits von solchen Prozessen des Um- und Neudenkens nicht unberührt und muss sich überlegen, welche Schwerpunkte sie in den Kultureinrichtungen zukünftig unterstützen sollte. Ein Anfang ist daher gemacht, wenn der Diskurs beispielsweise auch über neue Ziele der Kulturförderung geführt werden kann. Als Nächstes müssen inhaltliche Programme folgen. Was es dringend braucht, sind Multiplikator*innen, die Akteur*innen aus Kulturverwaltung und Kulturinstitutionen durch unsichere Zeiten navigieren könnten und ihre Erfahrungen mit innovativen Ansätzen weitergeben.

Dabei gilt: Alles ist eine Frage der Haltung, und erst, wenn man das Weshalb genügend besprochen hat, kann man sich an das Wie wagen. Ein wesentlicher Aspekt ist eine positive Besetzung des Netzwerkgedankens, der ja ureigentlich auch ein Teil agilen Arbeitens ist. Wissen über erprobte Methoden sollte größeren Kreisen zur Verfügung gestellt, Talente identifiziert und in kollaborativen Prozessen eingebunden werden. Ein genauso wichtiger Punkt ist aber auch die Bereitschaft, Fehler zu tolerieren beziehungsweise Ambiguitäten auszuhalten. Denn wenn man zu neuen Formen der Arbeit auch im Kulturbereich kommen möchte, muss man unweigerlich unbekanntes Terrain betreten und Grenzen austesten.

Agile Prozesse mögen bisweilen durch schnelle Entscheidungen und mutige Experimente geprägt sein, sie dürfen jedoch nicht als blinder Aktionismus missverstanden werden. Das Bedürfnis vieler Menschen – besonders im Kulturbereich – nach Qualitätssicherung und nachvollziehbaren Identitäten darf nicht unterschätzt werden. Wenn die Rollen neu definiert werden, müssen Hierarchien abgebaut und Regeln über Bord geworfen werden, sind Instanzen gefragt, die das Denken und Handeln einordnen und bestenfalls auch kritisch diskutieren können.

Kochen ohne Rezept

Im Kulturbereich gibt es bis dato wenige bis gar keine Konzepte, einen Betrieb auf agiles Arbeiten umzustellen. Paul Spies hat dies am Stadtmuseum Berlin ausprobiert, indem er offene Teamstrukturen und agiles Projektmanagement für einen partizipativen Museumsansatz eingeführt hat. Sicher ist es schwierig, Anleitungen zu liefern, die für andere eins zu eins umsetzbar sind. Es gilt, einen individuellen Standpunkt zu definieren, an dem agile Prozesse gestartet werden. Dies geht in Arbeitsprozessen (z. B. mehr Meetings, aber kürzere, nachhaltiges Arbeitstempo, Kollaborationstools nutzen, Design-Thinking-Methoden) oder im Empowerment von Mitarbeiter*innen (abteilungsübergreifende Teams, Meilensteine feiern, neue Kollaborationen suchen, Talente identifizieren, Inhalte statt Zuständigkeiten), aber auch durch das verstärkte Denken in und Arbeiten mit Zielgruppen.

Netzwerk Agile Kultur

Seit gut einem Jahr haben sich verschiedene kulturelle Akteur*innen in einem Netzwerk Agile Kultur  zusammengefunden, das in wöchentlichen (Online-)Meetings Input und Diskussion zum Thema Agilität bietet. Am 16.12.2020 fand als Jahresabschlussveranstaltung des Netzwerkes Agile Kultur in Zusammenarbeit mit der Kulturpolitischen Gesellschaft ein digitaler Thinktank der besonderen Art statt. Dort wurde beispielsweise diskutiert, welche Voraussetzungen für eine agile Kulturentwicklung gegeben sein müssen (u. a. neue Lernkultur etablieren, Weiterbildungsbedarfe erfassen, Förder-Thinktank, regelmäßige Reflexion, Innovationsraum, Vertrauen, Empathie). Gefragt wurde nach ganz konkreten Schritten, um das Gewollte zu erreichen (z. B. sich vom Anspruch auf Vollständigkeit trennen, monopolisierte Macht abgeben, Rollen zu Prozessen umgestalten und neu verteilen), und nach Möglichkeiten, das Erreichte nicht verpuffen zu lassen (Dreiklang: Erproben – Prüfen – Anpassen, Personalentwicklung, Abbau von Barrieren).

Offen für den Diskurs

Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Thema Agilität bereits gemacht? Sind Sie eher skeptisch, was die Wirksamkeit solcher Ansätze betrifft? Denken Sie, dass sich der Kulturbereich hier Anregungen holen kann, aber viel eher zu einem eigenen Weg kommen muss? Ihre Meinung interessiert uns und wir freuen uns über Feedback per Mail oder in den sozialen Netzwerken unter dem Hashtag #AgileKultur.


Autorin

Foto: Sarah Bauer

Anke von Heyl M.A. ist Kunsthistorikerin und war unter anderem Redaktionsleiterin (teNeues Verlag) und wissenschaftliche Mitarbeiterin (Museumsdienst Köln). Seit 2002 arbeitet sie für Museen und Kultureinrichtungen deutschlandweit und betreibt ein erfolgreiches Kulturblog. Sie hat sich auf die Besucherorientierung spezialisiert und ist Social-Media-Expertin. Ihre Schwerpunkte sind partizipative Formate und digitale Wege ins Museum. Anke von Heyl war bis Ende 2020 als Beraterin für die Kulturentwicklungsplanung der Landeshauptstadt Wiesbaden tätig und moderiert die wöchentlichen Web-Talks der Kulturpolitischen Akademie.

Eine neue Sprache

12. Februar 2021

Neu.
Relevant.
UND divers.

Das sind Adjektive, derer sich die Kulturpraxis gerne bedient. Ob derartige Beschreibungen zutreffen und wenn ja, aus wessen Perspektive, das sind Fragen, die ich mir beim Blick auf die deutschsprachige und größtenteils weiße Kunst- und Kulturszene regelmäßig stelle.

Neu? Vielleicht. Relevant – für wen? Divers – weshalb/inwiefern?

Dass ein Transformationsbedarf besteht, um Kunst und Kultur für verschiedene Gruppen relevant und zugänglich zu gestalten, steht für mich außer Frage. Die Frage danach, wie sich eine kulturpolitische Neuausrichtung gestalten ließe, bedarf allerdings einer eingehenden Auseinandersetzung. Meine Einschätzung dazu, was konkret getan werden muss, damit marginalisierte Gruppen in der Kulturpraxis sichtbarer und hörbarer werden, ist keine, die nicht schon viele betroffene Menschen vor mir vorgenommen hätten. Ich werde mich im Verlauf dieses Textes daran versuchen, über eine Handlungsanleitung hinaus meine Utopie für diese Freiräume zu formulieren.

Auf den ersten Blick mag es scheinen, als seien Utopien leicht zu formulieren, jedoch wenig zielführend. Aus meiner Perspektive ist es so, dass wir auch in der Kunst nichts anderes tun: Wir schaffen Möglichkeitsräume, um damit Perspektiven auf eine Welt zu öffnen, die zu gestalten immer wieder neu möglich ist. Wenn ich hier also meine Utopie formuliere, dann, weil ich davon überzeugt bin, dass sich innerhalb der schriftlichen Auseinandersetzung schon Strukturen und Arbeitsansätze etablieren lassen, die in der Praxis wünschenswert wären.


Kurz: Die Zukunft lässt sich beeinflussen, indem mensch die Utopie jetzt zu denken und zu formulieren vermag. Damit verlangt die Zukunft der Gegenwart stets viel ab.

Möglichkeitsräume zu imaginieren hat für mich also immer etwas mit Mut zu tun, nie mit Naivität. Mut in der Gegenwart, an den »äußersten Rand« (May Ayim, 1990, S. 92) des Möglichen zu gehen, um damit die bestmögliche Zukunft greifbar werden zu lassen. Diesen Mut sollten vor allem jene, die das Privileg haben, diese Räume und Arbeitswelten neu zu definieren, finden.

Mein Blick auf diesen Themenkomplex ist erneut ein privilegierter. Beinahe bin ich geneigt, mich als zu deutsch, zu reich, zu heteronormativ einzuordnen, um mich an diese Fragestellung zu wagen. Beinahe. Denn natürlich liegen auch für mich als junge Schwarze Frau, die sich in entsprechenden Kontexten bewegt, Betroffenheiten und Erfahrungswerte vor.

Einen meiner Erfahrungswerte hat Nayyirah Waheed bereits wie folgt auf den Punkt gebracht:

»in your arrogance
you presume that i want your
skinny language.
that my mouth is building
a room for
it
in the back of my throat. it is not.« (Nayyirah Waheed, salt., 2013)

In eurer Arroganz nehmt ihr an, dass ich eure dünne Sprache möchte. Dass mein Mund einen Raum dafür in seinem Rachen bildet. Er tut es nicht.


Dieses Zitat der afro-amerikanischen Poetin fasst meine persönlichen Erfahrungen im Kulturbetrieb perfekt zusammen. Es geht in diesem Zitat zwar ganz konkret um alltägliche Sprache – doch lässt es sich auch gut auf die Sprache, den Diskurs übertragen, auf den sich der deutschsprachige Kulturbetrieb geeinigt zu haben scheint.


Der normative Kulturbegriff ist innerhalb dieses Diskurses scheinbar immer noch Teil des Selbstverständnisses.

Das geltende Verständnis davon, was Kunst ist, wer sie wie in welchem Rahmen schafft und wer eben auch nicht, fußt auf der Annahme, es gäbe nur einen Diskurs, eine Sprache in der zu erschaffen ›richtige Kunst‹ möglich sei. Zu erwarten, Menschen mit verschiedensten Hintergründen, Realitäten und Betroffenheiten seien daran interessiert, sich in einem von einer homogenen Masse geformten Raum zu bewegen, den dort geltenden Regeln zu folgen und sich nach ihnen bewerten zu lassen, ist tatsächlich arrogant.

Davon auszugehen, dass sich nicht-weiße Künstler*innen an ein westliches Kunstverständnis anpassen und ihre Perspektiven dankbar in ein Narrativ zwängen, das sie in eindimensionaler Weise zeigt, ist absurd.

Zu glauben, dass die Aneignung von Worten, Praktiken und Ästhetik mit Freude aufgenommen und als Annäherung und respektvolle Begegnung wahrgenommen wird, ist sprechend. Es ist sprechend für das neokoloniale Gedankengut, dass viele weiße Menschen auch im Kulturbetrieb verinnerlicht haben.


Doch wie ist dem beizukommen?

Ich könnte jetzt vorschlagen, andere Gruppen in die Räume einzuladen, die staatlich gefördert werden, innerhalb derer mensch Kunst schaffen kann. Das sei wichtig, da Kunst sich immer denjenigen öffnen sollte, die eines Schutzraumes bedürfen.

Ich könnte an dieser Stelle außerdem formulieren, dass es unabdingbar ist, neue Stoffe auf die Spielpläne zu setzen, damit sich endlich auch die Geschichte(n) migrantischer Menschen auf den Bühnen wiederfinden.

Ich könnte fordern, die Leitungsebenen divers zu besetzen und die Regie- und Dramaturgie-Teams sowieso, damit die Machtgefälle endlich schrumpfen.
Ich könnte verlangen, dass es Workshops geben muss.
Und Expert*innen an jeder Kultureinrichtung, die dafür bezahlt werden, dass sie die Strukturen, auf denen die Diskriminierung(en) fußen, sichtbar machen und an ihrer Auflösung arbeiten. Sodass dadurch eine ganz direkte Umverteilung der (finanziellen) Ressourcen stattfinden könnte.

Dass für solche Umverteilungsprozesse zusätzliche Stellen geschaffen und besetzt! werden müssen, ergibt sich daraus ebenfalls.

Ich könnte auch formulieren, dass ich von Ausbildungsstätten erwarte, dass sie es sich zur Aufgabe machen, marginalisierende Strukturen zu erkennen und ihnen in Form von Quoten entgegenzuwirken.

Dass es IMMER mehrsprachige Angebote geben muss, dass sich auch künstlerische Studiengänge darum bemühen müssen, zugänglich für Menschen mit Fluchtgeschichte zu sein, dass Klassismus und intersektionale Betroffenheit immer eine Rolle dabei spielen, wie zugänglich (Ausbildungs-)Orte sind und deshalb stets beides mitgedacht werden muss; dass kulturelle Einrichtungen auch finanziell zugänglich sein müssen (und dass das nicht den Wert der Kunst mindert!); dass ein ermäßigtes Studierendenticket keine Lösung ist, sondern erneut Klassismus reproduziert; dass, dass, dass…


Das alles wurde aber schon oft formuliert.

Für mich ergibt sich: Eine Gesellschaft, die sich so zögerlich mit der eigenen Kolonialgeschichte und dem daraus resultierenden Rassismus auseinandersetzt, hat kein übergroßes Interesse an derartigen Veränderungen. Kulturpolitische Akteur*innen und Institutionen, die sich bezüglich der Rückgabe von Raubkunst so zurückhaltend oder gar unwillig zeigen, sind keine Instanz, der ich eine tatsächliche Auseinandersetzung zutraue.
Dennoch hoffe ich genau darauf.


Ich hoffe – oder bestehe auf meine Utopie, denn:

Ich werde keinen Raum mehr für euren dünnen Kunstbegriff in meinem Rachen oder in meinem Geist bilden.
Ich fordere ein Neudenken dessen, was Kunst ist. Eine neue Definition, die von all denen mitgestaltet wird, die sich vorher außerhalb des Rahmens bewegen mussten. Die sogenannten »Problemkinder«, die »Migrant*innen«, die »Armen«, die Nicht-binären und die Transpersonen, die, die be_hindert werden, die Rom*nja und Sinti*zze.

Weiße, bürgerliche, intellektuelle Kulturschaffende: Hört auf, den Raum zu vereinnahmen. Und dann gütig eine Nische zur Verfügung zu stellen, als gelte es, ›Entwicklungshilfe‹ zu leisten. UND als wüsstet ihr nicht, dass sich Kunst eben nicht in zugewiesenen Nischen schaffen lässt. Künstler*innen wissen doch am besten, dass sich Kunst Bahn brechen muss, Raum braucht, sich nie endgültig definieren lässt, sondern mäandert und immer wieder neu sein wird.

Mehr diverse Menschen in die bestehenden Räume einzuladen, kann helfen. Ihnen Raum zu geben, sie dort mit einzubeziehen, wo Entscheidungen getroffen werden und ihnen die Möglichkeit zu geben, Einfluss zu nehmen, ist sicher ein Teil der Lösung.

Wichtiger als all das ist jedoch das Eingeständnis, dass die Deutungshoheit darüber, was Kunst ist, sich nicht weiterhin auf eine privilegierte Klasse beschränken darf.

Da wo entschieden wird, welches Narrativ dominiert, da wo entschieden wird, wer diese Deutungshoheit innehat und da, wo die Entscheidung fällt, eine höchst subjektive, historisch gewachsene Wahrnehmung zum Maßstäbe dessen werden zu lassen, was zu bewerten niemals objektiv möglich ist, da stoßen wir auf die Wurzel des Problems.
Da stoßen wir auf White Supremacy.
Meine ganz banale Utopie ist also die Überwindung dieses Überlegenheitsgefühls. Die Dekolonialisierung des Geistes mit allem, was dazugehört.


Relevante Kunst entsteht da, wo Menschen Dinge verarbeiten, den Schmerz, die Wut, die Liebe mit Inbrunst zu etwas formen. An den Gefühlen und Erfahrungen herummeißeln.

Dieser Vorgang begegnet mir so viel mehr da, wo Menschen tatsächlich betroffen sind.

Der einzig schlüssige Weg, um der Kulturpraxis nicht ihre Relevanz abhandenkommen zu lassen, ist dorthin zu gehen, wo die Kunst passiert, die so oft übersehen wird. Und dort ein Theater zu bauen, dass den Schauspieler*innen und dem Schauspiel entspricht. Eine Konzerthalle für die Musik, der so oft die Musikalität aberkannt wird, die angeeignet, vereinnahmt und ausgebeutet wurde. Eine Fläche für die Performance, die für viele weiße Menschen nicht lesbar erscheint, bedient sie sich doch anderer Codes, einer anderen Sprache.

Also: Lernt eine neue Sprache.
Jede neue Sprache eröffnete ja bekanntlich eine neue Welt. Lernt eine neue Sprache. Lauscht aufmerksam auf die neuen Laute, habt Geduld, lasst euch Zeit zu erkennen, dass die neue Sprache nur neu für euch und mindestens genauso komplex ist, wie die, derer ihr euch sonst bedient.

Und verlernt die Arroganz, zu glauben, marginalisierte Menschen würden weiterhin Raum für euer Kunstverständnis und eure Begrifflichkeiten bilden.
Das tun wir nicht.
Unsere Sprache. Unsere Welt. Unsere Kunst.
Deutungsräume für alle.
Deutungshoheit für niemanden.


Autorin

Foto: Agnes Nagy

Sarah Elisabeth Braun, (geb. 1997)
ist eine afro-deutsche Künstlerin und Aktivistin.
Sarah ist Mitbegründerin des BIPoC-Netzwerks und seit 2018 Regieassistentin am Theater Bonn.
Sie ist in verschiedenen politischen und /oder kulturellen Strukturen aktiv und arbeitet dort zu Rassismus, Klassismus, Feminismus und Intersektionalität. Der Fokus ihrer Arbeit in künstlerischen und in politischen Kontexten liegt darauf, migrantische und Schwarze Perspektiven sichtbar zu machen und zu stärken.

KUNST ODER KULTUR – EINSAM ODER GEMEINSAM

9. Februar 2021

Kunst ist ein Testfall unserer Kultur.
Kultur ermöglicht Verbreitung und Dauer der Künste.

Kulturpolitische Debatten bedürfen sinnvoller Unterscheidungen von Kunst und Kultur.

Auf der Website von kulturrat.de lese ich Kunst und Kultur als Lebensnerv. Stellungnahme des Deutschen Kulturrates zur Kulturfinanzierung vom 08.10.2010. Fast zehn Jahre vor Anbruch des Coronazeitalters beginnt der Text mit den Zeilen: »Kunst und Kultur haben eine herausragende Bedeutung für die Gesellschaft. Sie spiegeln gesellschaftliche Debatten wider, sie bieten Reibungsflächen zur Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, sie weisen über das alltägliche Geschehen hinaus.«

Kunst und Kultur werden hier gleichermaßen auf Vergangenheit mit überlieferten Werten und auf Visionen einer künftigen Gesellschaft bezogen. Kurz darauf folgt der Satz: »In einer multiethnischen Gesellschaft gewinnen Kunst, Kultur und kulturelle Bildung eine zunehmende Bedeutung, um Integration zu befördern und die positiven Elemente kultureller Vielfalt herauszustellen.« Die Bereitstellung der kulturellen Infrastruktur für Bund, Länder und Gemeinden möchte der Deutsche Kulturrat sichergestellt wissen.

Angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008–2009 mit sinkenden Steuereinnahmen kommt man zum Schluss: »Insgesamt ist zu befürchten, dass die Schließung von Kultureinrichtungen und ein weiterer Beschäftigungsabbau im Kulturbereich drohen.«

Außerdem heißt es, das »Staatsziel Kultur muss im Grundgesetz verankert werden«.

Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern, wird schon viele Jahrzehnte immer wieder diskutiert. Auch Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien, bekannte sich zu dieser Zielvorgabe. Nachzulesen beispielsweise in der Wochenzeitung Das Parlament vom 15.10.2018: »Es wäre eine Selbstverpflichtung des Staates, die die fundamentale Bedeutung der Kultur für das Gemeinwesen betont.«

Auf kulturrat.de lese ich den Text Mut zur Zukunft. Die Kultur in der Coronakrise von Gerhart R. Baum vom 30.11.2020. Er beginnt mit einer aktuellen Lockdown-geprägten Essenz: »Kunst ist kein beliebiges Freizeitvergnügen.« Kurz darauf der Satz: »Kultur ist Lebenselixier der Demokratie.« Was ich hierbei immer wieder vermisse, ist eine zeitgemäße Unterscheidung zwischen Kunst und Kultur. Was versteht man unter Kunst und was unter dem Begriff Kultur? Macht es wirklich Sinn, beides in einem Atemzug nebeneinanderzustellen oder böte sich hier eine fruchtbare Chance der Differenzierung?

Noch einmal sei Gerhart R. Baum ein paar Zeilen weiter zitiert: »Kunst und Kultur geben Orientierung, sind anstößig und stoßen an, sind zukunftsorientiert und weltoffen. Gustave Flaubert hat es einmal wunderbar auf den Punkt gebracht mit den Worten, Kultur sei eine subventionierte Revolte.«

Kunst und Kultur werden oft völlig gleichrangig in Anspruch genommen und eine möglicherweise bedeutende Differenz mit dem schönen Zitat von Gustave Flaubert verdeckt. Meiner Meinung nach sollte sich eine Revolte mit ästhetischen Mitteln auf die Künste beziehen, nicht aber auf unsere kulturellen Rahmenbedingungen. Kunst darf überraschen, irritieren und als Testfall mit ästhetischen Mitteln Kultur und Kulturen in Frage stellen.

Wäre es nicht sinnvoll, unter Kunst beziehungsweise den Künsten das Differenzierende, das Singuläre, das Individuelle und das möglicherweise innovative Moment zu begreifen?

Etwas, das auch scheitern darf. Wäre es nicht ebenso sinnvoll, unter Kultur(en) etwas die Gesellschaft Verbindendes zu verstehen, zumindest im Sinne einer gemeinsam funktionierenden Streit- und Debattenkultur? Ich denke an eine pluralistische Gemeinsamkeit kultureller Rahmenbedingungen und Erfahrungen. Dann wäre es auch kein Widerspruch, wenn Kultur Menschen in Krisenzeiten und im Alltag Trost spendet und einzelne Äußerungen der Kunst verstörend und irritierend daherkommen – als Probehandeln oder als Interventionen innerhalb der Gesellschaft mit ästhetischen Mitteln. Der Prüfstand für Dauer wäre unsere Kultur, die sich wiederum in einem stetigen Wandel befindet!

Auch die Spielfelder der Dynamiken von Kunst und Kultur sollten meiner Meinung nach deutlicher unterschieden werden. In der Generaldebatte im Bundestag am 30.09.2020 äußerte Monika Grütters: »Das ist, finde ich, das Mindeste, das wir Künstlerinnen und Künstlern schuldig sind; denn Kultur ist keine Delikatesse für Feinschmecker, sondern Brot für alle. (…) Kunst, Kultur und Medien sind unverzichtbar für Verständigung.« Ich frage mich nun: Wäre es nicht eine große Chance zur besseren Verständigung und Gemeinschaftsfindung, wenn man verbindende kulturelle Elemente zum Zwecke stabilisierender Rahmenbedingungen und künstlerische Mittel sowie Strategien individueller Äußerungen benennbar unterscheidet?

Kurze Zwischenbemerkung: Abgesehen von der Tatsache, dass hinreichende Absicherungen von Soloselbstständigen in Krisenzeiten wie der Coronapandemie fehlen, sollte nicht vergessen werden, dass Künstler*innen wie viele andere Soloselbstständige nicht nur sehr unterschiedlich hohe Betriebsausgaben haben, sondern auch für ihren Lebensunterhalt aufkommen müssen. Es bleibt zusätzlich zu bedenken, dass ein Vermögen beispielsweise von 60.000 Euro oftmals nicht ausreicht, um Einkommensschwankungen auszugleichen, unvorhersehbare Rechnungen zu bezahlen und gegebenenfalls auch noch investitionsfähig zu bleiben.

Das Verhältnis der Kulturpolitik zu den Künsten bzw. Künstler*innen wird durch die Anforderungen einer offenen Gesellschaft mit ständig sich verändernder Relevanz zu bewerten sein.

Von wem stammt eigentlich die Idee, Künste und Künstler*innen dem Freizeitsektor zuzuordnen und nicht der Bildung?
Was erwartet unsere plurale Gesellschaft, die sich in ständigem Strukturwandel befindet, von den Künsten?
Sucht sie einen verbindlichen Halt, um ihre eigenen fortgeschrittenen Individualisierungstendenzen auszugleichen?

Haben einsame Lockdown-Erfahrungen im Coronazeitalter uns der separierenden, fortgeschrittenen Singularisierung überdrüssig gemacht? Entsteht aus dieser Monologisierung eine Dialogarmut? Sprechen die Künste für sich weiter ausdifferenzierende Identitäten an? Oder helfen sie uns wiederzuvereinen im Rahmen einer inklusiven demokratischen Gesellschaftsordnung? Sichert Kulturpolitik monadische Freiheiten einst autonomieverhafteter selbstbestimmter Künstler*innenträume – oder soll sie Steuervorteile für einige äußerst erfolgreiche Monopolisten eines übersättigten Kunstbetriebs verschaffen?

Nach welchen Kriterien werden Mittel verteilt, Stipendien vergeben? Wie viele Künstler*innen wollen wir? Regelt sich das über Angebot und Nachfrage oder nach staatlichen Förderungen? Sollten wir eine Inzidenzrate für Künstler*innen pro 100.000 Einwohner festlegen und uns dann ihren Angeboten und Einflüssen bereitwillig öffnen?

Wenn wir uns fragen, wie wir das Verhältnis von Kulturpolitik und den Künsten beziehungsweise Künstler*innen zeitgemäß anpassen und weiterentwickeln wollen, dann sollten wir uns auch fragen: Was wollen wir von den Künsten? Diese Frage stellen wir analog auch täglich in Bezug auf die Wissenschaften und den Sport. Warum sollten wir Zeit mit etwas verbringen und Geld ausgeben, wenn wir nicht wissen, was wir davon haben? Wenn jetzt die Antwort lautet: Wir möchten unsere Kulturpolitik von künstlerischen Angeboten überraschen lassen, dann dreht sich die Geschichte im Kreis. Das verstünde kein echter Sportsfreund.

Autor

Foto: R. Schappert

Dr. Roland Schappert

arbeitet als Künstler und Autor, erforscht die Bildwerdung der Schrift zwischen Poesie und Politik und veröffentlicht Essays über einen zeitgenössischen Kunstbegriff. 2005 erhielt er zusammen mit Michael Ebmeyer den Videonale-Preis 10 im Kunstmuseum Bonn. Ausstellungen und Interventionen im In- und Ausland. 2007–2010 Gastprofessur für Malerei an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Veröffentlichungen, Vorträge und Lehre über Aspekte eines zeitgenössischen Kunstbegriffs, Kunst & Wirtschaft. Zuletzt erschienen: Unsichtbarkeit Bildender Künstler*innen, Essay, Kunstforum International, Bd. 272, 2020; YOU, Künstlerbuch, Salon Verlag, 2020; Du fällst mir leicht, Gedichte, parasitenpresse, 2020.

Falsche Kultur-Reflexe.
Über die Pflicht Opferdiskurse und Neid-Debatten zu vermeiden

5. Februar 2021

In der vergangenen Woche jährte sich das Bekanntwerden der ersten Corona-Infektion in Deutschland. Seitdem hat die Pandemie unseren Alltag völlig verändert. Nach einem stillen Advent, einem Jahr der ausgefallenen Beethoven-Sinfonien im Jubiläumsjahr und komplett gestrichener Weihnachtskonzerte sind wir mit einer historisch nie dagewesenen Sang- und Klanglosigkeit in das neue Jahr gestartet. Besonders im Musikbereich, der durch die Übertragung von Aerosolen weiterhin als besonders kritisch eingestuft wird, sind neben vielen Profi-Musiker*innen und -Ensembles gerade auch zahlreiche Amateurmusizierende besonders hart betroffen.

Die Amateurmusik wird im kulturpolitischen Diskurs leider immer noch viel zu sehr belächelt. Dabei gibt es in Deutschland circa 14 Millionen Menschen, die in ihrer Freizeit musizieren. Über 100.000 Amateurmusik-Ensembles im instrumentalen und vokalen Bereich sind durch die Corona-Pandemie in Mitleidenschaft gezogen – Chöre und Orchester, die mit ihren Konzerten nicht nur zu Weihnachten ein ganz entscheidendes Fundament der deutschen Musiklandschaft bilden.

Zahlreiche Musizierende haben in den letzten Monaten Programme geprobt, die sie nun nicht singen oder spielen können. Die komplette Weihnachtszeit – sonst musikalische wie ökonomische Hochsaison der vokalen und instrumentalen Amateurmusikszene – verstummt. Mehr noch: Bereits jetzt ist absehbar, dass die momentane Sang- und Klanglosigkeit eine nachhaltige Stille produzieren wird. Ein schnelles Hochfahren der Konzerttätigkeit wird es nach Lockerung der Corona-Maßnahmen nicht einfach geben, da Musikaufführungen im Profi- wie im Amateurbereich das Ergebnis eines intensiven und kontinuierlichen Probenprozesses über Wochen hinweg sind. Die Auswirkungen der Corona-Krise werden alle Chöre und Orchester daher bis weit in das neue Jahr hinein spüren. Sie werden zu einem deutlichen Rückgang der Konzertangebote und der außerschulischen musikalischen Jugendbildung führen.

1. Verärgerung, Enttäuschung und Frustration aber bitte nicht persönlich nehmen

Die immer wieder verschärfte Unterbrechung der Proben- und Konzerttätigkeit im Amateurmusikbereich hat schon in den vergangenen Monaten viele Menschen demoralisiert. Vielen fehlt nicht nur die Kraft der Musik, ihre Hoffnung spendende Energie, die Freude, die sie einem schenkt und die gerade jetzt in der Krise so wichtig wäre. Viele Chöre und Orchester verstummen in Sorge um den Nachwuchs, fragen sich, ob es nach der Krise überhaupt weitergehen wird. Verärgerung und Sorgen vergrößern sich besonders dann, wenn die Erfahrung von Ungerechtigkeit dazukommt. Warum werden andere gesellschaftliche Bereiche als systemrelevanter angesehen als die eigene kulturelle Praxis? Warum wird unser Wert nicht anerkannt?

Haben wir ein Kommunikationsproblem? Ist die Krise auch die Chance jetzt erneut zu erklären, warum wir so wichtig sind? Oder sind diese Fragen zynisch bis nachrangig in Anbetracht des Überlebens vieler Solo-Selbständiger oder der berechtigten Sorge vieler älterer Menschen, ob wir jemals wieder so unbeschwert zusammen musizieren können?

2. Die Wertdebatte – Zur Bedeutung der Amateurmusik außerhalb der Freizeit

Gemeinsames Musizieren verbindet Bürger*innen und Kulturen; es fördert insbesondere in ländlichen Räumen den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dieser Dialog und die gegenseitige Verständigung sind die Fundamente einer starken Zivilgesellschaft.

Erst Ende November hat der Bundestag das Infektionsschutzgesetz geändert und dabei auch die besondere Bedeutung der Kunst- und Kultureinrichtungen für die demokratische Gesellschaft betont. Vorangegangen war in der politischen Begründung der Maßnahmen einige Wochen zuvor eine höchst unsensible Gleichsetzung der Kultur mit bloßem Freizeitvergnügen.

Aber auch das gemeinschaftliche Musizieren in Chören und Orchestern, das in Deutschland eine lange Tradition hat, kann man nicht nur als Freizeitgestaltung, Vergnügen oder Unterhaltung abtun, wie es in der ersten fatalen Begründung neuerlicher Corona-Schutzmaßnahmen im November geschah.

Wie im Fall fehlender Konzerte zur Weihnachtszeit wird uns die Bedeutung der Kultur aktuell besonders durch ihr Fehlen spürbar. Sie wäre jetzt genau jene Kraftquelle, die wir bräuchten, um Zuflucht und Trost zu finden, neue Diskussionsmöglichkeiten zur Verarbeitung der Alltagsbelastungen, gemeinschaftliche Foren des Austauschs, Reflexions- und Vergewisserungsmöglichkeiten.

Der Wert der Amateurmusik wird daher dort offenbar, wo Aspekte der Freizeitgestaltung und des Vergnügens, die ohne Frage auch eine Rolle spielen sollen und dürfen, zurücktreten, um der zivilgesellschaftlichen Bedeutung gemeinsamen Probens Platz zu machen. Amateurmusik garantiert breiten Schichten die aktive Teilhabe und Teilnahme an Kultur. Darüber hinaus erbringt sie eine Menge von Leistungen, die in der Krise nicht einfach beiseitegeschoben werden können.

Die Amateurmusik stiftet gerade auch fernab der großen Metropolen generationsübergreifende Bildungsorte. Menschen, die sich regelmäßig treffen, um gemeinsam an einem Musikstück, der Einstudierung einer Melodie oder der Erarbeitung und Planung eines ganzen Konzerts zu arbeiten, stehen im Austausch, sie diskutieren, stimmen sich ab, verwerfen, favorisieren und beleben damit an zahlreichen Orten dieses Landes, was die Politik sonst gern als gesellschaftlichen Zusammenhalt preist. Als Orte der Selbsterfahrung und kulturellen Partizipation ermöglichen Gemeinden und Musikvereine ein durch die Kultur gestütztes Forum zwischenmenschlichen Austauschs. Hier kommen Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit zusammen, werden Teil eines künstlerischen und immer auch demokratischen Aushandlungsprozesses. Im besten Sinne erzeugt die Diversität der Menschen, ihre Mitsprache und die Polyphonie ihrer pluralen Stimmen hier zugleich eine politische Praxis, die überaus schützenswert erscheint.

Leider wird in den aktuellen Krisenzeiten viel zu oft ausgeblendet, dass kulturelle Praktiken wie das Amateurmusizieren auch diese Art von Räumen der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung schaffen. Diskussionen, die unter dem Stichwort der »Systemrelevanz« geführt werden, um eine Priorisierung einzelner gesellschaftlicher Bereiche vorzunehmen, übersehen den außergewöhnlichen Beitrag solch scheinbar »entbehrlicher« kultureller Betätigungen. Letztlich bilden sie allerdings das Fundament unseres bürgerschaftlichen Gemeinwesens schlechthin.

Zum einen ist es also richtig, in der aktuellen Corona-Pandemie den eigenen Stellenwert zu betonen. Umso mehr, je deutlicher dem kulturellen Bereich in der aktuellen Krise die Wertschätzung, die sich allzu oft nur an ökonomischen Parametern orientiert, entzogen wird. Dabei bräuchte es gerade jetzt von der Politik eine ausdrückliche Bejahung und Wertschätzung der Kultur, insbesondere für den Beitrag, Kontakte weiter zu minimieren und der dadurch demonstrierten Unterstützung bei der Bewältigung der Krise.

Wo diese ausbleibt und mit den aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie leichtfertig eine Degradierung des gesellschaftspolitischen Auftrags und Wertes der Kultur in Kauf genommen wird, werden sich die Fronten weiter verhärten.

Dabei stellt auch innerhalb der Amateurmusik niemand die Maßnahmen grundsätzlich in Frage: Alle Kulturschaffenden wissen, dass auch wir in dieser schwierigen Situation Verantwortung dafür tragen, wie wir durch diese Krise kommen. Zum jetzigen Zeitpunkt kann die Notwendigkeit von Kontaktminimierungen nicht mehr durch existierende Hygienekonzepte wegdiskutiert werden. Um exponentiell steigende Infektionszahlen zu verhindern, genügen die bisher erarbeiteten Schutzmaßnahmen nicht mehr aus, die auch viele Chor- und Orchestermusizierende in den vergangenen Monaten erarbeitet hatten.

3. Krise als Chance?

Die Verlängerung und Verschärfung des zweiten Lockdowns über den Monat November hinaus trifft uns alle gleichermaßen hart. Wir müssen uns zurückziehen, vereinzeln, sollen liebe Menschen gerade nicht mehr treffen. Mit dem Wegfall gemeinsamer Begegnungen verstummt vielerorts zwangsweise auch das menschliche Grundbedürfnis des Musizierens.

Aber sind die gegenwärtigen Musizier-Verbote tatsächlich in der Lage, unsere weltweit einmalige Musik-Vielfalt in Deutschland zu bedrohen? Steht die herausragende und zugleich besonders schützenswerte Bedeutung unseres immateriellen Kulturerbes, zu welchem die Chormusik in deutschen Amateurchören (seit 2014) und Instrumentales Laien- und Amateurmusizieren (seit 2016) gehören, wirklich in Abrede?

Es ist berechtigt, große Geschütze aufzufahren und mahnende Worte zu wählen. Dennoch habe ich im Gespräch mit Kulturpolitiker*innen gerade die Erfahrung gemacht, dass dort der Ernst der Lage absolut verstanden wird. Wir sollten uns die Kraft sparen, Menschen von etwas überzeugen zu wollen, die längst zu unseren größten Unterstützer*innen zählen.

Was wir derzeitig erleben ist eine wichtige und notwendige Wertdebatte über die gesellschaftliche Bedeutung der Kultur im Allgemeinen. Es ist zu begrüßen, dass neu über den eigenen gesellschaftlichen Beitrag vieler Kulturschaffender und ihrer besonderen Sparten nachgedacht wird. Dass diese Diskussion nun breiter gefasst ist und noch mehr Menschen als die üblichen Verdächtigen erreicht, ist weiterhin wichtig. Denn eine Quintessenz dieser zum Teil sehr emotional geführten Debatte ist dabei doch auch die Erkenntnis eines kommunikativen Problems, das uns selbst betrifft. Die Kulturschaffenden und Kreativen dürfen gern öfter klarer und deutlicher erklären, welchen wichtigen Beitrag sie leisten. Drei Dinge helfen dabei jedoch nicht:

Erstens auf die eigene Unverzichtbarkeit zu pochen in Anbetracht einer absoluten Ausnahme-Situation, die aus Solidarität von anderen Mitmenschen eher Rücksichtnahme als lautes Poltern bräuchte.

Zweitens immer nur neidvoll auf die anderen zu blicken, die mehr bekommen, andere Privilegien genießen oder von den Einschränkungen weniger hart getroffen sind.

Drittens es sich zu einfach zu machen, und folglich nur als Opfer dieser Ausnahmesituation zu gerieren, anstatt jene Herausforderungen zu fokussieren, die auch vor der Krise schon da waren und die jetzt nur eklatanter die eigenen Versäumnisse offenbaren.

In den stillen Räumen der Sang- und Klanglosigkeit ist also viel Platz für neue Ideen. Anstatt sich darüber aufzuregen, warum der Einzelhandel lange offenbleiben durfte, der Kirchenchor aber nicht extra gefördert wird, gilt es Lösungen auf grundsätzliche Zukunftsfragen zu finden. Speziell für den Bereich der Amateurmusik ergeben sich wichtige Fragen im Bereich der Nachwuchsförderung, der Digitalisierung, des Engagements und Ehrenamts.

Die Corona-Krise setzt den Kulturbereich also nicht nur punktuell in Bedrängnis, indem sie ihn über einen längeren Zeitraum lahmlegt. Sie spült auch Probleme und Herausforderungen nach oben, die lange vor der Krise bereits virulente Themen einer grundsätzlich breiter angelegten Transformation unserer Lebenswelten waren. Neue Relevanz kann der Kulturbereich deshalb gerade dann entwickeln, wenn er einen Neustart fokussiert, der weniger Selbstbeschäftigung als ein Finden neuer Antworten ist. Denn ganz entscheidende Fragen und die Kommunikation unserer Antworten werden Kunst und Kultur auch in Zukunft sehr fordern: Wie können wir in einer Welt des rasanten Wandels unseren wertvollen Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt klar auf den Punkt bringen?

Autor

Foto: Studio Stivali

Dr. Stefan Donath

ist seit Juli 2020 Geschäftsführer des Bundesmusikverbands Chor & Orchester e.V. in Berlin. Er studierte Theater-, Politik- und Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin und der Université Paris VIII. Als Wissenschaftlicher Mitarbeiter forschte er lange Zeit am Internationalen Forschungskolleg »Verflechtungen von Theaterkulturen« in Berlin u.a. zu Aufführungen antiker griechischer Tragödien, Formen künstlerischen Aktivismus und internationaler Kulturpolitik.