Eine Krise der Konzepte
Warum Kulturförderung neu denken und sprechen lernen sollte

11. August 2021

Alle reden von Transformation – ohne aber die Rede von »Transformation« zu transformieren. Wer die Debatten über »Kultur“ und „Gesellschaft« selbst während des oft konstatierten »Ausnahmezustands« der Pandemie verfolgt, dem begegnen immer wieder Begriffe, Bilder und Argumentationsmuster, die über die Jahre bemerkenswert konstant geblieben sind. Ja, bisweilen konnte der Eindruck entstehen, der vermeintliche Ausnahmezustand wurde als Einladung verstanden, die Positionen, die man auch vorher schon hatte, nun lediglich mit noch mehr Lautstärke und Dramatik zu vertreten – als Amplifikation des Bekannten. Die Krise der Pandemie fügte sich so diskursiv recht nahtlos ein in gleich mehrere gefühlte Dauerkrisen »der Kultur«: So sahen sich gleichermaßen die bestätigt, die schon immer den Eindruck hatten, dass die herausgehobene Bedeutung »der Kultur« von »der Gesellschaft« oder »der Politik« zu wenig anerkannt werde – und andererseits auch die, die schon seit langem fordern »die Kultur« müsse endlich in plausibler Form ihren Relevanznachweis liefern, um ihren öffentlichen Auftrag zu erfüllen und ihre Förderung zu legitimieren – um nur zwei Standardpositionen des vertrauten Diskurses zu nennen.

So berechtigt diese Positionen in sich auch sein mögen, so unbefriedigend ist der diskursive Stillstand, der sich in der Wiederkehr und Form der Argumente zeigt. Erstens gibt es wenig Grund zur Hoffnung, dass die bloße mantraartige Wiederholung wohlvertrauter Positionen plötzlich eine Veränderung der Situation bewirkt, wenn dies über Jahre hinweg bisher nicht gelungen ist. Zusätzlich schal wirkt die diskursive Trägheit durch den inneren Widerspruch, dass viel über »Transformation«, »Wandel« oder gar »Disruption« gesprochen wird, ohne dass sich dieser behauptete oder geforderte Wandel in den Diskursen selbst grundlegend widerspiegelt: Wenn die Diagnose zutrifft, dass wir in einer Zeit tiefgreifender technologischer, sozialer und kultureller Veränderungen leben – müsste sich dies nicht auch ebenso tiefgreifend auf unsere Leitbegriffe auswirken, auf die Methoden, mit denen wir Evidenzen schaffen, auf die Formate, in denen wir miteinander kommunizieren, auf die Darstellungsweisen, in denen wir unsere Positionen dokumentieren?

Krise des Denkens und Sprechens

Vor diesem Hintergrund erscheint die in dieser Ausgabe der Kulturpolitischen Mitteilungen verhandelte Krise der Kulturförderung zuvorderst als eine Krise des Denkens und Sprechens. Dies zeigt sich exemplarisch an dem ganz grundlegenden kulturpolitischen Diskurs zur Frage, warum es Kultur braucht und warum diese öffentlich gefördert werden sollte. In der Pandemie wie schon davor kommt regelmäßig eine zweiteilige Strategie zum Einsatz: Zum einen wird das humanistische Motiv »der Kultur« als »Lebensmittel« aktiviert und in zuweilen beschwörender Form mit dem Nutzen der Kultur für das (individuelle wie kollektive) gute Leben argumentiert. Zum anderen kommt das BIP-Argument zum Einsatz, bei dem auf die mehr oder weniger erhebliche ökonomische Wertschöpfung der Kulturbranche hingewiesen wird. Zusammengeführt mündet man dann seit jüngster Zeit vermehrt beim Begriff der »Systemrelevanz«, der inzwischen zu einer Art Leitvokabel wurde und für die Forderung steht, dem Kultursektor einen gesellschaftlichen Status zuzuschreiben, der anderen zentralen Feldern wie der Wirtschaft nicht nachstehen soll.

Beide Argumentationslinien jedoch sind problematisch und mit ihnen auch die Rede von der vermeintlichen »Systemrelevanz«: Die humanistische Perspektive hat den Hang zur Sonntagsredengeste und bleibt meist appellativ und notorisch vage, das BIP-Argument neigt zu einer Anbiederung an eben jene Herrschaftslogik der Ökonomie, die gerade im Kulturbereich vielseitig kritisiert wird. Diese Problematik wird nicht geringer, wenn »die Kultur« argumentativ mit weiteren Nutzenfunktionen zusammengebracht wird: Prominent sind beispielsweise Hinweise auf die sozial-integrierende Funktion »der Kultur« – gern verbunden mit der Metapher, »die Kultur« sei der »Kitt« der Gesellschaft – bis hin zur Preisung positiver gesundheitlicher Auswirkungen von Kulturrezeption im Kontext von Achtsamkeits- und anderen Wellnesstrends.

All diese Versuche, »der Kultur« ein Set an festen und mehr oder minder konkreten Nutzeneffekten und -funktionen zuzuschreiben, führen letztlich dazu, sie entweder als sakrosankten Selbstzweck gegen jegliche Infragestellung ihrer Bedeutung zu immunisieren (prototypisch hier das einstige Motto des Bühnenvereins: »Theater muss sein«) oder als unverzichtbares Mittel für andere, vermeintlich wünschenswerte Zwecke zu instrumentalisieren. Weder zur Orientierung von Kulturpolitik noch für die strategische Ausrichtung von Kulturorganisationen lässt sich mit diesen Ansätzen fruchtbar arbeiten.

Stattdessen müssen wir uns – so unser Plädoyer – einmal mehr ans Eingemachte wagen, tiefenscharf neu nachdenken und über den spezifischen Nutzen des Kulturbetriebs debattieren, über die Kompetenzen, die diesen Nutzen in Wirkung bringen und über die Grenzen dessen, was dem Kulturbetrieb zugeordnet wird oder nicht. An dieser Stelle sei lediglich auf zwei Kernfragen in diesem Zusammenhang hingewiesen, die für eine nicht als krisenhaft empfundene Kulturförderung zentral sind: die Frage der Spezifikation und die der angemessenen Honorierung von Kulturarbeit.

Grenzziehungen

Keine Kulturförderung ohne Grenzziehungen: Was ist förderungswürdig und was nicht? Am Anfang einer Verhandlung dieser Frage steht der unspektakuläre Befund, dass die Kulturbranche in sich längst nicht mehr durch verstaubte Hierarchisierungen von »E« und »U«-Kultur differenziert werden kann. Doch allein diese Diagnose ist längst nicht in der Kulturförderung der Gegenwart angekommen, die bis heute die Großinstitutionen der Hochkultur gegenüber den freien Szenen und Popkulturen begünstigt und dies letztlich nur durch historische Pfadabhängigkeiten begründen kann. Noch komplizierter wird die Lage dadurch, dass das kulturelle Feld längst uneinheitlich und vielfältig mit Politik, Wirtschaft, Bildung, Religion – um nur einige zu nennen – verschränkt ist. Gerede die wachsende Bedeutung der »Kultur- und Kreativwirtschaft« mag hier als Beispiel dafür dienen, dass sich Grenzen verschieben bzw. durchlässig werden. Die lange Zeit dem Kunst- und Kultursektor als Spezifikum zugeschriebene »Kreativität« – repräsentiert insbesondere in der Figur der Künstler*in – hat sich bekanntermaßen längst zu einem Leitbild für nahezu alle Lebensbereiche entwickelt. Dies führt zu der paradoxen Situation, dass »die Kultur« einerseits gesellschaftlich so erfolgreich war, dass sie heute mit allen Feldern Schnittmengen bilden kann und bildet, und andererseits gerade dieser Erfolg dazu führt, dass ihre unterstellte Eigenart viel schwerer zu behaupten ist, als dies noch vor wenigen Jahrzehnten möglich gewesen sein mag.

The Business of Culture is also Business

Der Siegeszug der Figur der Künstler*in vom Rand hin zum Leitbild der Gesellschaft hat sich zeitlich parallel entwickelt zur Prekarisierung zahlreicher Arbeitsmärkte. Schon in den 1990er Jahren wurde problematisiert, dass die Kulturalisierung der Wirtschaft diese nur in der Rhetorik »weicher« gemacht hat, nicht aber in der Sache und ihrer Orientierung an den Erfolgslogiken neoliberaler Strategien. Die wirtschaftliche Lage im Kulturmilieu ist im Vergleich dazu noch ambivalenter. Die im »soften« Kapitalismus geförderte Bereitschaft zu Selbstausbeutung ist unter den Kulturschaffenden ebenfalls vorhanden, doch sie paart sich mit einer milieueigenen Betonung der Ablehnung von Orientierung an wirtschaftlichen Eigeninteressen: Allzu laut über individuelle Verdienstansprüche zu sprechen, scheint gewissermaßen die Glaubwürdigkeit des eigentlich vor allem intrinsischen Motiviertseins zu kompromittieren. Solange aber nicht auch auf der Ebene des individuellen Verdienstes Klartext gesprochen werden kann, kann kaum eine offene Diskussion darüber geführt werden, wie sich das Verhältnis von Arbeit und Lohn im Kultursektor zu jenem in anderen Feldern verhält. Diese Diskussion wird notwendig sein, wenn man hier nicht immer wieder auf die genannten Motive von Kultur als Selbstzweck zurückfallen und in immer noch gut geschmierten Vorurteilsautomatismen der Art »Warum sollten wir Steuerzahler denen ihre Selbstverwirklichungsambitionen finanzieren« münden will.

Wege aus der Krise der Begriffe

Ein neues Denken und Handeln der Kulturförderung wird ohne neue Antworten auf diese Fragen nicht möglich sein, und dazu ist ein neuer Typ von Debatte dringend nötig: Es ist höchste Zeit, der Rede von Transformation auch eine Suche nach neuen Begriffen, Konzepten und Modellen folgen zu lassen, die die verschiedenen gesellschaftlichen und ökonomischen Funktionen des Kulturbetriebs, seine porös gewordenen Ränder in andere sozioökonomische Felder, die heterogenen Interessenlagen und Erwartungshaltungen der in ihm tätigen Akteur*innen und anderer Stakeholder*innen möglichst unvoreingenommen und differenziert zur Verhandlung bringen. Es wird keinen Weg aus der Krise der Kulturförderung geben, wenn wir die Stagnation im Reden und Denken über »die Kultur« nicht überwinden.


Dieser Beitrag ist bereits in der Ausgabe 173 der Kulturpolitischen Mitteilungen erschienen. Sie kann hier erworben werden.



Autoren

(c) privat
(c) Christina Körte

Dr. Jens Badura betreibt das berg_kulturbüro in Berchtesgaden. Der habilitierte Philosoph und Kulturmanager lehrt zudem Kulturtheorie und Ästhetik an der Zürcher Hochschule der Künste und forscht dort am Zurich Center for Creative Economies sowie am »Institut Kulturen der Alpen« der Uni Luzern. Er lebt mit seiner Familie und einer Herde Alpiner Steinschafe in Marktschellenberg.









Prof. Dr. Martin Zierold ist Leiter des Instituts für Kultur- und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, an dem er die Zajadacz Stiftungsprofessur für Innovation durch Digitalisierung
innehat. Dort befasst er sich mit Fragen der Strategie und Organisationsentwicklung angesichts der großen
gesellschaftlichen Transformationsprozesse der Gegenwart. Martin Zierold arbeitet zudem freiberuflich als systemischer Coach, Lehrtrainer und Berater.

Kulturförderung 2040

4. August 2021

Kulturförderung befindet sich in einem stetigen Wandel. Megatrends wie die Digitalisierung, die Urbanisierung oder die grüne Transformation verändern nicht nur die gesellschaftlichen Herausforderungen und damit die Fragestellungen, mit denen sich Kulturschaffende beschäftigen. Genauso schaffen sie neue künstlerische Ausdrucksformen und kulturelle Speicher. Schließlich etablieren sie neue Ansätze, wie Politik, Wirtschaft, Stiftungen oder auch Privatpersonen das kulturelle Schaffen unterstützen.

Vor gut zwei Jahren unternahm ich im Auftrag des Forums für Kultur und Ökonomie eine Reise in das Jahr 2040 – und setzte mich auf dieser Zeitreise mit den Trends, den Kulturformen und Szenarien der künftigen Kulturförderung auseinander. Etwa mit der Unterstützung von Künstler*innenkollektiven, entscheidenden Algorithmen oder der Förderung von Kultur im Untergrund. Doch was war damals mein Fazit dieses Ausflugs in die Zukunft – kurz bevor das Corona-Virus uns mit ganz neuen Fragen konfrontierte?

Kulturförderung stärkt das Alternative und Nichtökonomische

In der Logik der Märkte der Zukunft zählt die Rendite. Man misst sich am globalen Publikum, Skalierung ist gefragt. Will Kultur in diesem Kontext reüssieren, vernetzt sie sich international und folgt den entsprechenden Rastern. Aus europäischer Sicht sind Alternativen zu den Plattformen, Deutungsangeboten und Megastars aus China und den USA wünschenswert. Kulturförderung unterstützt die kritische Reflexion bestehender Angebote und pflegt den kreativen Nährboden für Alternativen. Weil aber im Skalieren Vielfalt, Nuancen, lokale Bezüge und Gesellschaftskritik verlorengehen, fördert sie genauso, was ökonomisch (noch) nicht funktioniert und sich der Logik der Skalierung entzieht: Das Unikat, das Unvollkommene, das nicht Vervielfachbare.

Kulturförderung leuchtet digitale und analoge Extreme aus

Die Wunderländer, in die wir reisen, in denen wir spielen, kulturellen Veranstaltung in Events und Simulationen beiwohnen, entwickeln sich in den nächsten 20 Jahren parallel in eine hyperdigitale und eine retro-analoge Richtung. In der digitalen Variante sind sie virtuell, hypervernetzt, vom Ort entkoppelt, von Maschinenwesen kreiert und bevölkert. Analog ausgeprägt sind die Wunderländer Räume der Begegnung, die wir mit all unseren Sinnen erfahren. Wir gehen bewusst offline, um nicht abgelenkt, beobachtet und vermessen zu werden. Beide Extreme haben ihren Reiz, spannend sind konsequente Kreuzungen. Um das Neue zu entdecken, hilft Kulturförderung, beide Extreme des menschlichen Habitats auszuloten, unterstützt Crossmediales und Übersetzungsleistungen: Augmented Reality, Digitalisierungsvorhaben, Prints des Digitalen.

Kulturförderung vertraut auf Expert*innen und Crowds

Crowds sind wie Expert*innen berechtigt zu wählen, welche Kultur sie fördern wollen. Dasselbe gilt für das Speichern der Vergangenheit – wenn es darum geht Geschichte zu schreiben, zu bestimmen, welche Bilder, Serien, Bauten, Cyborgs und Tweets wir in die Zukunft übertragen. Plakativ skizziert sind Crowds näher am Zeitgeist, digitalaffiner und geschickter darin, Ideen zu multiplizieren. Expert*innen haben umgekehrt einen besseren Überblick. Sie sind potenziell die besseren Hüter*innen von Diversität. Wollen sie diese Aufgabe glaubwürdig wahrnehmen, müssen die Instanzen der Kulturförderung jedoch ihre eigene Diversität kritisch prüfen. Bilden sie Frauen, die Jugend, die Hundertjährigen, den hyperdigitalen und grünen Zeitgeist, Einwandernde genügend ab?

Kulturförderung konzentriert sich auf die Infrastruktur einer kreativen Gesellschaft

Zu dieser Infrastruktur gehören Räume, in denen Kulturschaffende an ihren Werken arbeiten und auf ein Publikum treffen. Durch neue Kulturformen ändern sich die Anforderungen: Genauso wichtig, um kreative Potenziale zu entfalten, Resonanz zu erfahren und Diskurse auszutragen, ist die immaterielle Infrastruktur. Diese umfasst Zeit – um zu lesen, zu denken, zu diskutieren, auszuprobieren, zu entdecken. Zeit ist wertlos ohne die Möglichkeit, frei zu denken. Je konkreter Kulturförderung Ziele vorgibt oder verlangt, desto mehr schwinden die Freiräume. Eine kreative Gesellschaft braucht schließlich Institutionen und Räume des Wissens. Ohne Wissenschaft und Wissensspeicher vergisst sie, erkennt sie keine Optionen für die Zukunft.

Kulturförderung darf ein Experiment sein

Meist läuft (helvetische) Kulturförderung in geregelten Bahnen. Man definiert Kriterien – auch um sich abzusichern. Neue Wege ergeben sich durch neue Kriterien, um Förderentscheide zu treffen – nach Postleitzahl, Alter, Farbe des eingereichten Dossiers, thematisierten Megatrends, digitalen und analogen Extremen. Ganz neue Formen der Kultur und Kulturförderung helfen, bisher unbeachtete Personen für das Kulturelle zu begeistern. Sie könnten ein mehrjähriges Grundeinkommen umfassen oder den Auftrag, in Experimenten Utopien zu simulieren. Auch die zufällige Auswahl von Dokumentierenden der Vergangenheit, Gegenwartsdeutern und Erfinderinnen der Zukunft aus allen Bürgerinnen per Losentscheid könnte die Diversität des Kulturschaffens stärken.

Kulturförderung wagt ein neues Verhältnis zu den Geförderten

Dazu braucht es neue Rollen der Kulturförderung. Zu diesen gehört die Coachin. Sie beobachtet, gibt Feedback, begleitet, vernetzt. Zweitens könnte Kulturförderung als Dienstleistende den Geförderten Aufgaben abnehmen – als Budgetplaner*innen, Vermarktungsprofis, Influencer*innen. Drittens könnte Kulturförderung in einer gewerkschaftlichen Funktion die Interessen prekär arbeitender Kulturschaffender schützen. Auf einer Metaebene könnte Kulturförderung die Gestaltung der Zukunft und das Speichern der Vergangenheit moderieren. Sie lanciert einen Dialog, welche Infrastruktur, welche Aus- und Weiterbildung und Persönlichkeitsentwicklung, welche Reflexionsräume, welche Inhalte die Kultur braucht.

Kulturförderung begeistert für die Vergangenheit

Der Mensch lebt im Wandel. Das Neue interessiert ihn ungemein. Gewiss, es lockt, weil es neue Märkte und Machtformen bringt. Aber genauso vereinfacht es unsere Leben, es entstehen neue Perspektiven, es ist spannend, vertreibt die Langeweile, intensiviert. Kulturförderung könnte als Ergänzung zum Zukunftsfetisch das Interesse an der Vergangenheit wecken. Das erfordert neue Wege, um diese zu erleben, sowie ein Verständnis dafür, wie relativ und dynamisch Geschichte ist, wie vernetzt Personen, Orte, Entwicklungen waren. Neue Technologien etablieren neue Formen, um die Vergangenheit zu interpretieren, zu speichern, zu erleben, zu bereisen. Um von diesen zu profitieren, braucht es Mittel und Zeit, die anfallenden Informationen zu deuten.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus der Studie »Kultur 2040 – Trends, Potenziale, Szenarien der Förderung«. Sie kann hier erworben werden.



Autor

(c) Carlos Meyer

Joël Luc Cachelin analysiert, strukturiert, kombiniert – als interdisziplinärer und multimedial tätiger Zeitreisender. 1981 in Bern geboren, führten ihn Studium, Promotion und Weiterbildung in den Disziplinen Betriebswirtschaftslehre, Technologiemanagement, Statistik und Geschichte an die Universitäten St. Gallen, Bern und Luzern sowie an die HWZ Zürich. Er begleitet und berät in Zukunftsfragen.

Status quo ante oder transformierte Kulturförderung?
Resilienz erfordert eine verteilungsgerechtere Kulturpolitik

13. Juli 2021

Wenn von den Lehren aus der Pandemie die Rede ist, dann fällt fast immer der Begriff der Resilienz, die die Kultur entwickeln muss. Darunter wird gemeinhin die Widerstandfähigkeit verstanden, Krisen durch den Rückgriff auf gesammelte Erfahrungen und Ressourcen für Weiterentwicklungen zu nutzen, eben Krise als Chance. In der Medizin und der Physik hat Resilienz eine etwas andere Bedeutung, nämlich die Wiederherstellung einer früheren Situation: Druck aufnehmen zu können, ohne zu zerbrechen, und in den Ursprungszustand zurückkehren – so wie ein Ball oder ein Stoßdämpfer. Bei den Szenarien, die der Kulturbereich derzeit für die Post- Corona- Ära entwirft, dominiert eher diese zweite Interpretation von Resilienz. Das ist nicht abwegig: Kunst- und Kulturschaffende und die Institutionen wollen – wie auch andere gesellschaftliche Sektoren – in den gewohnten Arbeitsmodus zurückkehren. Vermutlich entspricht das auch der Erwartungshaltung ihres Publikums. Aber war dieser ursprüngliche Zustand so erstrebenswert?

Kultureinrichtungen in kommunaler und Landesträgerschaft und -finanzierung werden dies überwiegend bejahen: Ihr Status sichert ihnen Resilienz, und auch während der Pandemie waren sie nie wirklich existenziell gefährdet. Bei aller Kritik an den Corona-bedingten Restriktionen im Kulturbereich ist zu konstatieren, dass nie so viel Empathie und staatliches Geld vorhanden war – sogar für die freie, zivilgesellschaftlich getragene Kultur. Das tat gut. Aber wie ist die Perspektive? Wie beurteilen die Künstler*innen und andere Betroffene sowie die freien, zivilgesellschaftlich getragenen Kultureinrichtungen ihre Existenzbedingungen vor der Pandemie? Und was erwartet sie für die Zeit danach?

Ungelöste Förderarithmetik

Corona hat das Brennglas auf die Lage dieses Kultursegments gelenkt, das neben den öffentlichen Institutionen als eine zweite Säule des kulturellen Lebens in Deutschland durchaus geschätzt wird. Für ihre künstlerischen Innovationen und Qualitäten wird sie gelobt. Auch die Publikumszahlen der Freien Szene sind im Vergleich mit etablierten Kulturbetrieben beachtlich: Beispielsweise verzeichneten 2017 die soziokulturelle Zentren 12,6 Mio.  Besuche, öffentliche Theater 20,5 Mio. Ihre materiellen Rahmenbedingungen halten jedoch mit ihrer Wirksamkeit nicht Schritt.

Bis Anfang der 1970er Jahre konzentrierte sich die öffentlichen Kulturpflege in der alten Bundesrepublik auf die Finanzierung der eigenen Theater, Museen, Bibliotheken, Musikschulen und andere, überwiegend kommunale Institute. Daneben gab es ein bisschen Hilfen für Künstler*innen und die Unterstützung kultureller Gemeinschaften. Ganz wenige Einrichtungen wurden kontinuierlich gefördert wie etwa die Kunstvereine. Mit der Entstehung einer freien und sozio- kulturellen Szene und ihrer Forderung nach einer Beteiligung am Kulturkuchen öffnete sich das System. Zunächst waren es vor allem Projektzuschüsse, später auch dauerhafter angelegte Förderprogramme insbesondere für Einrichtungen wie soziokulturelle Zentren, Jugendkunstschulen oder freie Theaterspielstätten.

Stets fielen diese Förderungen im Vergleich mit dem etablierten Kulturbetrieb geringer aus, und es wurden im Laufe der Zeit auch immer mehr, die sich in diesem neuen und differenzierten, Möglichkeiten und Distinktion versprechenden Kulturfeld zuwandten. Die Kulturpolitik selbst formierte sich alternativ: Sie war den neuen Entwicklungen, die einen Modernisierungsschub für den traditionellen Kulturkanon versprachen, gegenüber aufgeschlossen, und tat das in ihrem Rahmen Mögliche zur Unterstützung. Neue Themen wie Zielgruppen, Interkultur, Partizipation, Dezentralisierung und Alltagskultur(orte) fanden Eingang in die kulturpolitische Agenda. Diese Neue Kulturpolitik half der Bewegung auf die Beine, indem sie einen ideologischen Überbau und zusätzliche Finanzmittel für das Feld organisierte. Kritik hielt sie sich vom Leibe, indem sie den Besitzstand der alten Kulturkohorten nicht angriff. Diese Strategie hatte den Nebeneffekt, dass die Kulturetats seit fast 50 Jahren beständig anwachsen und mit dem Aufwuchs der öffentlichen Haushalte durchaus Schritt gehalten haben.

Allerdings kam und kommt der Großteil der Steigerungsraten den Konten der öffentlich getragenen, personal- und damit kostenintensiven Kultureinrichtungen zugute. Trotz vieler guter und durchdachter Förderansätze und -konzepte in den vergangenen Dekaden ist das Gefälle zwischen etabliertem Kulturbetrieb und freiem Kulturbereich immer noch eklatant, obgleich seine gesellschaftliche Wirksamkeit, sein künstlerisches Potential und seine Teilhabezugänge unstrittig sind. Prekäre und unzureichende Arbeitsbedingungen, fehlende finanzielle Planungssicherheit, Raumprobleme, Kampf um Sichtbarkeit und Anerkennung und letztlich um Mitgestaltung der öffentlich verantworteten Kulturentwicklung, und zwar auf Augenhöhe und nicht als Bittsteller: Das sind nach wie vor zentrale Herausforderungen für diese zweite Kultursäule.

Normallfall Projektförderung

Wer die Forderung nach Resilienz für die freie und soziokulturelle Szene nach Corona ernst nimmt, muss die Frage nach der Angemessenheit und Zukunftsfähigkeit des Kulturfördermodells in Deutschland beantworten. Das betrifft die kulturpolitische Relevanz der großen gesellschaftlichen Themen wie Klimawandel und nachhaltige Ökonomie, Globalisierung, Armut und Teilhabe, Diversität oder die Digitalität, aber eben auch ganz banal die Finanzierungsungleichheiten im Kultursektor. Wenn durch die Pandemie die Verletzlichkeit der nicht-staatlich oder kommunal verfassten Kultur überdeutlich hervorgetreten ist, wäre jetzt der Zeitpunkt eines grundlegenden Systemwechsels, der sich primär an die Sachwalter der Kulturfinanzierung auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene richtet.

Es gilt Abschied zu nehmen von einem Förderverständnis, das die freie Szene vor allem auf Maßnahmen reduziert, die zeitlich befristet und jederzeit rückholbar sind. Auf den Prüfstand müssen u.a. die Praxis der Ketten-Projekte für die Finanzierung von Einrichtungen, institutionelle Förderungen, die aber auf dem Regelwerk für die Projektförderung basieren, Optionsförderungen, die besonders qualifizierten Trägern für einige Jahre ein Auskommen ermöglichen, danach aber keine weitere Perspektive eröffnen, das Primat von Produktions- gegenüber Prozessergebnissen sowie Anteilfinanzierungen, bei denen erfolgreiche Eigenerwirtschaftung und Drittmittel die Förderung reduzieren und unflexibel und bürokratisch zu handhaben sind.

Selbst die großzügigen Corona-Hilfen staatlicher und kommunaler Herkunft spiegeln die Asymmetrie zwischen einer zeitlich eingegrenzten und einer nachhaltigen Förderung wider, denn die allermeisten Zuwendungen werden projektbezogen vergeben. Das bedeutet für die Projektverantwortlichen, dass sie antragsbasiert und (innovations)orientiert an definierten Kriterien für ein erwartetes Ergebnis arbeiten, verwendungsnachweispflichtig entsprechend der geltenden Allgemeinen Nebenbestimmungen sind, sowie der Notwendigkeit unterliegen, nach einem erfolgreich durchgeführten Projekt sogleich das nächste zu platzieren, um durch die anhaltende Krise zu kommen. Auch wenn viele Akteur*innen diesen Modus als Normalzustand kennen, hätte man sich doch wenigstens während des pandemischen Ausnahmezustands eine beständigere Unterstützung gewünscht.

Die Frage der qualitativen Bewertung – wer sie nach den Regeln von Zugänglichkeit, Transparenz, Nachvollziehbarkeit sowie eigener Fachkompetenz vornimmt und letztlich die Förderentscheidungen trifft – ist konstitutiv für die Akzeptanz jeder Kulturförderung. Doch gerade die Qualitätsfrage wird in Deutschland ungern offen diskutiert und kommuniziert; teilweise wird sie sogar als zu subjektivistisch bei Förderprozessen ausgeklammert. Dabei mag ein starkes Ausstattungs- und Finanzierungsgefälle zwischen öffentlichen und freien Trägern auch zukünftig durch qualitative Unterschiede durchaus begründbar sein, vielfach aber auch nicht.

Wenn beide Welten einmal aufeinanderstoßen wie beim Berliner Theatertreffen, bei dem seit einigen Jahren auch freie Produktionen zugelassen werden, sind die vielfach bemühten Qualitätsunterschiede nicht auszumachen. Im Jahr 2021 kamen schon drei von zehn eingeladenen Inszenierungen aus dem frei-produzierenden Bereich. In der kulturellen Bildung räumen besonders viele zivilgesellschaftliche Institutionen wie etwa Jugendkunstschulen oder Medienwerkstätten renommierte Preise ab. Was die freie Szene an neuen Methoden und Formaten erprobt und entwickelt hat, wird oft vom öffentlichen Kulturbetrieb adaptiert – allerdings unter deutlich besseren Rahmenbedingungen.

Dynamische Fördersysteme

Manchmal lohnt der Blick nach außen, z.B. in die Niederlande. Mit der Aktion Tomate (Aktie Tomaaat) protestierten 1969 (!) junge Theaterleute gegen eine verkrustete Theaterstruktur, was in der Folge die niederländische Kulturlandschaft insgesamt dauerhaft verändert hat. Für die vierjährigen Legislaturperioden legt ein Kunstplan die staatlichen Förderungen für die öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Kulturinstitutionen und -organisationen fest. Nicht das für Kultur zuständige Ministerium oder eine staatliche Behörde bewerten die Förderanträge und treffen die Förderentscheidungen, sondern ein Rat für die Kultur aus Fachleuten.

Ebenfalls alle vier Jahre wird die Förderperiode evaluiert und unter Berücksichtigung der Ergebnisse ein neuer Kunstplan aufgelegt. Mit seiner Umsetzung sind häufig Stiftungen und Fonds betraut (»Förderung auf Armlänge«). Gesetzlich ist das Verfahren, das vergleichbar auch in den Provinzen und Kommunen praktiziert wird, im Cultural Policy Act (1993) geregelt. Dieses System hat zu einer Flexibilisierung, Diversifizierung, Transparenz und Öffnung der Förderstrukturen geführt, die Förderzugänge der unterschiedlichen Kulturträger weitgehend gleich- und Erbhöfe infrage gestellt. Obwohl bis zu 30 % der staatlichen Kulturmittel in den vergangenen Förderperioden umgeschichtet worden sind, geht es nicht um maximale Flexibilität oder eine neoliberale Marktidee. Die Erfahrungen zeigen, dass auch die kulturelle Substanz des Landes nicht verloren hat; ganz im Gegenteil wird sie durch die permanente Anpassungsdynamik gestärkt.

Die skizzierte Konzeption folgt keinem additiven Kulturpolitikmodell, das an seine finanziellen und infrastrukturellen Grenzen kommt, auch nicht einem reduktiven Ansatz, der aufgrund begrenzter Mittel oder Einsparszenarien neuen Entwicklungen restriktiv begegnet oder sie ausschließt. Vielmehr geht es um einen regelmäßig geführten Diskurs über künstlerische und kulturelle Herausforderungen im Kontext gesellschaftlicher Prozesse, bei denen auch die Nachfrageseite und veränderte Kulturinteressen einbezogen sind.

Das Modell privilegiert weder die öffentlichen noch die freien Kulturträger, die den gleichen Maßstäben von Qualität, Wirksamkeit und Effizienz unterliegen. Risiken und Verluste werden bewusst in Kauf genommen, müssen aber fachlich begründet sein. Auf der anderen Seite werden mit einer transformierten Förderkonzeption nachvollziehbare Verfahren und mehr Verteilungsgerechtigkeit erreicht. Die ihr innewohnende Dynamik befördert zudem Veränderungsprozesse bei den Kulturangeboten und ihren Trägern. Denn: Wer Transformation ernst meint, muss auch die materiellen Grundlagen in den Blick nehmen.

Elemente einer verteilungsgerechteren Kulturförderung

Die Forderung nach Resilienz richtet sich vor allem an die Förderinstitutionen und ihre Förderarchitektur. Auch wenn das niederländische System der Kulturfinanzierung in seiner Gänze nicht auf Deutschland übertragen werden kann, so lassen sich doch zentrale Elemente im Förderbereich umsetzen und finden sich in einigen Kommunen und Ländern, bei öffentlichen und privaten Stiftungen sowie den selbstverwalteten Kulturfonds auf Bundesebene, wenn auch bisher überwiegend im Rahmen einer Projektförderung.  Eine Neujustierung der Kulturförderung durch deutsche Kulturadministrationen erscheint also durchaus möglich.

Dazu gehören für Einrichtungen und künstlerische Kollektive vor allem eine verlässliche mehrjährige Förderung, Festbetragsfinanzierungen, unabhängige fachliche Expertisen bei Förderentscheidungen, mediatorische Förderfonds, Kombiförderungen durch Land und Kommune, vereinfachte Regeln für Anträge und Mittelverwendungen sowie – ganz wichtig – ein Vertrauensvorschuss (in den Niederlanden sind bis zu Förderbeträgen von 25.000 € keine Verwendungsnachweise erforderlich).

Auf der Seite der Betroffenen bedeutet Resilienz: Diversifizierung der Angebotspaletten, unaufwändige und flexibel einsetzbare Veranstaltungsformate, kleinere und dezentrale Kulturorte, neue Vertriebswege und Vermarktung, Fortsetzung der Digitalstrategien, Diversitäts- und Vermittlungsprogramme, gesellschaftsbezogene Kollaborationen und Vernetzungen, Koproduzieren mit anderen Ensembles und Einrichtungen, subsidiäre Dienstleistungen für Kulturverwaltungen, vor allem aber auch die Stärkung der spartenbezogenen und übergreifenden Interessenvertretungen – denn ohne diese werden Veränderungen der Fördersysteme nicht durchsetzbar sein.

50 Jahre nach der Gründung der ersten freien und soziokulturellen Initiativen dürfte es an der Zeit sein, diesem Bereich mittelfristige Finanzierungsperspektiven zu eröffnen. Das erfordern die erreichte Professionalität sowie der Generationenwechsel in den Einrichtungen, der nur gelingen wird, wenn verlässliche Förderstrukturen die sozialen Standards und Gestaltungsmöglichkeiten sichern. Die Orientierung am gesetzlichen Mindestlohn wie jetzt im Entwurf des NRW- Kulturgesetzbuches führt in die falsche Richtung. Weiterhin auf die intrinsische Motivation der Kunst- und Kulturschaffenden zu setzen, wird nach den negativen und positiven Erfahrungen mit der Pandemie, den existenzgefährdenden Schließungen und den existenzsichernden Hilfspaketen, nicht ausreichen. Die zahlreichen privaten Theater- und Museumsgründungen im vorvergangenen Jahrhundert haben weniger Zeit gebraucht, um sogar den Ewigkeitsstatus öffentlicher Einrichtungen zu erlangen. Wenn in Deutschland schon die Klimaschutzziele bis zum Jahr 2030 nicht erreicht werden: Könnte nicht bis zu diesem Zeitpunkt zumindest eine nachhaltige Kulturförderung verwirklicht sein?



Autoren

Kurt Eichler ist Berater für Kulturpolitik und Kulturplanung und war bis Ende 2017 Geschäftsführender Direktor des Kulturbetriebe Dortmund.

Relevanz, Resilienz, Resonanz

7. Juli 2021

Einige Gedanken zur Transformation von Kultur

Was Corona sichtbar macht, lag längst brach. Oft bemüht, deswegen aber nicht weniger wahr und auch für den Bereich der Kultur gültig: Die Pandemie ist Brennglas und Katalysator. Offenbar werden nicht nur die kurzfristigen, existenzbedrohenden Nöte von Soloselbständigen und Kultureinrichtungen – offen zutage treten auch deren mittelfristigen strukturellen Zwänge und Grenzen. Der Weg aus der Krise weist in Richtung der Großen Transformationen, die unsere Gesellschaft gewärtigt. Ob Digitalisierung, Nachhaltigkeit oder Inklusion: Ein einfaches Weiter So und stetiges Mehr vom Selben stößt an die Grenzen eines selbstzerstörerischen Wachstums.

Und dennoch zeigen die Ergebnisse und Umfragen rund um Pandemie und anstehende Wahlen, dass signifikante gesellschaftliche und politische Mehrheiten auch weiterhin vom Status Quo Ante, vom Wieder-Weiter-So eines volkswirtschaftlichen V-Effekts ausgehen. Nach der Krise soll wie vor der Krise sein. Doch fällt Künstler*innen und Kulturschaffenden, Kunstfunktionären und Kulturpolitiker*innen tatsächlich so wenig ein? Wollen sie wirklich so systemrelevant sein, dass sich an ihrem bestehenden System so wenig ändert wie in der Finanzbranche nach der Finanzkrise von 2009/2010? Entspricht das noch der Autonomie und dem utopischen Potential eines gesellschaftlichen Bereichs, der von sich selbst immer wieder als einem der letzten verbliebenen öffentlichen Räume innerhalb einer durchrationalisierten und durchfunktionalisierten Gesellschaft schwärmt?

Es waren die ersten Wochen und Monate der Pandemie vor bald anderthalb Jahren, die noch heute von einer Vielzahl von Menschen als besonders beängstigend, aber auch als besonders offen und hoffnungsvoll beschrieben werden. Eine Situation, in der vieles, wenn nicht gar alles möglich schien, die in Windeseile vor Projektionen in alle möglichen gedanklichen Richtungen nur so wimmelte. Es ist eine solche iterative Situation, die wir uns für die Debatte rund um die Zukunft der Kultur nur wünschen können – eine Situation, die sich zwar nicht künstlich wiederherstellen lässt, der wir aber anhand des vorliegenden Debattenbeitrags mit einigen assoziativen Beobachtungen, unvollständigen Überlegungen und nicht abgeschlossenen Impulsen nachspüren wollen. Nach der Krise wird nicht vor der Krise sein: Was lernen wir aus den Zuspitzungen der letzten Monate?

Eine Große Transformation?

Die neue Wachstumsdiskussion aufgrund des Klimawandels, schwindender natürliche Ressourcen und Infragestellung der Fortgültigkeit des westlichen, sich ständig vermehrenden Wohlstandsideals hinterlässt Spuren, auch in der Diskussion über die Zukunft der Kultur, ihrer Entwicklungsmöglichkeiten und ihres Selbstverständnisses. Die Situation scheint gleichermaßen offen wie bedrohlich: Viele der bisherigen Debattenbeiträge rechnen mit einem spannenden und harten Ringen innerhalb der politischen und zivilgesellschaftlichen Debatte um die zukünftige Verteilung ökonomischer Mittel und öffentlicher Aufmerksamkeit. Fast alle gehen davon aus, dass sich irgendetwas ändern wird, ändern muss. So richtig greifen können die Meisten die Chancen und Risiken dieser Veränderung allerdings noch nicht.

Das trifft den Wesenskern dessen, was Soziolog*innen in der Folge des österreichischen Wirtschaftswissenschaftlers Karl Polanyi „Die Große Transformation“ nennen. Beim Begriff der Transformation geht es um eine eigendynamische und komplexe, von vielen gleichzeitig auftretenden und sich gegenseitig bedingenden Faktoren entfesselte, grundlegende gesellschaftliche Veränderung. Transformationen sind keine Revolutionen, die im Namen einer neuen gesellschaftlichen Ordnung von einer politischen Avantgarde gemacht werden; sie sind aber auch keine Reformen, die das Bestehende so verändern, dass es in der alten, leicht veränderten (Re-)Form bestehen bleiben kann.

Transformationen vollziehen etwas, das wir nicht aufhalten können, das passiert – ein Energiewandel, der stattfindet, ob wir es wollen oder nicht. Die entscheidende Frage, die sich stellt: Können und wollen wir Transformationen als offene Gesellschaft gestalten oder überlassen wir das anderen gesellschaftlichen Mehrheiten und Konstellationen? Karl Polanyi analysiert in diesem Zusammenhang die sozioökonomische „Große Transformation“ des ausgehenden, sog. langen 19. Jahrhunderts bis hin zur Machtergreifung der Nationalsozialisten. In diesem historisch abgeschlossenen Fall waren es die nicht demokratischen Kräfte, die sich bei der Gestaltung der Transformation durchzusetzen wussten.  

Insofern handelt es sich bei Transformationen um Prozesse der Veränderung, die notwendigerweise stattfinden, zwangsläufig, geradezu überfällig erscheinen, bei denen sich aber die Frage stellt, wer sie zu gestalten und für sich zu reklamieren weiß. Irgendwann lassen sich Fakten nicht mehr leugnen: Ob es um die Diversifizierung von Einwanderungsgesellschaften, um den voranschreitenden Klimawandel oder sich im Zeichen des Digitalen radikal verändernde Kommunikations- und Wahrnehmungsmuster geht. Vielleicht ist es vor diesem Hintergrund kein Zufall, dass die kraftvollen aktivistischen Bewegungen auf den Feldern der Digitalität, Nachhaltigkeit und Inklusion trotz Corona nicht an Präsenz verloren haben.

Obwohl ihnen monatelang die Protestoptionen der Straße nicht offenstanden und die übergroße Mehrheit der Menschheit andere existentielle Probleme zu bekämpfen hatten, sind Black Lives Matter und Fridays For Future, #MeToo oder Netzaktivismus äußerst präsent geblieben. Diese Bewegungen verstricken sich weder in der realpolitischen Kritik des Bestehenden, noch irrlichtern sie in der Sphäre des rein Utopischen. Ganz offensichtlich beschreiben die Transformationsvorgänge nicht nur die Zustände, die es zu ändern, sondern auch solche, die es zu erreichen gilt; nicht nur die Wege dorthin, sondern auch die Zustände nach dem Weg. Deswegen geht es bei einer Transformation um Digitalität, und nicht um Digitalisierung; um Nachhaltigkeit, und nicht um Klimaschutz; um Inklusion, und nicht um Emanzipation oder Diversifizierung.

I. Bestand und Aufnahme

In städtischen Marketingbroschüren wird gern mit der eigenen Urbanität und Kreativität um neue Firmen geworben, werden Fachkräfte in ein kulturell inspirierendes Umfeld gelockt – alles im Dienste eines weiteren Wachstums der Stadt. Kultur wird zu einer weiteren Funktion im Gefüge des Immer-Mehr, Immer-Größer und Immer-Besser. Die Attraktivität der Städte im Konkurrenzkampf untereinander bemisst sich mittlerweile auch an der Zahl ihrer Musikclubs, der Bekanntheit ihrer Museen und Theater, und der Einstufung ihres Orchesters. Hochglanzbilder zeigen Kulturevents im Sommer, gut gelaunte Zuhörer*innen von Straßenmusik, Kinder beim Malen oder Entdecken geheimnisvoller Lost Spaces, die die anderen, noch ungeglätteten, unerschlossenen Seiten einer Stadt verkörpern sollen.

Kennziffern des Erfolgs?

Die Kulturverantwortlichen und Kulturpolitiker*innen haben sich in den letzten 20 Jahren in dieses Framing integriert und benutzen es gern. Sichert es ihnen doch zum einen eine gewisse Anerkennung jenseits ihrer eigenen Szene, indem ihnen von außerhalb Bedeutung zugetragen wird, zum anderen scheint es ihnen Argumente im Verteilungskampf um die kommunalen Finanzen zu liefern. Es wird eine Win-win-Situation kreiert: Das Bild der wachsenden Stadt wird um weiche, sympathische Seiten erweitert, die Kulturpolitik erhofft sich mehr finanzielle und räumliche Gestaltungsmöglichkeiten.

Die Wachstumsideologie hat aber längst die Selbstwahrnehmung des Kulturbereiches ergriffen. Erfolge werden mittlerweile gern ökonomisch berechnet: Publikumsrekorde bei Festivals werden ebenso gerne verkündigt wie (pressetaugliche) Besucher*innenzahlen von Ausstellungen oder die Auslastung der Hotelbetten. Die verbundenen Rankings und Preise lassen die eigene Arbeit leuchten. Zudem färbt Entwicklung auch auf die Inhalte der Kulturarbeit ab: Musikreihen werden nach möglichst hohen Ticketverkaufszahlen gestaltet (gern mit der Bemerkung, dass dadurch ja dann auch die „Nischenkonzerte“ mitfinanziert würden); mühsam ausgehandelte Kompromisse politischer Gremien oder der persönliche Geschmack eines Mäzens ersetzen anderweitige künstlerische Irritationen im Stadtraum; Theater werden zunehmend als Orte der Unterhaltung, weniger als Orte der Auseinandersetzung einer Stadtgesellschaft angesehen.  

Fragile positive Nebenwirkungen

Es ist anzuerkennen, dass diese Entwicklung in den letzten 20 Jahren zunächst auch Erfolge vorweisen konnte. In vielen Städten, die sich dies ökonomisch leisten können, stiegen die Kulturetats, nicht nur die der städtischen Kultureinrichtungen, sondern auch der Förderprogramme für den freien Kulturbereich. Ostdeutsche Beispiele geben Leipzig, Halle oder Jena (z.B. Jena freie Szene außer Theaterhaus 2006 ca. 300.000,-€, 2020 730.000,- € + weitere Programme) Für kulturelle Großinvestitionen konnten Mehrheiten beschafft werden; die Raumproblematik wird wahrgenommen – als Problem der Raumknappheit wie in Jena oder als Problem des sozialräumlichen Verdrängtwerdens wie in Leipzig oder Berlin oder an anderen prosperierenden Orten.

Die freie Kultur drängt aus der Rolle eines Bittstellers in die Rolle eines politischen Akteurs. In fast allen größeren Städten gibt es mittlerweile Kulturkonzeptionen respektive Kulturentwicklungspläne, die zumindest versuchen, mittelfristige kulturelle Entwicklungslinien aufzuzeigen. Mancherorts gelingt es sogar, diese Prozesse zwischen Politik, Kultur und Bürger*innenschaft so partizipativ zu gestalten, dass eine neue Vernetzung und ein neues Selbstbewusstsein der kulturellen Szenen entstehen. Und Kulturpolitiker*innen gelingt es vereinzelt, in deren Windschatten auch nicht zeitgemäße, nicht vermarktungsfähige Projekte gegen frühere politische Mehrheiten durchzusetzen.

Kultur als Opfer des eigenen Erfolgs

Doch längst beginnt ein Teil der Kultur zum Opfer ihres eigenen Erfolges zu werden. Klassisches Beispiel ist die erwähnte Verdrängung der Soziokultur aus einzelnen Stadtquartieren, die sie erst attraktiv gemacht hat. Ein anderes Phänomen kann man daran beobachten, wie mit dem eigenen Erfolg und dem Anderer umgegangen wird: Die erfolgreiche Ausstellung, der erfolgreiche Spielplan muss im kommenden Jahr mindestens genauso erfolgreich wiederholt, am besten übertroffen werden (und die Nachbarschaft überscheinen); die Erwähnung in den Feuilletons ist Pflicht, und wenn nicht dort, dann ist zumindest die Resonanz in den sog. „sozialen“ Medien relevant. Selbst Streit wird zu einem Wert an sich und bedeutet oft kaum noch Interesse am Thema selbst. Wettbewerb und Selbstoptimierung – in der Kultur immer schon vorhanden – werden nun zu ihrer Vorbedingung, zum sich verstärkenden Antrieb ihrer Entwicklung.

Die Folge ist eine Dauer-Eventisierung der Kultur, die immer zuerst die öffentliche Aufmerksamkeitsökonomie bedient und weniger die eigenen Inhalte betont, seltener ihre Relevanz aus sich heraus definiert. Nichtsdestotrotz wird für die dauernde Schaffung von stetig Neuem selten Altes und dessen Fortbestand hinterfragt. Das kulturpolitische Muster folgt lieber der Logik des sich selbst ernährenden Wachstums: Neue Projekte werden lieber mit Aufwuchs von Ressourcen begründet, als ihren Beginn und Erfolg mit unangenehmen Diskussionen über Ressourcenknappheit und möglicherweise notwendige Priorisierungen zu gefährden. In den letzten Jahrzehnten wurde noch jede neue Entwicklung, noch jedes neue Thema schließlich mit einem additiven Förderprogramm überklebt, das am Ende oft noch nicht einmal gründlich evaluiert wird. Das lässt sich in Zeiten wachsender Ressourcen durchaus bewerkstelligen; auf Dauer wird es jedoch kaum durchzuhalten sein. So wuchs in den letzten Jahren Kultur zwar quantitativ und additiv, jedoch kaum qualitativ und substantiell.

Die Krise und ihre Wahrnahme

Die Frage nach den Grenzen des sich selbst prästabilsierenden Wachstums stellt sich erst recht mit Beginn der Corona-Pandemie. In der Krisenbekämpfung waren Kultureinrichtungen die ersten, deren Angebote geschlossen wurden. Für Industrie und Flugverkehr gab es schon Programme und Kurzarbeitsgelder, ehe die ersten Hilfen für Künstler*innen, Soloselbständige und Kulturinitiativen überhaupt politisch erwogen wurden. Diese kamen dann nicht nur verspätet, sondern zunächst bürokratisch verquast, unpraktikabel und lebensfremd. Die Schere zwischen kultureller Realität, Kulturverwaltung und -politik, insbesondere auf Bundes- und Landesebene konnte kaum größer klaffen. Glück hatte noch die öffentlichen Kulturinstitutionen, kamen doch dort ebenso Kurzarbeit wie Nähe zu Vor-Ort-Entscheidungsträger*innen in Sachen Infektionsschutz zum Tragen.

Freie Kräfte – ausgerechnet die, die sich vor dem Vorzeichen der Kreativwirtschaft in den letzten Jahren so unabhängig von staatlicher Hilfe gemacht hatten wie nur irgend möglich – sahen sich plötzlich in jeglicher Hinsicht abhängig. Ironie ihres Schicksals, auf dessen Erfolgsversprechen die Politik zuvor so euphorisch angesprungen war: Ein Kulturverständnis, dessen Messbarkeit und Erfolgskennziffern plötzlich nicht mehr als selbsterfüllende Prophezeiung, sondern als besondere Volatilität und Prekarität einzahlte. Es dauerte Monate, bis es der sog. Veranstaltungswirtschaft endlich gelang, in einem vergleichbaren Maße wie die Hotel- und Gastronomie-Lobby, etwa der Branchen-Dachverband DeHoGa, zur Spitzenpolitik durchzudringen.

Nach wie vor (und trotz der mittlerweile 4,5 Grütters-Milliarden) spielt Kultur bei den Überlegungen zur Verteilung der knapperen Ressourcen in den Entscheidungen jenseits von Sonntagsreden eine untergeordnete Rolle. Nach der Krise ist sie die erste Kürzungsoption, die keine Wertschätzung als notwendiger weicher Standortfaktor mehr erfährt, sondern erneut freiwillige Kostenstelle, die infrage gestellt werden kann. Die harte Infrastruktur wird als Hebel neuerlichen Wachstums gefördert: Verkehrsprojekte, Gewerbeentwicklung, Wohnen, ggf. noch Schulen und Kindertagesstätten – Kultur darf erst dann wieder Ansprüche anmelden, wenn Gesellschaft und Ökonomie wieder im Wachstumsmodus brummen.

Eine Frage der Wertschätzung

Doch nicht nur die politische Ebene, auch das Publikum bringt den kulturellen Nöten gegenwärtig wenig Wertschätzung entgegen. Sicher, wir erinnern uns an den Applaus für Balkonkonzerte vor einem Jahr und kennen die über die sog. „sozialen“ Medien und in Gesprächen immer wieder geäußerte Sehnsucht nach Kino, Konzerten und Cluberlebnissen. Dagegen beispielhaft die Erfahrung: Vorhandene Möglichkeiten, auch online Künstler*innen für ihre Arbeit zu bezahlen anstatt kostenlos zu streamen (oder über Streamingdienste, die Künstler*innen kaum Tantiemen überweisen), werden sowohl spärlich genutzt als auch verhalten angeboten. Wie stark ist tatsächlich die Bereitschaft, Kultur nicht nur in Anspruch zu nehmen, sondern ihren Wert zu schätzen?

Nach einem Jahr Pandemie ist der Kulturbereich schwer angeschlagen und für den Neuanfang schlecht aufgestellt. Persönliche Erschöpfung, wirtschaftliche Insolvenz, berufliche Umorientierung in immer breiterer Bahn kommen hinzu, die Resilienz einzelner Akteur*innen wird zwischen ökonomischer Katastrophe und immer wieder verschobenem Neubeginn zerrieben. Neue Argumente entgegen der oben benannten Verknüpfung zwischen Wachstum und Kultur wirken zunächst schal und verbraucht. In diesem Licht ist die starke Bewegung aus der Soziokultur heraus gegen erste pandemiebedingte kommunale Haushaltssicherungskonzepte wie in einzelnen Kommunen in NRW oder gar in den vergleichsweise wohlhabenden kleinen Großstädten Bamberg oder Jena nicht zu unterschätzen. Sie bietet einen mit der Beständigkeit der eingangs erwähnten aktivistischen Bewegungen vergleichbarer Hoffnungsschimmer.

II. Bewegung

Wie gelingt nun der Neuanfang? Und wie können wir jenseits der Wachstumslogik die Frage beantworten, was Kultur als Sinnstifter und Raumöffner innewohnt? Dazu einige bewusst nur assoziative Denkanstöße:

Heilung

Wir werden alle verwirrt, fragend und verletzt aus dem Coronageschehen herausgehen. Psychische und seelische Verfasstheit, materielle Existenz und physische Gesundheit – all dies wird bei vielen von uns zur Disposition stehen. Wir werden Räume und Zeiten zur Genesung brauchen, Formen, Bilder, Klänge, die zeigen können, was wir selbst nicht auszusprechen im Stande sind. Kultur und Künstler*innen haben nach den größten Unheilen immer ihre zentralsten Arbeiten schaffen können.

Ob Dante Alighieri in den Krisen des Mittelalters, Heinrich Schütz nach dem 30jährigen Krieg, oder u.a. Wolfgang Borchert, Inge Müller, Heinrich Böll, Günter Eich und Ingeborg Bachmann nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs. Auch diesmal müssen wir nicht befürchten, dass solche kulturellen Würfe nicht entstehen werden – und auch nicht bangen, dass sie ihr Publikum finden werden, dem sie bei der Bewältigung des Erlebten helfen werden. Was könnte dies für kulturpolitische Akteur*innen bedeuten? Wäre es vielleicht eine Möglichkeit, analog früherer Themenjahre die Nachpandemiejahre 2022/23 zu Jahren der Heilung zu erklären und die Förderprogramme danach auszurichten, Orte, Ereignisse und Zeiten für diese heilsame Begegnung zu organisieren?

Resilienz

Doch Heilung ist noch an einer anderen Stelle nötig: Gerade die Künstler*innen (und auch das begleitende Kreativgewerbe) sind durch die gegenwärtige Krise verletzt. All das oben Beschriebe trifft sie in einem besonderen Maße, ihre existentielle Not und deren Missachtung sitzen als materielle und symbolisch-emotionale Erfahrungen tief. Jetzt gerade in ihre Krise hinein zu sparen, wird ihren Existenzkampf endgültig zum Scheitern verurteilen. Stattdessen sind sogar zusätzliche Hilfen für den Wiederaufbau nötig – auch auf kommunaler Ebene. Förderprogramme, mit denen wohl eher selten zu rechnen ist. Dennoch muss in der Folge der Krise überlegt werden, wie der Kulturbereich mehr Resilienz gegenüber zukünftigen Krisen aufbauen kann.

Es gilt, dieses Thema als eines der Themen der kommenden Jahre zu benennen, sowohl innerhalb der Kulturbetriebe, als auch in der Kulturpolitik. Ohne Bearbeitung dieses Themas wird sich die gegenwärtige Katastrophe in der Kultur wiederholen. In diesem Zuge bleibt immer wieder darauf hinzuweisen, dass Kultur ihrerseits in empirisch belegtem Maß resilienzbildend auf Einzelne und die Gesellschaft als Ganzes wirkt. Ihre Abwesenheit in der Pandemie, selbst als passiv vermisstes Gut, ist momentan in aller Munde.

Qualität

Daher sind wir überzeugt: Will sich die Kultur aus dem ökonomischen Wachstumsdenken lösen, gelingt dies nur, indem sie sich selbst ökonomischen Bewertungsmaßstäben und funktioneller Verwertung entzieht. Als einziges Bewertungskriterium bliebe die Qualität der Kunst selbst. Ein umstrittenes Diktum, entlang der Grenze zur Lagerbildung und zum Geschmäcklerischen. Dennoch plädieren wir für den stetigen Versuch der Versachlichung der entsprechend zu führenden Debatten: Jede Form lässt sich wenigstens im Abgleich des künstlerischen Ziels mit den gewählten Mitteln und der Konsequenz ihrer Durchführung diskutieren. Nimmt man dies im politischen Raum ernst, kann jedoch die Politik Kultur schlecht bewerten, sie wäre noch mehr als bisher von fachlicher Expertise von außen angewiesen.

Eine radikale Konsequenz wäre es, Kulturförderentscheidungen konsequent an externe, divers zusammen gesetzte Fachgremien zu delegieren, im letzten Schritt auch die Erarbeitung von Kulturentwicklungsplänen sowie der darin beschriebenen Entwicklungsschritte samt benannter Bedarfe externen Fachgremien oder sogar den Akteur*innen selbst zu überlassen. Dafür Modelle für die Kultur jenseits der gegenwärtigen politischen Gremien zu erarbeiten, könnte das Ziel einer Diskussion der kommenden Jahre werden – das Ziel einer längst überfälligen kulturpolitischen Debatte, die daraufhin in Richtung zweier ebenso fragmentarischer gedanklicher Ansätze verlaufen könnte, wie wir sie in den nächsten beiden Anstrichen formulieren:

Radikale Subjektivität

Wie können wir in Ausstellungen, Aufführungen und Programmen künstlerische Positionen und subjektive Ansätze stärken? Wir glauben: Löst sich Kultur stärker von ökonomischen Zielen, kann Kunst wieder der Raum werden, in dem Subjektivität radikal möglich ist. Entstehung und Rezeption wird in erster Linie ein individueller Prozess, der sich objektivierender Verwertung entzieht. Durch subjektive Sichtweisen und Aneignungen kann ein wacher Blick auf die eigene Person und die der anderen gewonnen werden, auf die eigene fragile Existenz und die fragile Existenz der Umgebung, die persönliche Krisenbewältigung und Transformation und die der Anderen.

Nur auf dem Weg des Bekenntnisses von Subjektivität in der Kultur kann auch die zunehmende Diversität unserer Gesellschaft widergespiegelt werden. Wir bemühen dazu zwar keinen intersektionalen Ansatz, aber gerade angesichts der derzeitigen Identitätsdebatten kann eine radikal subjektive Kunst abseits festgefahrener Fronten ihren eigenen Beitrag leisten – und vor allem eins: wirklich beim jeweils realen Individuum mit ihrer/seiner Geschichte und Prägung, ihren/seinen Gefühlen und Gedanken bleiben.

Radikale Objektivität

Und gleich widersprechen wir uns: Wollen wir nicht gerade eine wissenschaftsgeleitete Politik, insbesondere in der Gegenwart von Klimawandel und Pandemie? Und geht es nicht bei Wissenschaft um nachvollziehbare, überprüfbare Erkenntnisse, um Nachweise, Belege, Fakten? Vielleicht ist es gerade in einer Wissensgesellschaft wie der bundesrepublikanischen eine spannende Möglichkeit, Subjektivität der Kultur und Objektivität der Wissenschaft in ein spannungsreiches, wechselseitiges Gespräch zu bringen? Wissenschaft böte der Kultur inhaltliche Relevanz; Kultur böte der Wissenschaft gesellschaftliche Resonanz. Wirklich spannend werden entsprechende transdisziplinäre Diskurs- und Festivalformate, wenn Kultur nicht für Illustration oder Vermarktung benutzt wird, sondern beide Seiten ihr eigenes Recht behalten, sich auf Augenhöhe begegnen und unterschiedliche Wege der Erkenntnis und Verwirklichung mit einander durchspielen.

Urbanität

Auf diese Weise gälte es, in die wesentlichen Spannungsfelder unserer Zeit einzusteigen. Urbanität kulturell neu zu denken, hieße, zunächst existierende Konflikte und Divergenzen der Städte als die zentrale gesellschaftliche Größe unserer Zeit zu benennen und sichtbar zu machen, die sie sind. Sie neu zu denken, hieße, zu verdeutlichen, dass es unterschiedliche gegensätzliche Interessenlagen, soziale, politische und kulturelle Anliegen gibt, die nicht wegmoderierbar sind. Verlassene Fabrikgelände sind zunächst keine neue Kulisse für Ateliers und Kreativwirtschaft, sondern können und sollten als unmittelbares Zeugnis ehemaliger, gescheiterter Industrie und abgebauter Arbeitsplätze mit all ihren Folgen benannt werden – glatte Fassaden und betonierte Flächen sollten nicht als neue, nutzbare Stadträume, sondern zunächst als anonyme Leerflächen für sich selbst stehen. Um wie viel mehr wird dies für verlassene Ladenflächen und unwirtliche öffentliche Räume in der Folge ihrer Nichtnutzung während der langen Monate der Pandemie gelten?

Urbanität würde so erst einmal nicht die Schönheit der Stadt bedeuten – sondern im ästhetischen Sinn die Benennung, Sichtbarmachung, gar Inszenierung des Konfliktes ihrer Bevölkerungsgruppen und dessen vielfältige Hintergründe. Im Bewusstsein, dass es in dieser Auseinandersetzung Verlierer*innen und Gewinner*innen gibt und kein allseits befriedigendes Verhandlungsergebnis möglich ist, sind es Kunst und kulturelle Äußerungen, die einseitige Parteinahme wiederentdecken (und nicht Gegensätzlichkeit verschönen). Erst darüber werden auch verbindende Elemente wieder sichtbar.

Zur Illustration dieser etwas abstrakten Überlegung zwei Beispiele aus dem ehemaligen Textilindustriezentrum Łódź, der zweitgrößten Stadt Polens. Hier dienen z.B. Murales (großflächige Wandmalereien) nicht (nur) der Verschönerung der Stadt, sondern offenbaren deren Verletzlichkeit und ihre Untiefen.

Daneben haben sie ein Zeichen der Verbundenheit der Menschen mit ihrer Stadt manifestieren können. Der Hauptboulevard der Stadt, die Piotrkowska-Straße, wurde mit Steinen ausgeschlagen; zu lesen sind die Namen von Bürger*innen, die für die Stadtgesellschaft einen Beitrag geleistet haben. Eine im doppelten Wortsinne niedrigschwellige Arbeit. Derzeit sind dort über 10.000 Platten zu sehen; hunderte weitere kommen jedes Jahr dazu. Wie könnten solche Zeichen in NRW, Bamberg oder Jena aussehen? Wie können die dortigen urbanen Konflikte kulturell sichtbar gemacht werden?

Rückbindung

Zu Entwicklung, Aufbruch und Transformation der Kultur brauchen Kunst und Kultur nicht nur progressive, sondern auch konservative Kräfte. Feste Konfliktlinien mögen künstlerisch inspirierend und dem eigenen (partei)politischen Selbstgefühl entgegenkommen, gesellschaftlich und kulturpolitisch jedoch verzögern und verhindern sie notwendige Entscheidungen und Projektentwicklungen. Nach der Pionierarbeit der Freien Szene und Soziokultur ab den 1960er Jahren, nach der Neuen Kulturpolitik einer Kultur für Alle ab den 1970er Jahren waren in den 00er und 10er Jahren Entwicklungen der freien Kultur, neue Konzepte und Angebote auch deswegen möglich, weil auch die konservativen Bildungsbürger*innen und Kulturpolitiker*innen in Gespräche zur Kulturentwicklung eingebunden und nicht ausgegrenzt wurden (was mehrheitstechnisch vielerorts möglich gewesen wäre).

Es herrschte, neben immer wieder zermürbenden Debatten, eine gegenseitige Anerkennung eines dialogischen Kulturverständnisses, sich verändernder Hör- und Sehgewohnheiten, sodass Konservative für Freiräume für neue, aktuelle Kunst gewonnen werden konnten. Wer hätte vor 50 Jahren gedacht, dass John Cage oder Joseph Beuys eines Tages zu Lieblingen auch der hochkulturellen Institutionen oder des konservativen Feuilletons werden? Erstaunlicherweise entdeckt gleichzeitig die progressive Seite beim Blick zurück wiederkehrende Sichtweisen und Denkmuster:

Was lässt sich angesichts der aktuell laufenden aktivistischen Diskurse von der lebensreformerischen Ganzheitlichkeit des frühen 20. Jahrhunderts, dem Getriebensein der 1920er, was von den Utopien, Protest- und Aktionsformen nach 1968 in Berkeley, Westberlin oder Prag, was von den kulturellen und politisierten Dissidenzen und Renitenzen in der ostdeutschen Diktatur und anderen osteuropäische Staaten der 1970er und 80er Jahre lernen?  Wie prägen diese Entwürfe und Aktionen Widerständigkeit und Aufbruch gegenüber dem Zeitgeist und verdeutlichen Wege, notwendige, umstürzende Veränderungen in Gesellschaft und Stadt auch künstlerisch auszudrücken?

Rückbesinnung

Zur Rückbindung gehört die Rückbesinnung auf die dunklen Seiten von National- und Stadtgeschichte. Zunächst scheint die bundesrepublikanische Gedenkkultur hier gut aufgestellt – regelmäßige (selbst)kritische Debatten, jährliche Gedenktage und Stadtgeschichtstage, Stolpersteine, NS- und DDR-Aufarbeitungsinstitutionen u.a.m. Und doch wird in Stadt und Staat Vergangenes immer wieder aufs Neue erratisch diskutiert – im Zeichen der aktuellen identitätspolitischen und postkolonialen Debatten oftmals einhergehend mit materiellen und symbolischen Aneignungskämpfen um Deutungshoheiten, Infragestellungen neuer Erkenntnisse und politischer Profilierungsbemühungen verschiedener Beteiligter.

Wir betrachten das Feld der Erinnerungskultur und Gedenkarbeit in einer sich stark diversifizierenden Gesellschaft als einen der Schlüsselmomente der kulturellen Entwicklung nach der Pandemie. Bei aller berechtigen Forderung nach Berücksichtigung marginaliserter Perspektiven benötigt die Debatte dennoch auch weiterhin das stete Bemühen um rationale Argumente, gegenseitigen Respekt und – abseits von jeglicher Moralisierung und Emotionalisierung – die Trennung von Person und Sache. Rückbesinnung braucht Struktur, Verlässlichkeit, Augenhöhe untereinander und Langatmigkeit. Dieser Anspruch ist und bleibt mühevoll, solange Aufarbeitung mit Sprechenlassen von Fakten, Differenzierung und Überzeugen verbunden wird.

Sehen, was ist: Die*der Kulturpolitiker*in als Künstler*in?

Beginnen wir daher bei uns selbst: Progressive Kulturpolitiker*innen sehen sich gegenwärtig als Ermöglicher*innen. Sie stellen Räume für Kultur zur Verfügung, Ressourcen für deren Ermöglichung, Proviant für die künstlerische Reise. Sie tun dies scheinbar selbstlos – für Andere. Das klingt zunächst positiv – Kulturpolitik wird so nicht als Durchsetzung einer eigenen ideologischen oder ökonomischen Agenda verstanden. Doch zugleich besteht die Gefahr, sich damit auf pragmatistische und technizistische Positionen zurückzuziehen, die im Wettstreit mit anderen politischen Zielen verhandelt werden.

Wie mag es sein, wenn die Kulturverantwortlichen ihre Arbeit selbst als kulturelle Äußerung, als künstlerische Aktion begreift? Könnten in der Kulturpolitik dann Begriffe wie Ambition, Scheitern, kreatives Handeln, Berührtsein, das Zulassen poetischer Situationen, von Lücken eine stärkere Rolle spielen? Worin bestünden dann die künstlerischen Ansprüche, die Materialien, Bezugsrahmen, Selbstverwirklichungen? Wie würden die anderen Politiker*innen darauf reagieren? Würden diese künstlerischen Kulturpolitiker*innen auch so unmittelbar und radikal ihre Werke verteidigen wie Künstler*innen? Eines würde sicherlich geschehen: Sie könnten mit den Künstler*innen wieder auf einer anderen Ebene, auf deren eigenen Ebene, sprechen.

Intensität vs Depression

Doch das Staccato und die Lautstärke des gegenwärtigen Kulturbetriebes – und auch dieser, unserer Gedanken – mag noch einen anderen Hintergrund haben. Menschen mit Depressionen kennen diese Momente, wenn eine gläserne Gummiglocke die eigenen Sinne abschirmt, Eindrücke, Emotionen, Signale das Innere nicht mehr erreichen, die innere Schwingung nicht mehr auf Äußeres antwortet. In solchen Situationen mögen Betroffene oder deren Umfeld verleitet werden, die Regler aufzudrehen, das Tempo zu erhöhen um wieder etwas zu spüren. Doch dieser Reflex nützt nichts, zumindest nicht auf Dauer. Helfen kann vielleicht das Gegenteil: der Abstand zu sich, um sich zu verstehen und sich zu verzeihen, die Verlangsamung, das Leiserwerden, das Zulassen von Trauer als Kraft. Intensität statt Tempo, Bei-sich-sein statt Anerkennung. Ein Moment der Heilung vielleicht auch im Raum der Kunst.

Heimat

In der Kultur kann somit etwas Neues entstehen, das wir mit dem alten und mittlerweile von anderen politischen Kräften missbrauchten Wort Heimat verbinden möchten. Heimat kann verschieden verstanden werden, als Herkunft, als Verortung in Raum und Zeit, als kulturelle Identität, neurobiologisch als Unmenge von Engrammen, die mit einem Ort verbunden sind, als politische Zugehörigkeit, als Verweis ins Jenseits, als individuelles Empfinden… Wir möchten für unsere Kultur die utopische Interpretation von Ernst Bloch zitieren und dann umformulieren:

»Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt, sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« (Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 5. Teil / Kap. 55, S. 1628, Frankfurt a.M., 1985)

Wenn wir beginnen, Kultur als Utopie zu sehen, arbeitend und schaffend, die Gegebenheiten umbildend und uns mit ihr an unsere Wurzel fassen, und dies für uns und doch im Miteinander tun, gehen wir auf etwas zu, das uns seit Kindheitstagen her scheint, was in uns sehnt und wo wir noch nicht sind – und was uns doch wohl immer schon umgibt: Heimat.

III. Resonanz

Kehren wir also dorthin zurück, wo wir noch nicht sind: Zu uns. Die Basis für diesen Mut, diesen Geist des Aufbruchs ist und bleibt die Stabilität der institutionellen Förderung, der institutionellen Grundausstattung der Kulturfinanzierung, der Kulturinstitutionen selbst. Ohne sie ist weder die Gestaltung der eingangs beschrieben Grunddynamik der laufenden großen, noch die Verwirklichung der im Laufe des Textes beschriebenen kleineren Transformationen irgend möglich.

Wir glauben, dass ein wesentlicher Teil des aktuellen Transformationsdiskurses an der Kultur als Betrieb vorbeiläuft. Die Dynamik im Schlagabtausch von Künstler*innen und Publikum mit- und jeweils untereinander überfährt viele Möglichkeiten der notwendigen Organisationsentwicklung der Kulturinstitutionen. Sinnbildlich zugespitzt im Brennglas der letzten Monate: Während einerseits ein regelrechter Kulturkampf im Feuilleton tobt, beschäftigen sich Geschäftsführungen und Belegschaften andererseits mit dem eigenen Fortbestehen, stecken wahlweise in Kurzarbeit oder im Home Office.

Kultur und Resonanz

Mit dem Jenaer Soziologen Hartmut Rosa knüpfen wir in diesem Zusammenhang an eine der ureigensten Erfahrungen sowohl beim Erleben, als auch bei der Kreation von Kultur an: Die Rede ist von Resonanz als Selbst(wirksamkeits)erfahrung und Intensitätsereignis in der Rückkoppelung des Einzelnen mit der Welt. Jeder Mensch kennt diese grundhaften Erlebnisse des Eins-Werdens mit seiner Umwelt, sei es im familiären und sozialen Raum, inmitten der Natur, beim Sport oder in der Religion. In seiner Resonanztheorie beschreibt Hartmut Rosa auch sogenannte Resonanzachsen der Produktion und der Rezeption von Kunst und Kultur.

Eine allgemein bekannte eindrückliche Beschreibung dieser oftmals gemeinschaftlich erlebten Resonanz ist etwa das Singen im Chor und das daraus entstehende Potential einer kollektiven Performanz und Intensität. Umgekehrt erinnert sich rein empirisch betrachtet jede*r an Konzert- oder Theaterabende, an Ausstellungsbesuche, Lese- oder Filmerlebnisse, bei denen das Gefühl der direkten Verbindung der einzelnen Zuschauer*innen oder gar der kollektiven Erfahrung eines Publikums im Hier und Jetzt des Kosmos eines Kunstwerks entstand. Mystiker*innen beschreiben solche Erfahrungen als Räume, die sich in und durch Kultur für innere Wege und Erkenntnisse öffnen, als Räume zwischen Entsagung des Eigenen, Entfernung von täglichem Getriebensein und des Einlassens auf etwas Unbekanntes, der Erfahrung einer unmittelbaren Begegnung. Dazu muss man nicht gläubig sein, diese Seite ist der Kultur eigen. Wir erinnern uns und fragen uns gegenseitig: Weiß Du auch noch, wie das war, als Du das erste Mal Radiohead gehört hast/ Tarkowskij gesehen/ das ensemble resonanz live erlebt hast?!

Drei Resonanzachsen

Neben diesen Beschreibungen von Resonanz bei der Kreation oder beim Erleben von Kunst und Kultur fehlt eine dritte Resonanzachse. Während die Kreation eine vertikalen Achse bildet, auch im Sinne der Rückbindung der künstlerischen Praxis an Traditionen und Wissen des jeweiligen Genres, lässt sich im Hinblick auf Zugänglichkeit und Rezeption des Publikums von einer horizontalen Achse sprechen, die auf dem Weg eines gemeinschaftlichen Erlebens gesellschaftliche Unterschiede inkludiert und zu einer temporären Kontingenz, Offenheit im Sinne einer flachen Hierarchie führt.

Diesen beiden Resonanzachsen fehlt eine dritte Dimension, die der Übersetzer*innen, der Brückenbauer*innen – die Dimension der Kunstinstitution, des Kulturbetriebs. Anders als bei Hartmut Rosa würden wir diese diagonale, oder Z-Achse im Kulturbetrieb verorten. Kunst- und Kulturinstitutionen sind nicht irgendwelche Betriebe. Sie sind die dritte Resonanzachse als Gelingensbedingung für das Ereignis der Entgrenzung und Resonanz von Kunst. Nur wenn das dort geteilte Wissen, die dort tradierte Erfahrung als stetig experimentierende Institution und lernende Organisation selbst in ein Resonanzverhältnis zur Produktion und Rezeption von Kunst gebracht werden, entstehen außergewöhnliche Situationen, gar Epochen, wie sie post coronam wieder möglich sein könnten und nötig sein werden.

Kunst und Institutionen

Am Ende des ersten Teils von Christoph Menkes »Kraft der Kunst« gibt es ein kurzes, kleines, aber entscheidendes Post Scriptum. Menke spricht darin vom Spannungsverhältnis zwischen Kulturinstitutionen und Künstler*innen. Ausgerechnet am Beispiel des Grünen (Bayreuther) Hügels beschreibt er das Wechselspiel zwischen der ungerichteten, unbändigen Kraft der Künste und der formenden, organisierenden Hand der Institution. Anhand von Friedrich Nietzsches Antikenrezeption der »Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik« lassen sich hier zwei Kraftfelder ausmachen, die in einer fruchtbaren Reibung miteinander stehen: Die dionysische und maßlose Kraft der Kunst begreift die künstlerische Arbeit als exzentrischen, immer weiter suchenden, nie zufriedenen Prozess; das apollinische Vermögen der Institution mit all ihren räumlichen, zeitlichen, personellen und finanziellen Ressourcen ermöglicht und begrenzt diese.

Ohne das Setzen von Rahmenbedingungen wie Budgets und Terminen, der Organisation von Kommunikation sowohl in internen Abläufen, als auch in Form von Marketing und Vermittlung gegenüber der Öffentlichkeit, käme es nie zur Veröffentlichung, zur Vernissage, zur Premiere. Unterschätzen wir nicht die darin liegende besondere Resonanzqualität einer Institution, die jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit künstlerischen Produktionsprozessen mitbringt! Man denke nur an die in der kulturpolitischen Debatte als durchweg positiv beschriebene, von allen Tarifparteien politisch stets heftig verteidigte und auf der Aufnahme-Liste des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO stehende deutschsprachige Orchester- und Theaterlandschaft mit ihren zwei wesentlichen weltweiten Alleinstellungsmerkmalen: der fest angestellten Ensembles und des im Rahmen einer Stadtgesellschaft verorteten Repertoire-Spielbetriebs.

Kurzum: Kunst und Institution, damit auch Kunst und Publikum, stehen in einem paradoxen Verhältnis zueinander: Einerseits die wuchernde, frei-radikale, chaotische, dionysische Kraft der Kunst; andererseits der formende, organisierende, übersetzende, apollinische Rahmen der Institution für ein Publikum. Beide Seiten brauchen einander und stehen daher in einem für beider Erfolg unabdingbaren wechselseitigen Kräftemessen. Vergessen wir also nicht die Dimension des Betriebs als Resonanzachse und Gelingensbedingung für die Produktion und das Erlebnis von Kunst und Kultur!

Der resonante Kulturbetrieb

Werden wir zum Abschluss noch etwas konkreter und deuten an, welche praktischen Auswirkungen ein derartig alteriertes Verständnis der Kulturbetriebe als Resonanzkörper mit sich bringen müsste.  Aus unserer Sicht kommt es auf nichts mehr oder weniger an, als darauf, die Arbeit innerhalb der Betriebe gänzlich und ganzheitlich neu zu organisieren:

Das beginnt bei einer rationalen, aber nie in die Freiheit der Kunst eingreifenden Kulturpolitik, die sich für die Kompetenzen – nicht nur die künstlerischen oder wissenschaftlichen, sondern vor allem die Führungs- und Changekompetenzen – des von ihr auszuwählenden und eng zu begleitenden Führungspersonals interessiert, die sich anhand der Instrumente von Kulturentwicklungsplänen mit klaren Visionssetzungen und Zielstellungen auseinandersetzt, sich für die Gestaltung und Entwicklung von Personal und Organisation der Kulturbetriebe interessiert und diese mittels Rahmenplänen und -verträgen sowie Zielvereinbarungen begleitet und forciert. Und zugleich eine eigene künstlerische Sprache findet, die – wie oben beschrieben – selbst Ambition, Berührtsein und Scheitern zulässt.

Das geht über ein neues Selbstverständnis von Personal- und Organisationsentwicklung, das die Leitungskräfte dazu empowert, sich Neue Arbeit (sog. „New Work“) im Rahmen flacher Formen der Selbstverständigung zu eigen zu machen, das auf die überzeugende Sinnhaftigkeit gemeinsam gesteckter Ziele und daraus entstehende intrinsische Motivation der Mitarbeiter*innen setzt, die Mitarbeiter*innen also nicht als Instrumente begreift, sondern sie als Organismus des Kulturbetriebs pflegt und diese Ressourcen als stetig zu regenerierende Quellen versteht.

Das reicht bis hin zur intrinsisch motivierten Selbstorganisation und -führung der Mitarbeiter*innen selbst, die ihre Arbeit als sinnhaft erleben und eigenverantwortlich in ihre Hände nehmen, bis hin also zu einem Verständnis von Arbeit als künstlerischem Prozess im weitesten Sinn (wie oft wurde doch Joseph Beuys mit seinem berühmt-berüchtigten Satz, jeder Mensch sei ein Künstler, genau an dieser Stelle missverstanden!) und einem daraus entstehenden gänzlich gewandelten Binnenklima des Kulturbetriebs der Zukunft.

Nochmal: Kulturbetriebe sind nicht einfach irgendwelche Betriebe. Sie sind die Grundlage, das größte, das bleibendste Risiko, aber auch die größte, stabilste Chance für die Entfaltung von Kunst. Es gilt, sie genau so sehr in eine innere Resonanz zu versetzen wie die Kunst und ihr Publikum!

IV Coda im Dreiklang

Kurz gefasst möchten wir die notwendige und längst laufende Transformation von Kunst, Kultur und des Kulturbetriebs auf die einfache Formel eines Dreiklangs bringen: Relevanz, Resilienz, Resonanz. Damit beschreiben wir nicht nur die drei zentralen Begriffe der kulturpolitischen Diskussion in der Pandemie, sondern auch den groben Verlauf, die großen Züge der Debatte der letzten 20 Jahre. Seit den 2000er Jahren war die kulturpolitische Debatte von der Frage nach der Relevanz, nach der Welthaltigkeit von Kunst und Kultur, geprägt. Immerzu ging es um eine rechtfertigende, funktionalisierende Selbstbehauptung des Kulturbetriebs:

Kunst als Standortfaktor, Kunst für die Umlagerentabilität, Kunst als sozialer Kitt einer Teilhabe Aller. Nie allerdings: Kunst als eigenlogischer Selbstzweck. Parallel dazu lief und läuft die schleichende Implosion, der verkappte Infarkt der Betriebe, deren Ressourcen kaum so nachhaltig gesteigert wurden, dass sie den immer neuen Ansprüchen an Öffnung und Diversifizierung, an Digitalisierung und Innovation gerecht werden konnten.

Spätestens seit Beginn der Pandemie geht es nun um die Resilienz, schlicht und ergreifend die Widerstandsfähigkeit und den Überlebenswillen von Kunst und Kultur. Letztlich aber führt auch diese Diskussion auf die einfachste und zugleich schwierigste aller kulturpolitischen Fragen hinaus: Was sind uns Kunst und Kultur als Gesellschaft wert? Was sind wir bereit, zu ihrem Unterhalt an Ressourcen beizutragen? Mit dieser Frage kommen wir zur Urerfahrung, unser ursprünglichsten Motivation von und für Kunst und Kultur zurück:

Zur Erfahrung von Resonanz, sowohl auf der Ebene der künstlerischen, als auch der institutionellen Produktion, sowie ihrer Rezeption auf Seiten des Publikums. In der Balance dieser drei Resonanzachsen, zwischen Künstler*innen, Institution und Zuschauer*innen, erweist sich der Kunst- und Kulturbetrieb der Zukunft; in der Balance dieser drei Diskursfelder, zwischen Relevanz, Resilienz und Resonanz erweist sich die Kulturpolitik der Zukunft.



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Tilo Schieck, geboren 1964 in Leipzig, aufgewachsen in Arnstadt / Thüringen. Studium der Landwirtschaft in Halle in der 80ern (konnte aus politischen Gründen nicht beendet werden), Studium der Theologie in Jena (aus persönlicher Entscheidung nicht beendet). Seit über 20 Jahren in einem Jenaer Hightech-Unternehmen der Optikbranche tätig. Politisiert in den 80er Jahren in der DDR-Opposition (Friedenskreise, Theaterarbeit …). 1989-1994 bei den Reformprozessen an der Jenaer Universität in verschiedenen Ämtern…. 1994-2019 kommunalpolitisch tätig, Stadtrat, Schwerpunkt Kulturpolitik (u.a. 2009-2019 Werkausschussvorsitzender JenaKultur), seit einigen Jahren auch fotografisch unterwegs.

Jonas Zipf studierte Psychologie in Berlin und Paris sowie Sprech- und Musiktheaterregie in München. Als Dramaturg und Regisseur arbeitete er für eine Vielzahl von Produktionen in In- und Ausland (u.a. Thalia Theater Hamburg, Schaubühne Berlin, Schauspielhaus Zürich, Theater Basel, Alfortville Paris, Wagenhallen Stuttgart, Staatstheater Mainz, Wiesbaden Biennale). Von 2011 bis 2013 war er leitender Dramaturg am Theaterhaus Jena und in der Spielzeit 2014/15 Schauspieldirektor am Staatstheater Darmstadt. Er arbeitete als Festival-Kurator (Rodeo-Festival München, Datterich-Festival Darmstadt) und Lehrbeauftragter (u.a. LMU München, HfMT Leipzig, TU  Darmstadt, JGU Frankfurt, JGU Mainz, FSU Jena). Seit Juli 2016 ist er als sog. Werkleiter des städt. Eigenbetriebs JenaKultur der Kulturverantwortliche der Stadt Jena; seit 2020 Präsident des Thüringer des Kulturrats.

Age Matters!

30. Juni 2021

Alter als Dimension kultureller Diversität

»War schön. Kann weg« lautet der sprechende Titel eines Online-Symposiums über das Alter(n) in der darstellenden Kunst, das auf Einladung des Künstlerduos Angie Hiesl + Roland Kaiser und mit Unterstützung des Förderfonds Kultur & Alter des Landes Nordrhein-Westfalen und der Kunststiftung NRW im Februar 2021 stattfand. Es widmete sich der Frage, welche Herausforderungen sich älteren Künstler*innen in Bezug auf ihre Weiterentwicklung, Wirkung, Wahrnehmung, Förderung und Absicherung stellen. Die Diversitätsdimension Alter ist nicht nur für Kulturschaffende von existenzieller Bedeutung, sondern betrifft darüber hinaus die Kultureinrichtungen, ihre Angebote und deren Vermittlung.

Alter als diskriminierende Diversitätsdimension

Unter den Diversitätsdimensionen wird das Alter nicht nur im kulturpolitischen Diskurs häufig marginalisiert und fällt leicht hinten rüber. Woran mag das liegen?

Zum einen spielt hier die Sozialfigur des sich seiner Privilegien noch nicht einmal bewussten alten weißen Mannes eine Rolle, der zur machtkritischen Selbstreflektion seiner Stellung im Kulturbetrieb einigermaßen unwillig erscheint. Ihm wurde unlängst die der privilegierten »alten weißen Frau« zur Seite gestellt, die bislang weit weniger mediale Aufmerksamkeit auf sich zog. Schweift der Blick aber über das Publikum, so scheint es, als ob die beiden, gern in Paarkonstellationen, die Kulturräume so bevorzugt bevölkern, dass sich mit gutem Recht die Frage stellt, wo viele Kultureinrichtungen ohne sie wären.

Zweitens betrifft das Alter alle Menschen – sofern sie nicht jung sterben. Alter ist keine konstante Identitätszuschreibung. Zudem erleiden auch jüngere Menschen Altersdiskriminierungen. Als diskriminierend erfahrene altersidentitäre Anrufungen häufen sich jedoch mit zunehmendem Alter, so dass auch diejenigen, die ihr Leben lang kaum unter Diskriminierungserfahrungen zu leiden hatten, im höheren Alter eine recht hohe Chance haben, diese Erfahrung zu machen.

Drittens sind Konstruktionen subjektiver Altersidentität im höheren Alter häufig fragil: Alt sind sehr oft die Anderen. Differenzierte Altersbilder sind rar, so dass die Identifikation mit diskursiven Altersidentitätsentwürfen von vielen in kalendarischer Hinsicht älteren Menschen verweigert wird oder ihnen zumindest schwerfällt.

Vereinfachende Altersstereotypisierungen verdecken zudem die komplexen intersektionalen Verschränkungen von Diversitätsdimensionen, welche die Zugangsbarrieren vieler älterer Menschen zu kulturellen Angeboten und kultureller Bildung eklatant erhöhen und ihr allgemeines Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe bedrohen. Auch für Ältere gilt: Verschiedene Ausschlüsse wirken zusammen und potenzieren sich mit zunehmendem Alter.

Prekäres Alter

Fitte, aktive, selbst versorgende Rentner*innen haben lange das Bild des Alters hierzulande dominiert und die Altersarmut unsichtbar gehalten. Studien zeigen, dass Altersarmut vor allem Frauen betrifft: Ein Grund dafür ist, dass Frauen der Jahrgänge zwischen 1930 und 1955 deutlich geringere Bildungschancen hatten. Späte kulturelle Bildungsmöglichkeiten zum Beispiel in Museen, aber auch in der Musik oder im Theaterspiel decken gerade für viele ältere Frauen ein Defizit, das sie in ihrer Generation schmerzlich seit ihrer (häufig viel zu kurzen) Schulzeit empfinden (Gajek 2021).

Eingeschränktes Alter

Mit fortschreitendem Alter steigt das Risiko für körperliche und kognitive Einschränkungen: Laut Statistischem Bundesamt (2020) sind über zwei Drittel der Menschen mit Behinderung Menschen über 55 Jahre. Allerdings verschieben sich dank des medizinischen Fortschritts die Altersgrenzen, an denen Mobilität und Kognition nachlassen, statistisch immer weiter nach hinten.

Für die Kulturpolitik bedeutet dies, Maßnahmen von baulicher, sinnlicher und kognitiver Barrierefreiheit, zu der sie laut UN-Behindertenkonvention schon seit 2009 verpflichtet ist, ernst zu nehmen und zu fördern. Im Feld der Vermittlungsangebote für die wachsende Anzahl von Menschen mit Demenz gibt es heute schon erfreulich viele und gute Angebote in zahlreichen Museen, aber auch im Bereich der Musik und des Theaters.

Besonders der ländliche Raum altert überproportional und ist aufgrund seiner strukturellen Defizite stark von den demografischen Veränderungen betroffen. Gerade hier bedarf es innovativer Strategien, partizipativer Projekte, Hol- und Bringangebote und künstlerisch gestaltete Dritte Orte, um älteren Menschen Teilhabe, auch an Kunst und Kultur, zu ermöglichen.

Buntes Alter

In Deutschland leben rund 18,5 Mio. Menschen mit Migrationsgeschichte. Mehr als 1,8 Millionen sind über 65 Jahre alt. Sie haben häufig weniger Zugang zu Bildung und Gesundheitsvorsorge, aber auch zu kultureller Bildung und Kultureinrichtungen. Wie ihre Bildungs- und Teilhabeansprüche wahrgenommen werden können, zeigt beispielsweise das Historische Museum Frankfurt im künstlerischen Erinnerungsprojekt »Bibliothek der Generationen«.

Homosexualität und Sexualität im Alter sind ein doppeltes Tabu: Trotzdem gibt es immer mehr ältere Menschen, die offen ihre sexuellen Orientierungen, geschlechtlichen Identitäten und Biografien leben. Hier gehen beispielsweise Theater in Schottland voran, die die ältere LGBTIQ*-Community zu »Coming Back Out Balls« einladen.

Differenziertes Altersbild

Differenzierte und vielfältige Bilder vom Alter wirken Diskriminierung entgegen und unterstützen das Miteinander der Generationen. Es ist die Aufgabe von Kulturpolitik, diese Vielfalt sichtbar zu machen und das Recht auf kulturelle Teilhabe im Alter zu gewährleisten. Seit 2008 macht sich das Kompetenzzentrum für kulturelle Bildung im Alter und Inklusion (kubia) als landesgeförderte Fachstelle in NRW dies zur Aufgabe. Mit Forschung, Information, Beratung und Weiterbildung rückt es die Diversitätsdimension Alter in ihren intersektionalen Verschränkungen ins kulturpolitische Bewusstsein.

Dieser Text erschien bereits in der Ausgabe Diversity Matters (173) der Kulturpolitischen Mitteilungen.



Autorinnen

(c) Ralf Bauer
(c) Ralf Bauer

Almuth Fricke, M.A., Literaturwissenschaftlerin und Kulturmanagerin, leitet seit 2008 das Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und Inklusion (kubia) am Institut für Bildung und Kultur in Köln.















Dr.in Miriam Haller, kulturwissenschaftliche Alterns- und Bildungswissenschaftlerin, leitet den Bereich Forschung am Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und Inklusion (kubia) in Köln.

Kein Interesse an Kultur?

9. Juni 2021

Neuer Konsens für die Künste gefragt

Sitzen in den Parlamenten, in den Verwaltungen lauter Kulturverächter*innen? Anne-Sophie Mutter sieht das offenbar so. »Das Leben von Künstlern ist in diesem Jahr so eingeschränkt worden, dass man von einem Kulturverbot sprechen kann«, sagte die Stargeigerin der Welt am Sonntag. Politik verachtet Kultur: Was die weltberühmte Virtuosin radikal äußert, fasst das Lebensgefühl vieler Künstler*innen in der Corona-Pandemie zusammen. Sicher, nicht nur Kulturmacher*innen leiden unter dem Lockdown. Jetzt geht es aber um mehr als um den Protest einer Branche. Die Corona-Pandemie hat offengelegt, dass ein Konsens erodiert sein muss, der das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft in Deutschland getragen hat. Die Kultur ist zu und Politiker*innen kümmert das nicht. Wie ernüchternd.

Aber kann das sein, im Land der Dichter*innen und Denker*innen? »Kultur ist kein Luxus, den man sich nur in guten Zeiten leistet. Sie gehört zum Wesenskern unserer Gesellschaft«, hatte Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung gesagt. Ein schönes Bekenntnis, das Risse bekommen hat. Die Kulturhäuser sind seit langer Zeit zu. Erst nach und nach sollen sie wieder öffnen. Wenn Lockdowns und Notbremsen verkündet wurden, war von Kultur oft nicht einmal mehr die Rede. Zudem hallt der Basta-Spruch von Isabel Pfeiffer-Poensgen nach. Nordrhein-Westfalens Kultusministerin hatte im letzten November gesagt, die Kultur dürfe sich in Corona-Zeiten keine Extrawurst braten lassen. Ein Warnschuss für den Kulturbetrieb? Ein verstörender Moment zumindest in einem Land, in dem klar zu sein schien, wofür Kultur und Künste da sind – für Sinn und Zusammenhalt.

Für Sinn und Zusammenhalt

Das versteht sich offenbar nicht mehr von selbst. Die Klage der Initiative Aufstehen für die Kunst klagt gegen die Schließung von Kulturhäusern. Musiker*innen wie der Dirigent Hansjörg Albrecht oder der Bariton Christian Gerhaher kritisieren die Lethargie der Kulturszene und sehen die Kunstfreiheit verletzt. Der Streit wird grundsätzlich, weil es nicht mehr nur um Zuschüsse geht, sondern um den Kern der Kultur – ihre Bedeutung. Welchen Stellenwert hat Kultur in Deutschland? Diese Frage muss neu beantwortet werden. Die Kommunikation zwischen Kultur und Politik scheint versiegt zu sein, aller wortreichen Bekenntnisse zum Trotz. Die Pandemie hat die Gesellschaft entlang der Linie des Geldes gespalten. Kultur findet sich auf der abgewandten Seite der Aufmerksamkeit wieder, gleich neben Bildung und Familie. Der Dienst des Menschen am Menschen, er zählt offenbar nicht viel.

Dabei sollte Kultur für so vieles gut sein. Die siebziger Jahre propagierten die Kultur für Alle, die Achtziger die Konjunktur des Festivals, die Neunziger Kultur als die eigentliche Sozialarbeit. Kultur als Marketing und Standortfaktor, schließlich als Medium für Inklusion und Diversität – die Inflation der kulturpolitischen Leitbegriffe ist zu einer Beliebigkeit der Zuschreibungen ausgefranst, die Kultur und Künste für alles und jedes in Anspruch nehmen wollen. Dieser Schulterschluss zwischen Politik und Kultur, Staat und Kunstbetrieb hat seine historischen Wurzeln. »Ich hoffe, Sie zu überzeugen (…), daß man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muss, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert.« In seinem Text »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« formulierte Friedrich Schiller den sehr deutschen Weg von jener künstlerischen Befreiung, die der politischen vorangehen sollte. Spuren von diesem Denken finden sich noch immer, zum Beispiel in fast jedem Spielzeitheft eines Stadttheaters.

Das Sinnfundament der Gesellschaft

Die Pandemie öffnet nun die Augen. In Deutschland werden eher Baumärkte als Opernhäuser geöffnet. Kultur firmiert im offiziellen Diskurs seit dem Beginn der Corona-Zeit als Freizeitbetrieb. Warum ist das bestürzend? Weil das zeigt, dass durch das Sinnfundament der Gesellschaft ein Riss geht, der lange unbemerkt geblieben ist. Höchste Zeit – ja, wofür? Mit dem Pflaster auf der Wunde ist es nicht getan. Die Corona-Zeit beschleunigt nur, was ohnehin anstand: Die Debatte um Kultur und Künste, Migration, Klimakrise und Digitalisierung machen klar, dass das Bespieltheater der Angebotskultur aus der Zeit gefallen ist. Programm, Publikum, kurz, das Projekt der Kultur, muss neu debattiert, ja, erstritten werden. Die Gesellschaft verhandelt sich gerade neu. Das betrifft gerade den Bereich, der ihr Sinnprogramm reproduziert: die Kultur.

Die Klage der Initiative Aufstehen für die Kunst ist ein guter erster Schritt, auch wenn das Projekt juristisch scheitern mag. Es geht darum, dass Künstler*innen ihre Interessen artikulieren und nicht wieder darauf warten, dass ihnen Politiker*innen soziale Funktionen zuschreiben. Viele Kulturhäuser und Kulturmacher*innen gehen bereits diesen Weg, indem sie konsequent digital arbeiten und Menschen erreichen, die vorher nicht zu ihrem Publikum gehörten. Die Gesellschaft braucht diese Aktivität ebenso wie die Energie der Künste selbst. Wie sehr sie als Medium und Erlebnisraum fehlen, zeigt die große Gereiztheit, in die viele Menschen gefallen sind. »Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet«, so noch einmal Friedrich Schiller. Klingt das nicht ungemein aktuell in einer Zeit, in der sich Menschen neu finden müssen?



Dieser Text erschien bereits in der Neuen Osnabrücker Zeitung vom 21.05.2021.



Autor

Dr. Stefan Lüddemann leitet die Kulturredaktion der Neuen Osnabrücker Zeitung und lehrt als Honorarprofessor an der Universität Osnabrück. Aktuelle Publikationen: Die neue Kunst der Gesellschaft. Wiesbaden. 2021, Kultur. Eine Einführung. Wiesbaden. 2019. www.stefan-lueddemann.de

Identitätspolitik löst keine Probleme

2. Juni 2021

Neue Herausforderungen für eine inklusive Kulturpolitik

Es geht ein Gespenst um in der Kultur – das Gespenst der Identitätspolitik. Derzeit vergeht kaum ein Tag, an dem sich nicht wenigstens ein Beitrag im Feuilleton der großen Zeitungen diesem Thema widmet, von den sozialen Medien ganz zu schweigen. Was vor Jahren noch eher ein Phänomen campusgestützter akademischer Debatten war oder sich vor allem auf reaktionäre Bewegungen im Umfeld der AfD und der ›Rechts-Identitäre‹ bezog, hat diese Enklaven längst verlassen und findet gegenwärtig Resonanz in Kunst und Kultur und in der Kulturpolitik. Der thematische Bezug und die Stoßrichtung der Argumentation haben sich jedoch verändert. Nicht mehr der Rechtspopulismus steht gegenwärtig im Zentrum der Kritik und der Auseinandersetzungen, was sie nicht weniger präsent und gefährlich macht, sondern die ›linke‹ Identitätspolitik, wie sie vor allem im Zusammenhang mit der Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten im Jahr 2016 bekannt geworden ist und sich seitdem auch in Westeuropa ausbreitet und diskutiert wird.

Die identitätspolitischen Debatten und deren tiefere theoretische und ideologiegeleitete Hintergründe und Kontexte sind mittlerweile kaum noch überschaubar und nachzuvollziehen und treiben seltsamste ›Blüten‹ bis hin zu überzogenen  Formen einer ›political correctness‹ und ›cancel culture‹, die nicht zuletzt mit antirassistischen, postkolonialen und queeren Bewegungen in Verbindung gebracht werden und den Kunst- und Kultursektor derzeit – zumindest diskursiv – durcheinanderwirbeln. Ausgestattet mit den Vokabeln der poststrukturalistischen Diskurstradition, des Postkolonialismus und der Gender Studies machen vor allem jüngere Menschen, die einen Status des Ausgegrenztseins für sich oder andere reklamieren, auf sich aufmerksam und fordern unter dem Label Diversity mehr Anerkennung, Repräsentanz und Sichtbarkeit für ihre jeweiligen Themen und Betroffenengruppen. Ihre Argumente sind dabei nicht gänzlich neu. Insbesondere die Forderungen nach mehr Chancengerechtigkeit und Diversität können sich auf die Programmatik der Neuen Kulturpolitik berufen.

Kulturpolitik als neue Gerechtigkeitspolitik

Es hat den Anschein, als erlebten wir derzeit eine Re-Politisierung der Neuen Kulturpolitik im Zeichen der Identitätspolitik und ihres Gerechtigkeitstopos mit allen Begleiterscheinungen, mit denen solche Prozesse in sozialen Bewegungen oft verbunden sind: eine gewisse Rigidität der Argumentation, die Überkonturierung der Positionen, die Selbstimmunisierung durch moralisch aufgeladene Begrifflichkeiten, unhinterfragbare Prämissen, rechthaberische Attitüden, intellektuelle Distinktion und aktives Framing der jeweils anderen Position als konservativ, reaktionär oder linksidentitär. Es geht dabei nicht nur um das Thema »Identität«, der Diskurs ist eine identitätspolitische Auseinandersetzung im links-liberalen politischen Spektrum, der mit harten Bandagen ausgetragen wird.

Manches dient der Klarheit, anderes der Diffamierung und geht in den extremen Ausprägungen bis hin zur Verachtung der Angesprochenen. Bisweilen kommt oft noch ein quasi-religiöser Diskursmodus hinzu, in dem die Kategorien Schuld, Scham und Opfer eine große Rolle spielen, die bei der Stabilisierung von Freund-Feind-Verhältnissen und den damit verbundenen identitären Selbstvergewisserungen behilflich sein mögen, aber einen rationalen und offenen Diskurs kaum noch möglich machen. Die eingesetzten Begriffe haben dabei – vor allem in ihrer adjektivischen Form (rassifiziert, migrantisiert, marginalisiert) – eine problematische Qualität, weil sie nicht nur Realität beschreiben, sondern sie gleichzeitig bewerten und eine Täter-Opfer-Beziehung herstellen. So verschwimmen wissenschaftliche Analyse, politisches Statement und moralische Empörung. Vor allem die kategorische Gegenüberstellung einer imaginierten Dominanzkultur und einer immer größer werdenden Zahl von intersektionalen Betroffenengruppen erschwert die diskursive Auseinandersetzung.

Aber so ist Bewegungspolitik – auch. Da hilft es nur, sich gelegentlich an die eigene Seite zu stellen, die Ausgangsfragen wieder vorzulegen und sich darüber im Klaren zu werden, was eigentlich das Ziel von neuer Kulturpolitik und Kulturförderung in einer aufgeklärten und offenen Gesellschaft war und ist, was erreicht wurde und auch nicht erreicht werden konnte. Es lohnt sich, dies auch in der gegenwärtig identidentitätspolitisch aufgeheizten Debatte zu tun, bevor sie aus dem Ruder läuft. Einige Beiträge des Diversity-Schwerpunktes der Kulturpolitischen Mitteilungen Nr. 172 und des Blogs »Neue Relevanzen« auf der KuPoGe-Website beziehen sich explizit auf die Neue Kulturpolitik, namentlich auf Hilmar Hoffmann als ihren – neben Hermann Glaser – renommiertesten Vertreter. Das ist auch nachvollziehbar. Immerhin hatte dieser die Formel »Kultur für alle« (1979) populär gemacht und hatte ganz sicher auch nichts gegen eine Kultur von und mit allen einzuwenden. Für die Neue Kulturpolitik waren beide Ansprüche konstitutiv: die Demokratisierung der Kultur mit der Forderung nach kultureller Chancengleichheit und die Kulturelle Demokratie als programmatischer Begriff für eine pluralistische Kulturpolitik, die auch als ein Ansatz für eine diversitätsbezogene Strategie gedeutet werden kann.

Förderungspolitisch waren beide Ansätze schwer umzusetzen. Der inklusiven »Kultur-für-alle-Option« wurde schon damals der Vorwurf der »kulturellen Volksbeglückung« [1] gemacht und die Kultur von und mit allen stand bei manchen Kritiker*innen in Verdacht, die »Kulturen des Alltags« [2] zu kolonialisieren. Trotz dieser Vorbehalte führten die Konzepte zu konkreten Fortschritten in der Kulturpolitik. Dies gilt sowohl für die Förderung und Vermittlung der zeitgenössischen Künste und des kulturellen Erbes wie auch für die diversen neuen (damals: alternativen) kulturellen Interessen und Szenen, auch wenn der Erwartungshorizont bei vielen Reformer*innen größer war. So sind die vielen neuen Konzepte, Einrichtungen und Projekte der Soziokultur, der freien Kulturszenen, der kulturellen Bildung und der zielgruppenbezogenen Kulturarbeit von, für und mit Frauen, Senior*innen, Migrant*innen, Menschen mit Behinderungen etc. in den unterschiedlichsten Varianten schon seit den 1970er Jahren aus diesen Ideen heraus entstanden, obwohl sie es förderungspolitisch im Verhältnis zur institutionell vermittelten Kultur schwerhatten und immer noch schwer haben.

Das Dilemma der Neuen Kulturpolitik bestand stets darin, dass weder die Strategie der Chancengleichheit noch die der kulturellen Vielfalt vollends aufgehen konnte und immer nur ein Versprechen blieb. Weder konnte es gelingen, dass alle Menschen das öffentliche kulturelle Angebot in Anspruch nehmen, weil die kulturelle Teilhabe auf Freiwilligkeit beruht und weil es auch faktisch kaum möglich wäre, für alle Interessen Angebote vorzuhalten, noch sind die kulturellen Lebensweisen der Menschen eine unproblematische Referenzgrundlage für die Kulturförderung der Öffentlichen Hand, will man sich nicht in die Gefahr der schon angesprochenen kulturellen Kolonialisierung begeben Vielmehr ging es der Neuen Kulturpolitik stets darum, die kulturelle Teilhabe als gleichberechtigte individuelle Option, sei es rezeptiv-konsumierend oder aktiv-partizipatorisch, zu fördern, um Menschen zu befähigen, Kunst und Kultur zu genießen und die kulturelle Demokratie leben zu können.

Kultur als Arena der Identitätspolitik

Der politische Kompromiss, den es in reformpolitischer Perspektive in der Neuen Kulturpolitik zwischen den etablierten Kulturinstitutionen und den neuen Kulturszenen zu verhandeln galt, war insofern alles andere als trivial und als Interessenausgleich schwer zu formulieren, was letztlich dazu führte, das Problem im Sinne einer Doppelstrategie additiv anzugehen. Offensichtlich wird diese Frage derzeit erneut und radikal herausgefordert, wenn etwa mit dem Hinweis auf »Diversität« und »Gerechtigkeit« verschiedenste partikulare Gruppen, die sich als marginalisiert verstehen oder so »markiert« sind, gefördert werden sollen und jenseits der Bühnen der sogenannten weißen »Dominanzkultur« der Mehrheitsgesellschaft eigene »nicht rassifizierte« Spielräume einfordern.

Ähnlich wie in den 1970er Jahren gerät die Legitimation der Kunst- und Kulturförderung in den Strudel gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen und wird so zur Arena eines Konflikts, der in den geschützten Räumen der Kultur Resonanz findet und symbolisch und medienwirksam ausgetragen wird. Insofern ist die Gerechtigkeitsdebatte von damals noch lange nicht zu Ende, sondern geht in die nächste Runde. Im Fokus stehen dabei kritisch die Museen (Stichwort: Raubkunst) und die Bühnenkünste (Stichwort: Hierarchie, weiße männliche Dominanz) und als Gegenüber erneut auch wieder die Akteure der freien Kulturszenen und der Soziokultur als Orte der Vielfalt sowie – heute verstärkt – die neuen Ansprüche, die mit den Menschen unterschiedlicher geschlechtlicher Orientierungen (LGBTQIA*), der Inter- und Transkultur sowie der postkolonialistischen und antirassistischen PoC-Bewegung verbunden sind, die sich als neue Akteure aktiv ins Spiel bringen.

Dabei geht es vordergründig zunächst weniger um materielle Dinge als um mehr Anerkennung, Repräsentanz und Sichtbarkeit der oben genannten Gruppen. Was auf den ersten Blick selbstverständlich und machbar erscheint, wenn es darum geht, den Personalbestand der Kultureinrichtungen oder die Kuratorien der Fördereinrichtungen – ggf. auch qoutengestützt –  diverser aufzustellen, offenbart sich bei näherem Hinsehen als Problem. So muss jedes Diversity-Konzept scheitern, wenn die für die Identitätspolitik konstitutive Idee der »Intersektionalität« Anwendung finden soll, weil die so konstruierten Betroffenengruppen personell gar nicht repräsentiert werden können, wenn denn der Begriff der Repräsentativität nicht bis zur Unkenntlichkeit überdehnt werden soll.

Wenn dann noch die Idee der »kulturellen Aneignung« ins Feld geführt wird, die in ihrer überzeichneten Auslegung nicht mal den »innergesellschaftlichen Kulturaustausch« [3] möglich macht, weil Verständigung gebunden wird an das Prinzip der »gelebten Erfahrung«, dann wird der Pfad demokratischer deliberativer Kulturpolitik verlassen. Wer nicht mehr den gemeinsamen (Theater-)Raum bespielen will und für die das Allgemeine und die universalistische Idee auch kein akzeptierter Referenzrahmen mehr darstellt, weil »white supremacy« und heteronormative Dominanzkultur dem entgegenstünden, der/die plädiert indirekt für ein System des kulturellen Separatismus und der (Selbst-)Segregation, dass dem demokratischen Anspruch der Kulturpolitik entgegensteht. Solche Auffassungen, die im identitätspolitischen Kontext vertreten werden, stellen die Kulturpolitik vor weit schwierigere Fragen als in den letzten Jahrzehnten, weil sie auf eine weitgehende Delegitimierung der bisherigen Programmatik und Praxis der (Neuen) Kulturpolitik hinauslaufen.

Der Diskurs wird entsprechend ernst zu führen sein. Irritierend ist jedoch nicht nur die möglicherweise noch nicht ausformulierte Erwartungshaltung der marginalisierten Bevölkerungsgruppen respektive ihrer selbst ernannten Sprecher*innen, sondern auch die Art, wie diese vorgetragen wird. Reformen sind in demokratischen Gesellschaften bekanntlich auf konsensbildende Prozesse angewiesen, wenn sie auf breite Resonanz stoßen sollen. Dafür braucht es die Bereitschaft zur Verständigung, die auf Vorannahmen und Unterstellungen weitgehend verzichtet und auf Verständlichkeit Wert legt, was gewiss nicht immer einfach ist. In vielen Beiträgen, die sich als Plädoyer für eine diversitätsorientierte Kulturpolitik ausgeben, ist diese Voraussetzung nicht zu erkennen. So fragt man sich, wie geschickt es ist, diejenigen, deren Zustimmung die Veränderungen bedürften, gleich zu Beginn des Prozesses als dominanzkulturelle Unterdrücker anzuprangern, die offenbar zunächst einmal eine Art Kollektivschuld abzutragen hätten.

Wenn etwa argumentiert wird, der Schlüssel zu einem Reformprozess in Richtung auf mehr Diversität und Anerkennung könne darin liegen, dass sich die betreffenden Institutionen zuallererst eingestehen, »jahrzehntelang rassistisch ausgeschlossen zu haben« und der Neuen Kulturpolitik »einen rassistischen Bias« unterstellt (Demir/ Annoff 2021), dann blendet diese Argumentation nicht nur die Öffnungserfolge der Neuen Kulturpolitik (nicht nur im soziokulturellen Bereich) bewusst aus, sondern provoziert in Kenntnis der Konnotationen, die der Begriff Rassismus in der (noch) aktiven Kulturpolitiker*innengeneration auslöst, einen Streit, der kaum noch produktiv werden kann. Ähnlich verhält es sich, wenn »Menschen aus verschiedensten Hintergründen, Realitäten und Betroffenheiten« gegen eine »homogene Masse« ins Verhältnis gesetzt werden, wie es in dem Beitrag von Sarah Elisabeth Braun geschieht. In solchen Zuspitzungen ist kein Angebot zur Diskussion zu erkennen.

Offenbar geht es darum aber auch nicht, sondern vor allem um einen Machtdiskurs, in dem Sprache als Machtmittel eingesetzt wird, wie es der Poststrukturalismus gelehrt hat. Dies lässt kaum Spielraum für Verständigung, die doch eigentlich immer beschworen wird. Identitätspolitik begründet in dieser Form keinen Fortschritt und schon gar nicht für mehr Inklusion. Bei aller zugestandenen Asymmetrie der bestehenden Machtverhältnisse zuungunsten der Marginalisierten und der Ungeduld der Aktivist*innen: Beschämung löst keine Probleme, sondern schafft neue. Immerhin aber – auch das muss konstatiert werden – ist eines erreicht: Gerechtigkeit ist wieder ein Thema der Kulturpolitik.


[1] Fohrbeck, Karla (1979): Kulturbedürfnisse und kulturelle Infrastruktur, in: Deutscher Gewerkschaftsbund (Hrsg.): Gewerkschaftliche Kulturarbeit (Tagungsdokumentation), Düsseldorf

[2] Pankoke, Eckard (1982): Kulturpolitik, Kulturverwaltung, Kulturentwicklung, in: Hesse, Joachim Jens (Hrsg.): Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft. Politische Vierteljahresschrift, Vol. 13, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften

[3] Hermann Glaser/Karl Heinz Stahl (1974): Die Wiedergewinnung des Ästhetischen. Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur, München: Juventa


Autor

Dr. Norbert Sievers ist wissenschaftlicher Berater des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. Er war (Haupt-)Geschäftsführer der Kulturpolitischen Gesellschaft und hat zahlreich zum Thema Kulturpolitik publiziert.

Digitalisierung der Kunstförderung? Zeit für neue Strukturen!

19. Mai 2021

Es ist an der Zeit, die Kunstförderung neu zu gestalten und in das Zeitalter der Digitalisierung zu überführen. Dabei sollten wir endlich die Bürokratie minimieren und die Autonomie maximieren. Wie das klappen könnte und warum die Kunst durch ein falsches Verständnis von Förderung an Relevanz verliert, möchte ich hier skizzieren.

Beginnen möchte ich bei einer wesentlichen Grundannahme: Kultur und Kunstförderung sind für eine freie und demokratische Gesellschaft notwendig und sinnvoll. Die fördernden Strukturen in Deutschland sind historisch gewachsen, und Kritik am Fördersystem ist ähnlich alt: Alle Jahre wieder gibt es zu viel Geld oder zu wenig; manchmal ist es die Art der Förderung, die bemängelt wird. Trotzdem lässt sich auch beobachten, dass es eine noch nie dagewesene Vielfalt von öffentlichen und privaten Förderungen gibt – sowohl in der Art der Förderung als auch in der Ausgestaltung der Fördermaßnahme. Mit Blick auf diese Vielfalt von Finanzierungsmöglichkeiten sollte man meinen, dass Kunst aktuell die besten Entfaltungsmöglichkeiten seit je hat. Dass dies nicht der Fall ist, erfährt man schnell, wenn man quer durch die Republik mit Künstler*innen spricht, die tief im Fördersystem stecken und zugleich Kritiker*innen und Nutznießer*innen des Ganzen sind. Dabei lassen sich drei Kritikpunkte identifizieren, die immer wieder genannt werden: Bürokratie, Ökonomie, Autonomie. Zugespitzt formuliert: Bürokratie durch (falsche) Ökonomie führt zum Verlust der Autonomie.

Kunst trifft Wirtschaft

Die letzten Jahrzehnte der Kunstförderung waren geprägt von einer zunehmenden ökonomischen Orientierung und einer damit verbunden Denk- und Handlungsweise. Dies lässt sich am offensichtlichsten an der Sprache und der Ausgestaltung von Förderanträgen feststellen: Zielgruppen, Indikatoren, der Nutzen für die Gesellschaft und Wirkungsberichte werden zunehmend gefordert. Letztes Jahr zum Beispiel ließ die Robert-Bosch-Stiftung verlauten, Kulturförderprogramme wie Grenzgänger ganz einzustellen, um die Förderung »strategisch neu auszurichten«. Was allerdings diese Neuausrichtung bedeutet, darauf gibt es bisher keine Antworten. Zumindest das verwendete Vokabular aus der Wirtschaftlichkeitsuntersuchung suggeriert die Vorstellung von einer Förderung, die bei Einsatz von minimalem Kapital eine maximale Wirkung entfalten muss. Diese Kosten-Nutzen-Logik richtet auch Schaden in anderen Bereichen der Gesellschaft an. Denn was ist der Nutzen von Kunst? Gibt es einen Output, der sich messen und vergleichen lässt? Wie soll Wirkung gemessen werden, wenn ein Kunstwerk unter Umständen erst nach Jahrzehnten seine Kraft entfaltet?

Auch ökonomische Betrachtungsweisen haben auf diese Fragen keine befriedigenden Antworten – darüber herrscht bei Kunstschaffenden große Einigkeit. Trotzdem versuchen Förderinstitutionen ihre Unterstützung immer feiner zu justieren – mit mehr Wettbewerb, mehr Indikatoren und noch viel mehr Evaluationen.

Der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger hat die Fehler der künstlichen Wettbewerbskultur als Marktersatz offengelegt. In der Kunst- und Kulturförderung führt diese Dynamik beispielsweise dazu, dass die Antragsberechtigten eine eigene ›Antragsprosa‹ entwickeln und ihre Kunstprojekte optimal den Indikatoren anpassen – sowohl bei Antragstellung als auch bei der Evaluation. Die Antragssteller*innen kennen in der Regel die aktuellen Trendthemen und wissen, wie man sein Projekt ausrichten muss um Geld zu bekommen. Im schlimmsten Fall steht nicht mehr die künstlerische Fragestellung, nicht mehr die Betrachter*innen und auch nicht mehr die Gesellschaft im Vordergrund. Neue Zielgruppe sind die Förderinstitutionen und ihre Indikatoren. Folglich wird zeitgeistige Relevanz geschaffen – für mehr reicht die Puste nicht. Ein aktuelles und wunderbares Kunstwerk, welches die Logik dahinter verdeutlichen kann, ist der Smart Bot Endless Runder des Stuttgarter Künstlers Fabian Kühfuß: Ein Roboterarm, dem die Puste niemals ausgeht, simuliert seinem Fitnesstrackerarmband sportliche Daueraktivität mit dem Ziel, die fittesten Messdaten im sozialen Netzwerk zu haben – und die Konkurrenz links liegen zu lassen.

Kunstmarkt vs. Kurator*innenmarkt

In manchen Kunstförderprogrammen lässt sich Ähnliches beobachten: Künstliche Wettbewerbe in Kosten-Nutzen-Logik, aus denen die Kunstförderung heute überwiegend besteht, führen nicht zu künstlerischer Effizienz oder präziser ökonomischer Steuerung und erst recht nicht zu mehr Relevanz, einem höheren Wahrheitsgehalt oder ästhetischer Sprengkraft. Vielmehr verstärken diese Entwicklungen ein Schisma der Kunst, welches der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich wie folgt charakterisiert: »Auf der einen Seite entsteht die reine, ästhetische Kunst für den Kunstmarkt. Auf der anderen Seite die Kurator*innen-Kunst, deren Qualität anhand ihrer moralischen und politischen Botschaft beurteilt wird.« Damit ist zu befürchten, dass den Künstler*innen, die weder dem ökonomischen Pol Kunstmarkt noch dem anderen ökonomischen Pol (Kurator*innenmarkt) angehören, langsam aber sicher der Atem ausgeht.

Die Kunst wird in Zukunft aber nur ihre Relevanz erhalten, wenn eine ausgewogene und verbindende Kunstförderung etabliert werden kann, welche die Autonomie der Kunst fördert. Die Digitalisierung schafft dafür die Grundlage: Wir müssen den Algorithmen die Förderentscheidungen überlassen! Nur so können wir die Bürokratie minimieren und die Autonomie maximieren. Doch nach welcher Ökonomie beziehungsweise welchen Kriterien und welchem Dateninput sollen die Algorithmen Entscheidungen treffen? Dazu muss man verstehen, wie Algorithmen funktionieren. Der Philosoph Matteo Pasquinelli formuliert das so: »Algorithmen machen im Prinzip nur zwei Dinge – Muster finden und Abweichungen von Mustern aufdecken«. Da stellen sich die Fragen: Welche Daten haben wir? Welche Muster können wir erkennen? Und was ist die Entscheidung? Können wir ›das Muster der Kunst‹ erkennen? Oder, noch besser – das Muster der ›guten‹, förderwürdigen Kunst?

Selbstverständlich ist das skizzierte Szenario ein Irrweg, der im digitalen Kapitalismus gerne gemacht wird, denn: Kunst ist nicht definierbar und bildet immer wieder neue Formen heraus, die in das Andere eingegliedert werden muss. So zeigt dieses Gedankenexperiment vielmehr, wie die Digitalisierung, wenn wir den heutigen ökonomisch institutionalisierten Denkrahmen übernehmen würden, das Ende der künstlerischen Autonomie bedeuten. Das Wissen darum, was Kunst ist, ist den Menschen schon länger verloren gegangen – und eine Maschine wird das nicht lösen. Egal, wie viele Daten sie erfasst.

Förderung der Künstler*innenschaft

Was wir stattdessen tun können ist, unser Förderkriterium daran anzupassen, was für Muster ein Algorithmus sinnvoll erkennen kann. Die Förderentscheidung muss von den ökonomischen Kriterien befreit werden (keine Kosten-Nutzen-Logik, kein Name und auch keine künstlerische Idee braucht eine Rolle zu spielen). Allein ob der/die Antragsteller*in kunstschaffend ist und zum Kunstmilieu gehört, ist entscheidend. Hier reichen Metadaten über die gegenseitige Vernetzung im Kunstmilieu. Mit dieser Veränderung kämen wir der Maximierung von künstlerischer Autonomie schon ziemlich nahe.

Das bedeutet aber, dass wir allen, die zum Kunstmilieu gehören, eine Förderung zugutekommen lassen – und damit wären wir sehr nahe an einer Art Grundeinkommen für Kulturschaffende, wie es gerade in der Corona-Krise verstärkt gefordert wurde. Vielleicht wäre das für die Kunst das Paradies auf Erden? Eher nicht, denn wir wollen die Erkenntnis nicht vergessen: Ein wenig Angst und Arbeit schadet nicht. Idealerweise würde der Algorithmus doch eine Bewertung vornehmen und versuchen, die oberen 25 % und die unteren 25 % des Kunstmilieus von einer Förderung auszuschließen (nach einer Standard-Normalverteilung). Das heißt, die stark Vernetzten und damit erfolgreichen und die, die gerade erst in das Netzwerk aufgenommen werden, fallen raus.

Wobei diese Grenzen diffus sind und es optimalerweise keine Sicherheit gibt. Die radikale Folge wäre, dass die Kunstproduktion erst einmal autonom ist, auch von der Kunst selbst – sofern man zum Kunstmilieu gehört. Dies würde viel Bürokratie und komplizierte Förderstrukturen sparen. Es wäre spannend sich zu überlegen, was mit der Relevanz und Wertzuweisung passieren würde? Hätten wir bald zu viel Kunst? Mehr Kunstabfall? Sollten wir die Größe des Kunstmilieus begrenzen, um einen klaren Kostenrahmen für die Gesellschaft zu definieren? Es ist zumindest anzunehmen, dass die Kunst einen längeren Atem haben würde und der ökonomische Druck nachließe. Unbedingt müssten wir diskutieren, ob der Grad an Vernetzung ›Erfolg‹ im Kunstmilieu definiert, ohne nur einseitig auf den Kunstmarkt, den Kurator*innenmarkt oder abseits davon zu schauen.

Die Digitalisierung kann uns befreien und es wird Zeit, dass die Künstler*innen das Fördersystem in ihrem Sinne reformieren. Hierzu gehört es auch, die Beziehung zwischen Kunst und Geldgeber*innen (die häufig extern sind) zu beleuchten und den zunehmenden Rechtfertigungsdruck zu hinterfragen. Denn durch die schleichende Ökonomisierung der Kunstförderung und den Versuch, Kunst vergleichbar, verfügbar, berechenbar, förderbar zu machen, geht die Berührung durch das unverfügbar Andere der Kunst verloren. Die künstlerische Relevanz oder Resonanzfähigkeit, wie der Soziologe Hartmut Rosa sagen würde, wird weiter abnehmen und damit gerade das reduzieren, was die Gesellschaft in der Kunst zu suchen scheint.

Die Digitalisierung der Kunstförderung könnte den Verlust beschleunigen oder aber einen dauerhaften unverfügbaren, autonomen und kontradiktorischen Kosmos in einer sonst ökonomisch digitalisierten Welt schaffen. Es ist an der Zeit, unterschiedliche Ideen für eine bessere, digitale Kunstförderung zu diskutieren und kulturpolitische Grundlagen zu schaffen, um die Relevanz der Kunst zu stärken.

Autor

Foto: Sebiastian F. Meyer

Herr Clair Bötschi ist Künstler, Autor und Kulturmanager aus Stuttgart. Er forscht an den Verhältnissen und Beziehungen von Kunst zu Wirtschaft. Dabei liegt sein Schwerpunkt auf einer künstlerischen Praxis, die ökonomische Strukturen nutzt, entwickelt oder verfremdet – um damit selbst Kunst zu machen. Er arbeitet unter anderem als Projektleiter für den Kunstverein Wagenhalle und befasst sich mit innovativen digitalen Strategien in der Kunstförderung, Kunstproduktion und Kunstvermittlung.

Warum auf die Not warten, um erfinderisch zu werden?

12. Mai 2021

Geld ist Macht. Diese Aussage ist so kurz wie sie irritierend erscheinen mag. Ich denke viel über Geld nach, oder genauer: Wie dieses im Rahmen der öffentlichen Kulturförderung (in meinem Falle der EU) eingesetzt wird und was antragstellende Einrichtungen tun müssen, um an dieses Geld zu kommen. Trotzdem bin ich oft überrascht darüber, wie wenig viele andere und sogar ich selbst am Ende dann doch über Geld nachdenken. Und dass wir uns selten fragen, wie Geld Möglichkeiten schafft oder verhindert.

Angeregt zu diesen Gedanken hat mich der Artikel von Dr. Henning Mohr in ebendieser Reihe #neueRelevanz der Kulturpolitischen Gesellschaft, meinem Arbeitgeber. Am 23.12. veröffentliche Henning Mohr seinen Artikel »Selbstbezüglichkeit statt Relevanz. Transformationsdefizite öffentlich geförderter Kulturorganisationen«. In diesem Text geht er der Frage nach, wie in öffentlich geförderten Kultureinrichtungen mehr Innovation entstehen kann und wie die »Transformationsdefizite des Sektors« behoben werden können. Diese Frage brennt mir ebenso unter den Nägeln und mit diesem Beitrag möchte ich in einer Antwort näherkommen.

Henning Mohr kommt in seinem Text unter anderem zu dem Schluss, dass die dauerhafte Förderung durch die öffentliche Hand dafür sorgt, dass alles so bleibt wie es ist. Weil gefördert wird, was man eben immer schon so gemacht hat. Es bestehe »angesichts dieses in der Regel einigermaßen sicheren Finanzrahmens […] innerhalb der Systeme keine Pflicht zur Legitimation gegenüber fördermittelgebender Instanzen und damit auch kein Anpassungsdruck«. So sehr ich dieser Analyse grundsätzliche zustimme, will ich andere Konsequenzen daraus ziehen. Denn für mich steckt in dieser Schlussfolgerung der Glaubenssatz, dass Not erfinderisch macht. Und weil die öffentlich geförderte Kultur zu wenig erfinderisch ist, muss – überspitzt ausgedrückt – Not geschaffen werden.

Künstliche Verknappung

Ich denke diesen Ansatz für einen kurzen Moment weiter: Der sichere Finanzrahmen öffentlicher Förderung sorgt also für eine andauernde Selbstbestätigung und verhindert Veränderung. Das kann ich nachvollziehen:  Man macht damit weiter, wofür man das Geld bereits das letzte Mal bekommen hat. Wie bringen wir also das System und mit ihm die Menschen dazu, sich zu ändern? Indem wir Geld erst wieder vergeben, wenn der Wille zur Veränderung sichtbar wird? Indem wir für finanzielle Knappheit sorgen? Ich denke, dass dieses Szenario möglich ist, aber nicht notwendigerweise so eintritt. Das einzige was an dem Ansatz Not macht erfinderisch jedoch sicher ist, ist die Not. Auf die Erfindung kann man dann bestenfalls noch hoffen.

Es wird sicherlich deutlich, dass ich vor allem die Vorstellung ablehne, dass Innovation nur durch äußere (ökonomische) Zwänge entsteht. Willkommen in der Welt des Homo Oeconomicus! Und ich gehe noch weiter und befürchte, dass finanzielle Not in stark hierarchisierten Kultureinrichtungen, wie unser Land sie zu genüge hat, diese Hierarchien zementieren statt auflösen wird. Und schließlich diejenigen übrigbleiben, die schon zuvor verhindert haben, dass sich etwas ändert.

Geld ist Macht

Damit zurück zu meinem Anfangsgedanken: Ich bin natürlich überzeugt davon, dass die Art und Weise, Geld auszugeben, Veränderung schafft. Das steckt für mich hinter dem Gedanken, dass Geld Macht ist. Deswegen will ich mehr über Geld reden! Nicht, weil ich machtbesessen bin, sondern weil ich Veränderung will. Und die hängt früher oder später immer am Geld. Es ist aber gar nicht so einfach über Geld zu sprechen in einer Branche, in der eigentlich niemand so richtig über Geld reden will. Vielleicht, weil wir es nicht gelernt haben oder weil es uns nicht interessiert oder wir gelernt haben, uns nicht dafür zu interessieren. Letzteres kann ich nach einem geistes- und sozialwissenschaftlichem Studium für mich reklamieren. Zweieinhalb Jahre Budgetplanung für den CED KULTUR und zahlreiche Beratungen von Kultureinrichtungen zu europäischen Kooperationsprojekten später bin ich anderer Meinung: Ich interessiere mich für Geld, weil es Veränderung erlaubt.

Die Diskussion um Geld für Kultur, die Kulturförderung, findet meines Erachtens aber allzu oft nur zwischen zwei argumentativen Polen statt: Zwischen denen, die mehr Geld fordern, und denen, die erwidern, dass diese Forderung nach mehr Geld schon vor Jahrzehnten gestellt wurde und sich trotzdem nichts geändert hat. Beide Positionen scheinen nachvollziehbar. Aber wenn weder weniger noch mehr die Lösung ist, müssen wir dann überhaupt über Geld reden? Ja, denn wir müssen darüber sprechen, wie es beantragt werden kann, wie es vergeben und wie kalkuliert wird.

Ein langes Gespräch

Geld vergeben und ausgeben muss erfinderisch werden. Denn Geld ausgeben ist eine Kunst, die inhaltliche Arbeit ermöglichen kann. Hier liegen die Herausforderungen: Wie verändere ich eine öffentliche Kulturförderung, sodass sie CO2-Reduktion zur Maxime erhebt? Oder sich einem intersektionalen Feminismus verschreibt? Oder sich selbst dekolonialisiert und die eigenen Praktiken rassismuskritisch hinterfragt? Damit sie das ermöglicht, was Sarah Braun ebenfalls in dieser Reihe fordert: »Deutungsräume für alle. Deutungshoheit für niemanden.«

Zu diesen Überlegungen gibt es sowohl deutschland- als auch europaweit bereits Menschen und Initiativen, die gute Ideen haben und umsetzen. Ich bin wahrlich nicht die Erste, die diese Fragen aufwirft. Aber sie treibt mich um und an: Wie schafft man Förderstrukturen, die das sind, was wir fordern: innovativ! Darüber müssen sich meines Erachtens alle Gedanken machen, die am Spiel beteiligt sind: Öffentliche Einrichtungen, die institutionelle Förderung erhalten, genauso wie Organisationen, die hauptsächlich Projektförderung erhalten. EU, Bund, Länder, Kommunen und private Fördereinrichtungen.

Ich möchte nicht auf die Not warten, um erfinderisch zu werden. Ich will jetzt über Geld reden. Auch wenn es ein langes Gespräch wird.


Autorin

(c) Roland Baege

Lea Stöver hat Ethnologie und Germanistik studiert und leitet seit August 2018 den Creative Europe Desk KULTUR (CED KULTUR). Gemeinsam mit ihrem Team berät sie Kultureinrichtungen und Kulturschaffende zu den Fördermöglichkeiten des EU-Programms Kreatives Europa KULTUR. Die Kulturpolitische Gesellschaft e.V. ist Träger des CED KULTUR.

Cancel Culture. Vom Unsagbaren in der Kulturpolitik

5. Mai 2021

Disclaimer:
Vorsicht Triggerwarnung!
Dies ist ein neoabstraktes, literarisch-kubistisches Kunstwerk:
70% zynisch & sarkastisch, 20% »Ich kann es nicht fassen« und 10% »Ja, das ist mein Ernst«!
100% Satirisch

Wann immer Realpolitik sich davor drückt, klare Entscheidungen durch klare Haltungen, durch klare Rahmen und Grenzen, durch antigierende und integrierende Gesetze, sich selbst, also die eigene Essenz zu gestalten, immer dann wird in diesem großen Schweigen und Nichthandeln die Kulturpolitik den Preis der Prokrastination, der Stagnation, der flüchtenden Hochleistungspolitik zahlen müssen – zusammen mit der Kulturgesellschaft. Und wie das so ist, wenn die geforderte Zahlung verschleppt wird, …es wird teurer, für alle.

Wenn es Missverständnisse über die Grenzen sowie die Abgrenzung der Demokratie gibt, zum Beispiel zum Faschismus in Deutschland, wäre zur Klärung das Grundgesetz die Essenz, die es nach unserem Demokratieverständnis zu befragen gelte. Denn unser Grundgesetz ist unmissverständlich – selbst dann, wenn es interpretiert werden würde.

Wie kamen wir also zu einer Demokratie, die Faschismus als Meinungsspektrum legitimiert, obwohl klar ist, dass Faschismus ein absoluter Zersetzer, ein Endgegner per Definition jeder Demokratie ist?

Es gibt keinen demokratischen Faschismus.
Das eine schließt das andere nun einmal aus.

Ebenso gibt es kein gefrorenes Feuer und keine kochendheißen Schneeflocken!

Faschistische Systeme können demokratische Systeme übernehmen.

Demokratische Systeme können aber keine faschistischen Systeme übernehmen.

In faschistisch politischen Systemen kann Demokratie nicht durch Landtagswahlen zurückgewählt werden. Wieso kann man also in einem demokratischen System Faschismus wählen?

Wenn also die Abschaffung der Demokratie in einer Demokratie möglich ist, kommt dies einer Abtreibung des Grundgesetztes gleich.

Behaupten wir, dass die Demokratie eine Frau ist und verheiratet mit dem Faschismus, ihrem Ehemann. Ist Demokratie eine Frau, die von ihrem faschistischen Ehemann misshandelt und missbraucht wurde, was letztlich unweigerlich zu ihrer Ermordung führen wird? Eine Frau, die es nicht geschafft hat ihren massiv gewalttätigen Ehemann Faschismus zu verlassen?

Obwohl diese Frau weiß, dass es ihren Tod bedeutet, bleibt sie mit ihren Kindern bei ihm.

Was also würde sie brauchen, diese Frau, um zu überleben und ihren Kindern eine faschismusfreie Zukunft zu ermöglichen?

Ihre Verwandten und Freunde bekommen das natürlich mit. Einige von ihnen sagen: »Naja, so schlimm ist es ja nicht. Du siehst ja noch ganz gut aus und so ist er nun mal. Du wirst lernen damit zu leben. Anderen Ländern geht es noch viel schlechter.« Andere raten ihr die Strategie der Wehr, denn schließlich sollten Frauen für sich einstehen. Die Frau Demokratie muss emanzipiert sein.

Der faschistische Ehemann richtet seine Gewalt nun auch gegen die eigenen Kinder.

Die Frau Demokratie bemerkt, dass ihre Kinder lieber auf der Straße sind, anstatt nach Hause zu kommen. Sie schreien verzweifelt: »Wir sind das Volk!«

Sie sucht das Gespräch mit ihrem Mann Faschismus in endlosen Talkshows.

Die Moderation übernimmt eine kluge Person, studiert, die immer wieder fragt, was denn die Frau falsch gemacht habe, um das gewalttätige Verhalten ihres Mannes Faschismus auszulösen?

Diese kluge studierte Person fragt die Frau Demokratie, ob sie sich diese Gewalt von ihrem Mann nicht einbildet? Ob das wirklich passiert? Denn es ergeht ja nicht allen verheirateten Frauen so, wie ihr.

Die Frau Demokratie wird auch gefragt, ob es nicht doch daran liegt, dass sie als Nicht-Mann, also als Frau, die Werte ihres Mannes nicht verstehen kann? Weil sie ja als Frau kein Mann ist und somit dessen Kultur, Sprache, Werte und Gebräuche nicht wirklich verstehen kann. Eigentlich ist sie ja auch ein Einzelfall, denn nicht alle faschistischen Ehemänner schlagen und misshandeln ihre Frau, die Demokratie.

Die kluge und studierte Person fragt, ob jemand vor der Frau Angst haben müsste, ob ihr Frausein nicht doch einen zu großen Unterschied zu der biologischen Kultur ihres Mannes als Mann darstellt? Vielleicht kommt es nur deshalb zur Ablehnung ihres Mannes, weil sie sich nicht richtig in die Werte der freiheitlichen Grundordnung als Meinung ihres Mannes Faschismus integrieren will.

Sie will seine Sprache weder lernen, noch verstehen oder sprechen, und der Mann versteht, dass sie das als Frau ja auch nicht kann und niemals können wird – weil sie kein echter Mann ist, rein von der biologischen Kultur her. Das ist einfach grundverschieden.

Dann fragt die kluge studierte Moderation die Frau nach ihren Erfahrungen mit ihrem Mann, und als die Frau anfängt zu erzählen, dass es mit Beschimpfungen und furchtbaren Ausdrücken ihres Mannes anfing und sie das unheimlich beschämte, weil es immer mehr wurde mit der Zeit, immer schlimmere Erniedrigungen dazu kamen. Beispielsweise das Anspucken vor den Schlägen und dann die Schläge in ihr Gesicht.

An dieser Stelle hakte die Moderation ein und fragte, ob sie das nicht doch missverstanden hätte, denn sie kennt andere Frauen, die in dieser Situation ganz anders reagieren und diese Beschimpfungen ganz anders einordnen und auffassen würden und das gar nicht problematisch finden.

Und diese kluge und studierte Person sagt, dass die Frau auch bedenken müsse, dass ihr Mann Faschismus das ja gar nicht so gewalttätig meint, wie er handelt.

Nutzt sie nicht die Toleranz ihres Mannes aus, da er ihr wirklich großzügig Verständnis entgegenbringt und auch einräumt, dass er natürlich sieht, dass die Frau kein echter Mann ist, und sie kann es als Frau natürlich auch nicht werden, egal wie sehr sie sich darum bemüht, auch dann nicht, wenn du hier in der schon vierten Generation als Frau geboren bist. Sie müsste sich ganz einfach in die Leitkultur des Mannes integrieren, auch wenn er sie schlägt, und da sie das Recht auf eine Opferberatung hat – was nicht jedes Land für Frauen anbietet müsste! – müsse sie sich glücklich schätzen hier zu sein. Hier gibt es auch ein Frauenhaus in das sie flüchten könne vor ihrem gewalttätigen Mann, wenn sie das Verhalten ihres Mannes als gewalttätig empfinde.

Und dass diese Gewalt von ihrem Mann auch eine Meinungssache ist. Nicht jeder, der sie schlägt und misshandelt, meint das auch so.

Sie ist ja schließlich die Demokratie und müsste das auch aushalten können.

Oder wurde sie einfach in ein Frauenhaus namens Cancel Culture eingewiesen?

Wo für Opferisierte wie sie ein sicherer Platz geschaffen wurde, wo sie mit Sicherheit schwach und hilflos bleibt, sodass ihrem Täterisierten also bestätigt wird, dass ihm als legitimierter gewalttätiger Faschismus-Ehemann der Zugang verwehrt bleibt. Ungehindert in seiner Bewegungsfreiheit hat er den sicheren Platz im öffentlichen Raum, denn dieser ist ja für die Frau immer eine Gefahr.

Warum also muss der Täter nicht in ein Männerhaus und wird dort beschützt vor seiner Gewalt, die sein Leben zerstört, weil er damit ihr Leben zerstört?

Warum ist der Täter nicht das Opfer?

Ist nicht das eigentliche Opfer des Täters das Opfer-zum-Täter-Machen, damit es nicht mehr Opfer sein muss sondern Täter sein kann? Ist derjenige Opfer, der sein Tätertum opfert, um das Opfer zum Täter zu machen?

Oder ist das Opfer zum Täter geworden, weil es das Opfer ist, das den Täter durch sein Opfer überhaupt erst zum Täter gemacht hat?

Wäre der Täter auf einen weiteren Täter getroffen, wer von den beiden wäre das Opfer?

Und würden zwei Opfer aufeinandertreffen, wer von ihnen wäre dann Täter?

Genau!

Also ist doch die Frage, die Frau Demokratie umtreibt, ob die freiheitliche Grundordnung des Grundgesetzes Faschismus und Rassismus nicht auch als Wert schützen muss?

Ist Faschismus und Rassismus in einer Demokratie schützenswert?

Und wo würde da die Grenze sein?

Wenn Rassismus und Faschismus, antirassistische und antifaschistische Positionen sich als Unwert und Unrecht  gegenüberstellen, ist das dann Demokratie und Meinungsfreiheit?

Würden Rassist*innen und Faschist*innen, Nicht-Rassist*innen und Nicht-Faschist*innen canceln?

Oder würde eine faschistische Kulturpolitik diese als schützenswert fördern müssen?

Und wenn Antifaschist*innen und Antirassis*innen Faschist*innen und Rassist*innen als Unwert und Unrecht einander gegenüberstellen, wären sie dann noch verfassungstreu im Grundgesetz?

Haben Faschist*innen und Rassist*innen nicht das Recht, so behandelt zu werden, wie sie es selbst für alle anderen wollen?

Genau!

Müssten nicht auch in einer Demokratie Faschist*innen und Rassist*innen durch die Kulturpolitik gefördert und unterstützt werden?

Oder ist das Grundgesetz faschistisch gegenüber faschistischen und rassistischen Positionen?

Und wieso kommt der faschistische Ehemann, der Gewalt ausübt, nicht sofort in U-Haft und wird von der Staatsanwaltschaft angezeigt?

Und was sagt nun der faschistischer Ehemann zu dem verwehrten Zugang zu seiner Frau, die vor seiner Gewalt in das Cancel Culture-Frauenhaus flüchtet?

Sagt er nicht sowas wie: Dass er das völlig daneben findet (während er öffentlich und vogelfrei in der Gesellschaft rumturnen kann) und es nicht sein könne, dass ihm der Zugang gecancelt wird, denn das würde seine Freiheit, seine Meinungsgewalt über seine Frau Demokratie auszuüben, ihn quasi in seinem Grundgesetz einschränken? Die Anti-Würde, Artikel 1, freiheitlichen Grundordnung verletzt, Meinung, Existenz cancelt

Und eine Frau Demokratie müsse das schon aushalten, sonst ist sie ja keine Frau Demokratie mehr.

Und wenn die Frau Demokratie das nicht aushalten will, dann nur, weil sie in Wahrheit ein faschistisches Stück Scheiße ist, das mir den Mund verbieten will und so tut, als sei sie besser als ich, dabei ist sie genauso wie ich. 

Auch wenn ich ihre Existenz dann versehentlich auslöschen könnte, darf sie die Ermordung ihrer Existenz nicht ausschließen, indem ich keinen Zugang mehr habe und meine Gewalt in dem Frauen-Cancel-Culture-Haus ausgeschlossen wird.

Das ist doch per Definition keine Demokratie.

Ist Cancel Culture also eine Form von faschistischer Demokratie?

Ist das Frauen-Cancel-Culture-Haus das Problem für die Demokratie – oder die faschistische Gewalt, die bestimmen will, was existieren darf und was nicht?

Ist also der Ausschluss von Rassist*innen das Problem der Meinungsvielfalt oder sind die Rassist*innen das Problem, die bestimmen, die ein Grundecht wollen, welche und wer als demokratische Meinungsvielfalt existieren darf und welche Meinungsidentität eben nicht?

Habe ich als misshandelte Demokratie nicht die Pflicht, mein Recht auf gewaltfreie Existenz einzufordern und mich mit all meinem Mut und meinen Möglichkeiten für den Ausschluss von Faschismus und Rassismus, welche mich entsorgen wollen, jagen wollen, mich erniedrigen und bedrohen, mich an der Grenze erschießen wollen, oder wie in Halle und Hanau erschossen haben, entgegen zu stellen und zu sagen: »Nein sorry, dein Verhalten ist gecancelt!«

Wenn Frau Baydars Existenz, ihr Leben von Faschist*innen und Rassist*innen mit dem Tode bedroht wird, ist das dann Cancel Culture?

Wenn Frau Lisa Eckharts Lesung im Nochtspeicher Hamburg wegen der Bedrohung, den Kulturort Nochtspeicher zu beschädigen, abgesagt wird, ist das dann Cancel Culture?

Ist das eine Kultur, die mein Leben cancelt, weil ein Anderer sein demokratisches Grundrecht auf freie Meinungsäußerung hat und lebt dieser Andere noch, wenn seine Meinung kritisiert und abgelehnt wird?

Ist also die Würde des Menschen, das Recht auf Leben, wichtiger? Oder ist das Recht auf freie Meinungsäußerung, die eben auch faschistisch und rassistisch sein kann mehr wert, als das Leben, das es entwertet?

Ich wurde im Übrigen noch nie von Antirassist*innen oder Antifaschist*innen mit dem Tode bedroht.

Aus irgendeinem Grund sind sie an meinem Ableben nicht im mindesten interessiert.

Hmmm

Genau!

Ich selbst habe Rassist*innen und Faschist*innen auch noch nie mit dem Tode gedroht, verzeihen Sie mein undemokratisches Verhalten, ich war aus purem Egoismus zu beschäftigt damit, Faschist*innen, die mich töten wollen, zu überleben. Das macht mich wohl zu einer schlechten Demokratin, die einfach das Prinzip des demokratischen, faschistischen Meinungsspektrums nicht verstanden hat.

Wie würde hier also eine Neuausrichtung aussehen?

An dieser Stelle muss ich lachen, mit Verlaub, das kommt also ganz darauf an, an welcher Stelle des berühmt und berüchtigten Meinungsspektrums Sie selbst stehen, jeder einzelne kulturpolitische Körper ist es, der da zählt.

Welcher Standpunkt möchte denn etwas Neues?

Die Demokratie hat sich doch noch nicht einmal entschieden, etwas Neues zu wollen, denn natürlich wirft das-Neue-wollen die Frage auf:

Wenn Faschismus und Rassismus nicht mehr Teil des Meinungsspektrums sind, was würde sie ersetzten, was müsste seinen Platz einnehmen?

In Kreuzberg Berlin hat man den ersten Mai, den Tag der Arbeit und Arbeiter*innen-Demonstrationen /Krawalle mit einer 1. Mai Party ersetzt, vielleicht wäre das ein passender Ersatz für faschistische Demonstrationen.

Die Demokratie feiert die Faschist*innen einfach weg, so wie sie die Arbeiter*innen weggefeiert hat.

Nun gut, es gibt keine Arbeiter*innen mehr, sie wurden ersetzt mit Lohnempfänger*innen; etwas zu ersetzten, was es eh nicht mehr gibt, ist schon leichter, das räume ich ein.

Und welche zukunftsweisenden Strategien sollten von Kulturorganisationen entwickelt werden?

Ich halte adäquate Angebote für die beste Strategie.

Vielleicht ist die Zeit reif dafür, endlich Faschisten*innen und Rassisten*innen als Opfer der Demokratie zu sehen.

Vielleicht wäre es an der Zeit, ihnen einen Ort ähnlich dem Prinzip des Frauenhauses zu schaffen.

Ein Reservat 88 nur für die Deutschen, die gerne unter sich bleiben möchten, ausschließlich deutsch essen, trinken, leben, denken, bilden, arbeiten, lieben und lachen.

Ein Reservat irgendwo in Deutschland, in dem sie wirklich ohne den Terror der Demokratie leben können, ohne die Bedrohung der Ausrottung, der Umvolkung durch Menschen wie diese zutiefst verachtenswerte Antifaschistin Frau Baydar.

Vielleicht ist es an der Zeit, sie zu schützten in einem Reservatgebiet, in dem niemals ein*e Geflüchtete*r das Asylgesetz beanspruchen könnte, weil im Reservat das Opfer Faschismus heißt und der Täter Demokratie. Ich stelle es mir vor und sehe blühende Landschaften, blonde Lichtgestalten, die sich gegenseitig Siezen, und endlich frei leben.

Frei von den Untermenschen, die sie ersetzten wollten. Wie sie dort ihre Mütter und Väter heiraten können, um die Blutreinheit, den heiligen Gral, den deutschen Genpool, zu sichern – befreit davon, Rassist*in genannt zu werden. Weil niemand es mehr sein muss!

Nicht ein alimentierter Messerstecher, nicht ein rotzedummes Kopftuchmädchen – es gibt endlich keine Fremdkörper mehr, keine fremden, minderwertigen Produkte aus minderwertigen Ländern, keine fremden, minderwertigen Sprachen und minderwertigen Speisen, nur noch hochwertige Butter, hochwertigen Alkohol und hochwertiges Schweinefleisch, kulturell saubere Grundnahrungsmittel, eigener Rüben- und Kartoffelanbau und endlich die unendliche Freiheit, ein echter deutsch-Deutscher zu sein – bis hin zu den Reservatgrenzen, da, wo ein ausschließlich faschistisches Deutschland aufhört und ein einschließlich Nicht-faschistisches Deutschland anfängt.

Die Reservats-Frauen dürften endlich ihren Männern Untertan sein und ihrer unstillbaren Sehnsucht am Herd nachgehen, ihren kleinen, blonden, genetisch sauberen Nachkommen ihre ausschließlich Deutsche-Menschen-Kultur einbläuen.

Endlich keine Frauenhäuser mehr, denn eine gute echte Deutsche Frau gehorcht ihrem Mann oder Beate Tschäpe-like auch mehreren Männern, und muss sich durch Emanzipation im Zwang zur Arbeit, im Zwang zur Selbstbestimmung nicht mehr erniedrigen lassen.

Es bedarf auch keiner Polizei mehr, da echte Deutsche nie etwas Kriminelles oder Falsches tun. Walter Lübke oder der NSU wären nicht mehr notwendige Notwehr gegen die Feinde Deutschlands, weil sie endlich ein Deutschland leben dürften, ohne selbstgeschaffene Feinde, alle wären dort Freunde, weil sie Deutsche sind, das ist ja das Tolle am genetisch echten und kulturell richtigem Deutschsein.

Und es gäbe so viele Arbeitsplätze und endlich keine Rechtschreibfehler.

Wahlrecht wollen Faschisten*innen auch nicht, sonst wären sie ja Demokraten.

Der 1000jährige Frieden wäre endlich da, sie könnten zwei Wochen im Jahr reisen, aber sie würden es ja gar nicht wollen, zu viele Untermenschen, Ausländer, außerhalb der national-sozialistischen Reservatsgrenze, da genau wollten sie ja nicht.

Das wäre auch für den Klimaschutz ein Vorteil, kaum CO2-Verbrauch aus und in dem Reservat. Außerdem wäre ja sowieso alles Nichtdeutsche verboten.

Licht gibt es auch nicht, denn das hat kein Deutscher erfunden, also raus mit der Glühbirne und im Gleichschritt zur Feuerstelle, der Erfinder der Feuerstelle hatte keine Kultur, das geht!

Nur das, was Deutsche erfunden, geschrieben, gesungen und erdacht haben, wäre akzeptabel.

Herrlich, es gibt einfach nichts Nichtdeutsches!

Ein Traum, das Paradies für echte und richtige autochthone deutsch-Deutsche, ohne einen nichtdeutschen Hintergrund.

Nur ein*e echte*r Deutsche*r, also eine*r mit Ariernachweis, hätte das Recht auf einen Platz im Reservat und jedes Bundesland hätte eins.

Lasst sie uns schützen mit ihrer primitiven, einfachen, vernunftsbasierten Lebensart als Kulturgut dieser Republik. Ich finde, das sind wir ihnen schuldig – immerhin haben wir ihre Existenzberechtigung im demokratischen Meinungsspektrum vernichtet.

Das wären wir ihnen als humanistische, menschenrechtsbasierte Demokratie einfach schuldig.

Das wäre zumindest ein maßgeschneidertes Angebot, das sich die Kulturpolitik statt Cancel Culture selbst zum Angebot machen könnte.

Welche Aufgaben sollten damit in den Zuständigkeitsbereich der Kulturpolitik fallen?

Natürlich können Sie mich nach meiner Meinung fragen, aber um eine Antwort auf die Fragen zu bekommen, muss die Kulturpolitik nach ihrer eigenen Haltung fragen, um eine existenzielle Antwort zu bekommen.

Wenn die Kulturpolitik weiß, was ihre Haltung ist, sind alle Fragen beantwortet!

Die Positionierung meiner Meinung zu diesen Fragen kann der Kulturpolitik keine adäquate Antwort geben, nur die Fragen aus meiner Position heraus können die Kulturpolitik zu ihren Antworten inspirieren.

Ist das Leben von Frau Baydar bei Erschießung ebenso wiederherstellbar, wie ein zerstörter Auftrittsort?

Lebt Frau Lisa Eckhart weiter nach einem abgesagten Auftritt, oder ist ihre Existenz unwiederbringlich ausgelöscht?

Ist das Leben von Frau Baydar genauso viel Wert wie das von Lisa Eckhart?

Oder ist der Wert von Frau Baydars Leben eben eine Meinungsfreiheit?

Und entscheidet über den Wert von Frau Baydars Leben die Polizei, die das Grundgesetz als Strukturgeber ablehnt, sonst müssten sie es ja umsetzten.

Oder sind es der Verfassungsschutz oder Edeka, die über Frau Baydars Lebensberechtigung entscheiden?

Mich würde an dieser Stelle interessieren, was Herr Walter Lübke zum Freispruch des Mittäters in seinem Mordfall zu sagen hätte.

Das muss man als Demokrat dann aushalten?

Welche Rolle könnten also ermordete Künstler*innen in diesen Prozessen einnehmen?

Wer oder was wird hier also in seiner Existenz gecancelt?
Wegen welcher Kultur und wegen wessen Meinungsfreiheit?

Hat Faschismus und Rassismus Cancel Culture als Kulturpolitik?

Oder ist die Demokratie einfach nur zu faschistisch, um rechtsradikalen Faschismus als Demokratie anzuerkennen?

Meinungen können der Kulturpolitik nicht die Entscheidung nach einer positionierten Haltung abnehmen.

Wenn die Polizei, die dritte Gewalt in der Demokratie, mutmaßlich an der Todesdrohung von Frau Baydar beteiligt ist und es ihr gestattet bleibt, dies nicht zu aufzuklären bzw. sie nicht zur Aufklärung ihrer eigenen Beteiligung gezwungen wird, dann wird sie auch nichts aufklären.

Welche Haltung darf die Institution Polizei also Frau Baydar gegenüber einnehmen?

Darf sie sich völlig unbeteiligen bzw. darf sie sich weiter am Faschismus beteiligen und nette rechtsradikale, faschistische WhatsApp-Gruppen pflegen?

Darf oder sollte das der Kulturpolitik völlig egal sein?

Eine demokratische Haltung, die Faschismus nicht zur Aufklärung zwingt, sondern sie als ihren eigenen Einzelfall versteht, ist schon längst am Ende.

Selbst wenn es 3 Millionen Einzelfälle sind, sind es doch verglichen mit 81 Millionen eben Einzelfälle. Gut, manchmal dreht sich auch das Verhältnis und 81 Millionen sind dann mal eben faschistisch, aber eigentlich wars ja doch nur ein importierter Einzelfall, der 81 Millionen zu Faschist*innen gemacht hat, richtig?

Das muss die Demokratie halt mal aushalten, sonst wäre es ja keine Demokratie, richtig?

Ist die Polizei Cancel Culture als Prinzip oder schützt sie die Bevölkerung nur vor der doofen Antirassistin Frau Baydar, also vor dem selbst-Schuld-Opfer?

Das selbst-Schuld-Opfer, das im Cancel-Culture-Haus sitzt, zusammen mit Frau Demokratie.

Zu welcher Haltung zu Cancel Culture, zu welcher Meinung über Cancel Culture müssen die kulturpolitischen Akteur*innen nach eigenem Vermessen des Werts ihrer eigenen Meinungskultur kommen?

Also frage ich Sie: Welche Transformation braucht der politische Kulturbetrieb?

Welche Aufgabe würde der Kulturpolitik an dieser Stelle zufallen?

Das ist eine Frage der eigenen, ehrlichen Entscheidung zu einer eigenen, politischen Haltung und zur Sehnsucht nach einer Demokratie, die den notorischen Einzelfall, die rassistischen, nationalsozialistischen Faschismus endlich als Menschenrecht anerkennen darf, richtig?

Genau!


Autorin

(c) Cengiz Karahan

İdil Nuna Baydar, 1975 in Celle geboren, ist deutsche Comedienne, Schauspielerin und Social Influencer.

Im Dezember 2011 veröffentlichte sie auf YouTube ihre ersten Videos im Genre Sozialkritik mit Hilfe ihrer Kunstfiguren Jilet Ayşe und Gerda Grischke. Nachdem sie die Millionenklickgrenze durchbrochen hatte, entwickelte sie 2014 ihr erstes abendfüllendes Comedy-Programm. Seitdem tritt sie in verschiedensten Kabarett- und Comedy-Sendungen im Fernsehen auf und spielt in ihrer Rolle als Jilet Ayşe in diversen Internetformaten. http://www.idilbaydar.de/