Kopftuch und Aldi-Tüte?
Berichterstattung im Einwanderungsland

2. September 2021

75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges hat Deutschland wieder eine erstarkende rechtsradikale Bewegung. Eine rechtspopulistische Partei sitzt im Bundestag. Rechtextreme begehen Anschläge; Tote sind zu beklagen.

Darauf muss die gesamte Gesellschaft reagieren, Politik, Bildung, Sicherheitskräfte. Um die weitere Ausbreitung rechten Gedankenguts einzudämmen, sind vor allem die Medien gefragt, durch Aufklärung, faktenbasierte Berichte und Recherche gegenzusteuern. Doch das scheint nicht besonders gut zu funktionieren. Im Gegenteil: Rechtsgerichtete Organisationen – auch zahlenmäßig kleine Gruppen – sind lautstark und haben eine große Reichweite.

Das hat mehrere Gründe. Ein Element sticht jedoch hervor: Soziale Medien ermöglichen eine dezentrale und extrem schnelle Kommunikation. Neue Narrative können sich durch die digitalen Kommunikationsabläufe sehr schnell weit verbreiten. Das gilt auch für rechtes Gedankengut, aber die traditionellen Medien setzen dem oft zu wenig entgegen.

Dies ist keine Frage der digitalen Technik. Alle Medienhäuser haben inzwischen solide Social Media-Teams. Der Haken liegt woanders. In Zeiten des erstarkenden Rechtsextremismus ist es notwendig, auf ganzer Linie die Berichterstattung zu überprüfen. Diskriminierungsfreie Sprache und Bilder, die keine Stereotype reproduzieren, sowie eine klare Einordnung von rechtsextremen Äußerungen sind notwendige Grundlagen einer modernen Medienarbeit und müssten in einer vielfältigen Gesellschaft eigentlich selbstverständlich sein. Doch hier hapert es.

Die deutsche Gesellschaft verändert sich. In weiten Teilen ist sie inzwischen multiethnisch, multikulturell und multireligiös, vor allem in den Städten und unter jüngeren Menschen. Ein Viertel aller Menschen in Deutschland kommt aus Einwandererfamilien. Diese Veränderungen sind in den Medien jedoch noch nicht angekommen. Während die Gesellschaft bereits divers ist, hinkt die Berichterstattung jedoch hinterher und spiegelt die Realität nicht ausreichend oder nur verzerrt. Gängige Stereotype – der ‚frauenfeindliche Muslim’, die ‚stille Asiatin’ – werden oft nicht hinterfragt oder sogar weiter fortgetragen. Dies befördert jedoch diskriminierende Haltungen gegenüber bestimmten Minderheiten.

Redaktionen sind in der Regel von weißen, christlichen, heterosexuellen Männern geprägt; Themensetzung und Wortwahl spiegeln oft die Vorurteile dieser Medienschaffenden und grenzen dadurch Teile der Medienkonsument*innen aus. Solange Redaktionen nicht divers besetzt werden, fällt es kaum auf, wenn etwa in Bildredaktionen immer wieder Stereotype reproduziert werden, wenn also beispielsweise zur Bebilderung eines Artikels über Einwanderung ein typisches Foto à la ›Frau mit Kopftuch und zwei Aldi-Tüten‹ genommen wird, nicht aber das Foto einer afrodeutschen Wissenschaftlerin im Laborkittel oder eines türkischstämmigen Künstlers in seinem Atelier. Die Zementierung von Stereotypen bedeutet, dass Einwander*innen, ethnische und religiöse Minderheiten dauerhaft negativ konnotiert werden. Dies spielt den Rechten und Rechtsradikalen in die Hände.

Mit anderen Worten: Die Überprüfung der eigenen Arbeit und Neuausrichtung der Medienhäuser hin zu einer diskriminierungsfreien Berichterstattung, mit divers besetzten Redaktionen, ist eine notwendige Grundlage, um auch Rechtspopulisten Paroli bieten zu können. Hierzu braucht es kultur- und medienpolitische Debatten.

Dies ist kein Ding der Unmöglichkeit. Seit zehn Jahren trägt der Verein Neue deutsche Medienmacher*innen e.V. (NdM) das Thema Diversität in deutsche Redaktionen hinein. Der NdM ist ein Zusammenschluss von Journalistinnen und Journalisten mit und ohne Migrationsgeschichte; sie führen Medienprojekte durch und geben Tipps, Kritik und Denkanstöße, um die Medienlandschaft und die Debatte darüber diverser zu gestalten. So haben zum Beispiel die NdM ein Glossar entwickelt, Formulierungshilfen für die Berichterstattung im Einwanderungsland. NdM-Mitglieder gehen in Redaktionen und geben Formulierungstipps bezüglich einer nicht diskriminierenden Sprache. Die Reaktionen sind unterschiedlich.

»Das konnte ich doch nicht wissen!« ist der häufigste Satz, den man zu hören bekommt, wenn Kolleg*innen in den Redaktionen darauf aufmerksam gemacht werden, dass ihre Sprache, ihre Fotos, ihre Berichterstattung bei Themen, die Migration betreffen, nicht angemessen ist. Aber ist es wirklich so – kann man das nicht wissen? Dass es einen Unterschied gibt zwischen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus, dass die Worte ›Farbiger‹ und ›Schwarzer‹ nicht synonym sind? Dass das Bild einer kopftuchtragenden Frau nicht die beste Wahl ist, um einen Artikel über Islamismus zu bebildern? Dass Afrika von Völkern und nicht von Stämmen bewohnt wird?

Nein, vielleicht ist das Wissen über diese Dinge in der Mehrheitsgesellschaft – und damit in den Medien – noch nicht selbstverständlich, aber das Interesse nimmt zu. Von personeller Diversity sind die meisten Redaktionen noch weit entfernt, doch viele Medienschaffende haben die Notwendigkeit erkannt, der diversen, multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft des heutigen Deutschland Rechnung zu tragen. Sie wählen neue Blickwinkel, nutzen andere Bilder und modifizieren ihre Sprache. Für jene interessierten Reporter*innen gibt es praxisnahe Anleitungen, auf der Website der Neuen deutschen Medienmacher*innen.

Ein anderer wichtiger Bereich ist die Nachwuchsförderung. Menschen mit Migrationsgeschichte sind in Medienberufen unterrepräsentiert. Das kann damit zusammenhängen, dass Journalismus in den Herkunftsfamilien nicht als seriöser Beruf gewertet wird, oder dass viele Menschen mit Migrationsgeschichte aus der Arbeiterschicht kommen, die wiederum weniger Journalisten stellt als das Bildungsbürgertum. Es hängt aber auch damit zusammen, dass Redaktionsleiter*innen es migrantischen Volontär*innen oft nicht zutrauen, die deutsche Sprache zu beherrschen oder innenpolitische Themen umfassend beurteilen zu können. Hinzu kommt, dass in der Medienwelt gute Kontakte wichtig sind, die Nachwuchsjournalist*innen aus Migranten- oder Arbeiterfamilien oft fehlen.

Hier setzen die NdM mit dem Mentorenprojekt an: Junge Nachwuchsjournalist*innen aus Migrantenfamilien werden als Mentees mit einem erfahrenen Journalisten zusammengebracht. Der Mentor bzw. die Mentorin sind oft bekannte Medienleute in einflussreichen Positionen. Durch diese Kombination soll dem Nachwuchs der Weg in die Berufswelt leichter gemacht werden.

Jeder weiße deutsche Journalist kann ebenfalls reflektiert schreiben, ohne diskriminierende Sprache oder inadäquate Bebilderung zu benutzen. Dennoch sollten die Redaktionen vielfältiger werden: zum einen, um die multiethnische, multikulturelle und multireligiöse Bevölkerung Deutschlands zu repräsentieren, und zum anderen, damit die Redakteur*innen eine Vielzahl von Themen und Blickwinkel mitbringen, die eine Bereicherung der oft eindimensionalen Presselandschaft bedeuten.

Am 11. Mai 2020 veröffentlichten die NdM eine Studie, die gemeinsam mit der TH Köln und der Google News Initiative erstellt wurde: »Diversity im deutschen Journalismus: Viel Wille, kein Weg«. In dieser Untersuchung wurde zum ersten Mal erhoben, wie viele Chefredakteur*innen hierzulande einen Migrationshintergrund haben.

Das Ergebnis: Es sind sechs Prozent. 118 von 126 befragten Chefredakteur*innen der reichweitenstärksten Medien sind Deutsche ohne Migrationshintergrund. Von den sechs Chefs und zwei Chefinnen, die mindestens einen nicht-deutschen Elternteil haben, besitzen alle Wurzeln in den EU-Mitgliedsstaaten, die Hälfte davon sind Nachbarländer Deutschlands. Besonders diskriminierte Gruppen sind hier überhaupt nicht vertreten – kein Chefredakteur und keine Chefredakteurin, der oder die schwarz ist, aus einer muslimisch geprägten Familie oder einer den größten Einwanderergruppen (türkisch, polnisch, russischsprachig) stammt. Nach immerhin sechs Jahrzehnten Arbeitsmigration aus den Mittelmeerstaaten und mehr als vier Jahrzehnten Fluchtmigration nach Deutschland spricht dies eine deutliche Sprache.

Zwei Drittel der befragten Chefredakteure sind bereit, ihre Redaktionen vielfältiger zu besetzen und sehen auch den Nutzen. Konkrete Programme und Förderungen von Nachwuchs sind jedoch kaum vorhanden, geschweige denn Quoten. Doch ohne klare Zielvorgaben bleiben deutsche Redaktionen eine geschlossene Gesellschaft.

Die Communities eingewanderter Menschen sind große Zielgruppen; sie sollten als Publikum mitgedacht werden. Diversität im Programm bzw. der Publikation kann die Reichweite und Auflage steigern. Das heißt: Vielfalt muss Chefsache werden. Entscheider*innen und Personalverantwortliche müssen eine Strategie zur Gewinnung von Personal mit Einwanderungsgeschichte erarbeiten. Rekrutierungsprozesse müssen verändert, Bewerber*innen of Color proaktiv angesprochen werden.

Dies ist nicht nur deswegen wichtig, damit ethnische oder religiöse Minderheiten in Ruhe die Zeitung lesen oder Nachrichten schauen können, ohne durch die Art der Berichterstattung diskriminiert zu werden, sondern ein sorgfältiger Umgang mit diesen Themen kommt sämtlichen Medienkonsumenten zunutze, da alle Nuancen der veränderten, diversen Gesellschaft besser gespiegelt werden. Das heißt, es werden nicht mehr elementare Teile der Bevölkerung in den Medien verzerrt wiedergegeben oder ganz ausgeblendet; somit hat die Gesamtheit der Mediennutzer ein genaueres, umfassenderes Bild der Realität. Dies trägt wesentlich zu einer qualitativ hochwertigen und verantwortungsbewussten Berichterstattung bei.

Medien haben Verantwortung für den sozialen Frieden. Die Gesellschaft verändert sich, rechtsradikale Meinungen finden Zulauf, und die Medien müssen diese Veränderung auffangen und reflektieren, aktuelle Debatten aufgreifen sowie neutral und unvoreingenommen darüber berichten.

Es gibt jedoch ein Missverständnis bezüglich der Neutralität der Medien: Neutral zu sein bedeutet, unterschiedliche Meinungen zu Wort kommen zu lassen, aber diese Meinungen müssen eingeordnet werden. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – also Rassismus, Antisemitismus, Homophobie, anti-islamischer Rassismus etc. – muss klar benannt und im Kontext des Grundgesetzes und der Menschenrechte bewertet werden. Das heißt, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus sind keine Meinungen unter vielen, sondern stellen eine Bedrohung ganzer Menschengruppen und auch unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung dar. Deutsche Medienhäuser müssen differenziert über die vielfältige Gesellschaft berichten und auch die Gefahr, die von rechten Gruppen ausgeht, klar benennen. Alles andere wäre verantwortungslos.


Dieser Beitrag ist bereits in der Ausgabe 169 der Kulturpolitischen Mitteilungen erschienen. Sie kann hier erworben werden.



Autorin

(c) Brigitta Leber

Sheila Mysorekar ist Vorsitzende der Neuen Deutschen Organisationen. Die ndo sind ein bundesweites Netzwerk aus rund 140 postmigrantischen Vereinen, Organisationen und Projekten. Sie ist außerdem im Vorstand der Neue deutsche Medienmacher*innen (und war langjährige Vorsitzende des Vereins).

Die NdM sind eine Organisation von Journalisten*innen und Medienmacher*innen mit und ohne Migrationsgeschichte.

Sheila Mysorekar ist indodeutsche Rheinländerin, Journalistin und lebt in Köln. Sie arbeitet als Beraterin für konfliktsensiblen Journalismus und Medien in Post-Konflikt-Staaten bei der Deutschen Welle Akademie und bildet Medienschaffende in Konfliktländern aus, unter anderem in Libyen, Libanon und dem Südsudan. Ihr Twtteraccout heißt @MysorekarSheila.



Denk_mal
Bühnen für Bedeutungskämpfe in öffentlichen Räumen

25. August 2021

Hol den Vorschlaghammer Konflikt hervor!
Sie haben ›uns‹ ein Denkmal gebaut
Und jede*r Vollidiot*in weiß, dass das die Liebe den Frieden versaut
Ich werd‘ die schlechtesten Sprayer*innen dieser Stadt engagier’n
Die soll’n nachts noch die Trümmer Statue mit Parolen beschmier’n

Denkmal, Wir Sind Helden, 2003
Denk_mal, Friederike Landau, 2020

Kunst schreibt, drückt, schmiert, hämmert sich in den Stadtraum ein – flüchtig durch Graffiti, Sticker, Mini-Installationen, mit Papier, Kleber und abwaschbarer Farbe. Aber Kunst im öffentlichen Raum nimmt auch scheinbar unverrückbare Formen an – als Denkmäler aus soliden Materialien wie Stein, Marmor, Bronze – zur Erinnerung großer Ereignisse oder Persönlichkeiten, die ›die‹ Geschichte geprägt haben.

Im komplexen Zusammenspiel von globaler COVID19-Pandemie, Bemühungen zur Dekolonialisierung von Denken und städtischen Räumen sowie internationalen Black Lives Matter(BLM)-Protesten erstarkten jüngst Diskussionen über die umstrittene Präsenz von Denkmälern in öffentlichen Räumen. Konflikte im, um und über öffentlichen Raum werfen Fragen auf: Gehört öffentlicher Raum wirklich allen, wer verwaltet ihn nach welchem zugrundeliegenden Zeit- und Geschichtsverständnis? An welche und wessen Geschichte(n) erinnern Denkmäler? Für was/wen, gegen was/wen erinnern sie? Welche Begegnungen und Gespräche ermöglichen konfliktbehaftete Denkmäler über Vergangenheiten und Zukünfte diverser Stadtgesellschaften? Wie könnten sich öffentliche Räume anfühlen, wenn Markierungen vergangenen Leids anders oder gar nicht länger dort wären? Kurz, wessen Denkmäler und Erinnerung haben im öffentlichen Raum Platz, wessen nicht?

Während Denkmäler problematischer historischer Figuren oder Ereignisse bereits eine längere Geschichte von – mehr oder weniger geplantem – Abbau haben, wie beispielsweise der Sturz einer Statue des Kolonialherren Rhodes in Capetown (»Rhodes must Fall«) oder einer Saddam-Hussein-Statue in Bagdad (2016), spitzen sich auch in Deutschland Debatten über brisante Statuen im öffentlichen Raum zu. In München soll ein kleines Bismarck-Denkmal entfernt werden (oder nach Meinung mancher bleiben), in Hamburg eine monumentale Bismarck-Statue aufwändig saniert werden; der Wunsch nach einem »Polen-Denkmal« und Dokumentationszentrum für polnische Opfer des Nazi-Regimes in Berlin besteht schon länger; die Debatte um das »Freiheits- und Einheitsdenkmal« vor dem Berliner Stadtschloss: All das verdeutlicht die Bandbreite der Konflikte.

Im Folgenden erkunde ich, inwiefern der öffentliche Raum als Bühne für Bedeutungskämpfe über umstrittene Erinnerungskultur in Erscheinung tritt. Im Laufe der Corona-Pandemie wurde nicht nur der physische Zugang zu öffentlichen Räumen wie Parks, Grünflächen etc. durch Abstands- und Ausgehregeln stärker reglementiert als gewohnt, vielleicht gewinnt in pandemischen Zeiten auch die Bedeutung des öffentlichen Raums als Plattform für öffentliche Auseinandersetzung und Erinnerung an Bedeutung.

Doch auch vor und über den pandemischen Kontext hinaus materialisieren aktivistische Mobilisierungen, sowohl zur Entfernung als auch Neuaufstellung von Denkmälern, das Spannungsverhältnis diverser Öffentlichkeiten, Erinnerungskulturen und der (Re)Präsentation komplizierter Geschichte. Beispielsweise wurde wenige Tage nach dem Mord des schwarzen US-Amerikaners George Floyd durch einen Polizisten die Statue des britischen Händlers Edward Colston von lokalen Aktivist*innen in Bristol in den örtlichen Hafen gestürzt. Hier verwebt sich der lokalpolitische Unmut über die Erinnerung an Kolonialhandel und Versklavung mit dem globalen BLM-Kampf gegen Diskriminierung und Gewalt an schwarzen Personen.

Kontrapunkte zum Abriss von Denkmälern, die Kolonialgeschichte(n) Raum geben, bilden Initiativen wie das ›Black Monuments Project‹, das sich für die Neuerrichtung von Denkmälern für wichtige schwarze Persönlichkeiten aus Kultur und Politik in allen US-Bundesstaaten einsetzt. Weiterhin kartographieren zivilgesellschaftliche Projekte entfernte Denkmäler mit rassistischen und/oder kolonialem Erbe.

Diese Ansätze reflektieren die vielfältigen Möglichkeiten zur Kurskorrektur in Denkmal-Konflikten. Obwohl es überzeugende Argumente für deren Entfernung geben mag (z.B. Retraumatisierung von Menschen, die Teil dieser Gewalterfahrungen waren), läuft der Totalabbau auch Gefahr, Spuren problematischer Vergangenheit komplett auszulöschen. So würden Räume für zukünftige Generationen, aus Geschichte(n) zu lernen, verschlossen, unsichtbar und nicht direkt erlebbar. Folglich muss die materielle, performative und diskursive (In)Stabilität von Denkmälern neu verhandelt werden, um für diversere Erinnerungskulturen Platz zu schaffen.

Historiker Fred Anderson sprach kürzlich bezüglich neuer Erinnerungskulturen von der Möglichkeit, Denkmäler durch »Kontextualisierung und auch künstlerische Entfremdung oder Ergänzung…in ein neues Licht« zu rücken, um »entgegen der Intention ihrer Erbauer (sic) – der historischen Aufarbeitung (zu) dienen

Ergeben sich durch Rekontextualisierung neue Erinnerungsformen und -räume für vielfältige, postmigrantische Gesellschaften? Obwohl erklärende Tafeln problematische Ereignisse und Persönlichkeiten vielleicht kontextualisieren, erweisen sich nicht auch diese im schlimmsten Fall als steril, belehrend, eindimensional? Künstlerische Strategien könnten einen produktiven Ansatz zur (Neu)Verhandlung von Bedeutungskonflikten zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Herrschaft und Unterdrückung bieten, um das vorherrschende Primat des Visuellen von Denkmälern zu überwinden.

Rekontextualisierte Denkmäler könnten andere sinnliche Zugänge zur Erinnerung schaffen –Gerüche beispielsweise rufen lebhaft lang zurückliegende Erinnerungen hervor. Oder wie könnten Denkmäler klingen? Kulturgeografin Burke (2006) spricht von ›gegenhegemonialen‹ Denkmälern, die zum Nachdenken über ihre eigene Materialität, historische Unvollkommenheit und Widersprüche einladen. Kurz, gegenhegemoniale Denkmäler könnten Regime von (Un)Sichtbarkeit verunsichern und somit Bedeutungskonflikte offen- und aushalten, anstatt eine pseudo-abgeschlossene Geschichte zu präsentieren.


Friedensstatue – Wessen Erinnerung, wessen Frieden?

Der jüngste Konflikt um die Friedensstatue, die Ende September in Berlin-Moabit vom Korea-Verband e.V. mit Erlaubnis des Bezirksamtes aufgestellt wurde, verdeutlicht den Streit um Platz für Erinnerungskulturen. Die solide Bronze-Statue soll an sexualisierte Gewalt und Zwangsprostitution von über 200.000 Frauen und Mädchen, vom japanischen Militär als ›Trostfrauen‹ verharmlost, aus über 14 Ländern während des Asien-Pazifik-Krieges (1931-1945) erinnern.

Wenige Tage nach Einweihung der Statue eines japanischen Mädchens, neben der sich ein leerer Stuhl befindet, entzog Bezirksbürgermeister von Dassel die Genehmigung für das Denkmal und begründete, dass die Skulptur die politischen Beziehungen zu Japan gefährde. Die japanische Botschaft hatte offensichtlich Druck ausgeübt, die Statue umgehend abzubauen. In dem inter-asiatischen Erinnerungskonflikt solle ein Berliner Bezirk mit über 150 ansässigen Nationalitäten nicht Stellung beziehen.

Doch sowohl Abbau als auch Verbleib der Statue wären Ausdruck einer politischen Position, wie die 200 bis 300 Demonstrant*innen lautstark verdeutlichten; Berlin wurde (ungewollt?) zur Bühne der komplizierten Verflechtung zwischen einem regionalspezifischen Konflikt, der sichtlich noch nicht abgeschlossen ist, und dem globalen Kampf gegen (Neo-)Kolonialismus und Unterdrückung ethnischer Minderheiten sowie der Möglichkeit, ein internationales Signal gegen sexuelle Gewalt zu setzen.

Es bleibt umstritten, wessen Frieden durch die An- oder Abwesenheit des Denkmals wirklich gefährdet ist. Wie würde sich der Konflikt verlagern, wenn man den leeren Stuhl neben der jungen Japanerin als einen durch das Denkmal entstandenen Raum verstände, der neue Möglichkeiten für die Verhandlung des Erinnerungskonflikts bietet? Vielleicht braucht es genau diesen Platz der Leere, diese Leerstelle, damit ein Denk_Mal Raum für Frieden schaffen kann, der kompliziert bleiben wird, in Berlin und anderswo.


Dieser Beitrag ist bereits in der Ausgabe 171 der Kulturpolitischen Mitteilungen erschienen. Sie kann hier erworben werden.



Autorin

(c) SUNNY SUNDAYS. Berlin

Dr. Friederike Landau ist politische Theoretikerin und Stadtsoziologin. Seit Oktober 2020 arbeitet sie als Assistenzprofessorin für Kulturgeografie an der Radboud Universiteit, Nijmegen, in den Niederlanden. Sie studierte Verwaltungswissenschaften und politische Theorie in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Kanada. Ihre Forschungsinteressen bewegen sich an Schnittstellen zwischen politischer und räumlicher Theorie, beispielsweise städtische Kulturpolitik, künstlerischer Aktivismus, umstrittenen öffentlichen Räumen wie Museen und Denkmälern.
Jüngst gab sie mit Dr. Lucas Pohl und Prof. Dr. Nikolai Roskamm den Sammelband [Un]Grounding – Post-Foundational Geographies heraus. Zudem schreibt Friederike Gedichte als #PoeticAcademic.



Nachhaltigkeit als Problem
Über die Defizite innovationsorientierter Projektförderung

18. August 2021

Gerade öffentlich geförderte Kulturinstitutionen sind massiv vom disruptiven gesellschaftlichen Wandel betroffen und müssen an der eigenen Innovationsfähigkeit arbeiten. Die aktuellen Megatrends – wie etwa Digitalisierung, Individualisierung oder Globalisierung – verändern vormals dominante Produktions- sowie Rezeptionsbedingungen und steigern damit den Bedarf an neuen, technisch hochwertigen Prozessen, Produkten oder Dienstleistungen.

Damit verbunden ist auch die Erwartungshaltung an eine Anpassung in der gesellschaftlichen Funktion von Kulturinstitutionen, die stärker zu dritten Orten des Austausches über gesellschaftliche Lebensbedingungen, kollektive Werteorientierungen und Communities werden müssen.  Aufgrund vielschichtiger Verflechtungen zwischen den unterschiedlichsten Verwaltungs- und Politikebenen erweisen sich aber gerade die Institutionen des Kultursektors als wandlungsunfähig und veränderungsresistent. Aus diesem Grund versuchen kulturpolitische Entscheidungsakteure (auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene) in den vergangenen Jahren verstärkt durch neue Programme in der Projektförderung gegen zu steuern, um gezielt soziale Innovationen und digitale Transformationsprozesse in Kulturorganisationen zu erreichen.

Noch nie wurden so viele Mittel für den Versuch der institutionellen Anpassung kultureller Infrastrukturen zur Verfügung gestellt. Allerdings gelingen dadurch bisher nur kurzfristige, eher programmatische Veränderungen, da die Mittel keinerlei ernsthaften Handlungsdruck in Bezug auf nachhaltige strukturelle Veränderungen erzeugen und regelrecht an der traditionellen Ablauforganisation abprallen. Dies liegt zu einem großen Teil am dominanten Status quo der Organisationsform. Die Strukturen der meisten Kulturinstitutionen stehen aufgrund ihrer langen Tradition zwar für Stabilität, tendieren aber deshalb auch zur Trägheit.

Insbesondere die starken Verflechtungen mit den Trägern – verbunden mit strikten Vorgaben und Anweisungen – blockieren oftmals eine flexible Adaption zukunftsweisender Herangehensweisen. Gleichzeitig wurden die Entscheider*innen auf Leitungsebene größtenteils in den vorherrschenden Machtstrukturen sozialisiert, haben die Handlungslogik der Routinen verinnerlicht und sind deshalb häufig nicht bereit, auf die schwer erreichten Pfründe zu verzichten. Zudem schafft die starke Hierarchisierung scheinbar klare Verantwortlichkeiten, Rechtssicherheit und entspricht auch dem Wunsch nach einer Personalisierung der Organisation in der Öffentlichkeit.

Die Veränderung von etablierten Arbeitsprozessen und Zuständigkeiten durch kurzfristige, weil projektbasierte Maßnahmen werden von den Systemen daher als nicht zielführend abgewehrt. Die zusätzlichen Mittel gehen aus diesem Grund eher in Maßnahmen zur programmatischen Weiterentwicklung oder in die Bereitstellung zusätzlicher Programmangebote, die keine langfristige Anpassung in der Organisation induzieren. Viele innovationsorientierte Prozesse und Aufgaben, wie etwa eine fortschreitende Digitalisierung der Institution, aber auch die zunehmend notwendige Community- oder Netzwerkbetreuung und das Einbinden des Publikums (auch im Sinne systematischer Audience-Engagement-Maßnahmen) können aus diesem Grund nicht ausreichend berücksichtigt werden.

Gespür für gesellschaftliche Veränderungen

Es ist, vereinfacht gesagt, eine dauerhafte Anpassung der Steuerungsstrukturen notwendig, die neue Räume für die inhaltliche Weiterentwicklung gemeinsam mit allen relevanten Entscheidungs- oder Arbeitsebenen innerhalb der Kulturorganisationen ermöglicht. Um diesen Schritt tatsächlich durchsetzen zu können, bedarf es eines Business-Reengineering der jeweiligen Institutionen, das offenere Strukturen mit agilen Prozessen der Neuorientierung institutionalisiert. Denn eigentlich sind Kulturinstitutionen nicht per se innovationsfeindlich. Im Gegenteil: Kultureinrichtungen sind in vielen Fällen early adopters und haben ein feines Gespür für gesellschaftliche Veränderungen. Allerdings zeigt sich diese Antizipationsfähigkeit in erster Linie auf inhaltlicher Ebene und hat geringen bis gar keinen Einfluss auf die Organisationsstrukturen. Dies liegt häufig an der fehlenden Balance zwischen der Verwaltungs-, Vermittlungs- und Programmperspektive sowie der übergeordneten künstlerischen Gesamtentwicklung der jeweiligen Einrichtung und den damit verbundenen unterschiedlichen Entscheidungs- und Kommunikationskulturen.

Sicherlich stellen viele praxisnahe Forschungs- oder Kulturförderprogramme in ihren Ausrichtungen die richtigen Fragen. Es geht immer wieder um die Gestaltung von Transformationsprozessen, die Adressierung der digitalen Herausforderung, Audience Development / Engagement, die Entwicklung kollaborativer und partizipativer Formate, Förderung der Diversität und Demokratie oder die Bereitstellung kultureller Infrastrukturen in strukturschwachen Regionen. Allerdings mangelt es sowohl auf Seiten der Fördermittelgeber als auch auf Seiten der Institutionen an eindeutigen Messgrößen, die sich auf die oben genannten Fragestellungen beziehen und diese bewertbar machen. Damit entstehen auch keine modellhaften und verbreiteten Erkenntnisse, die von anderen Akteuren aufgegriffen, genutzt und weiterverarbeitet werden können.

Fehlender Handlungsdruck zur Nachhaltigkeit

Es bedarf nach Ansicht der Autoren*innen ein Umdenken hin zu klaren Zielvorgaben der innovationsorientierten Projektförderung, verbunden mit einem intensiven Coaching, Controlling und Reporting des Erfolgs der Aktivitäten. Während dieser Aspekt bei der klassischen projektbasierten Programmförderung aufgrund der Autonomie künstlerischer Arbeit nur bedingt zum Tragen kommen darf, wird er bei Förderungen struktureller Anpassungen kultureller Infrastrukturen zur notwendigen Gelingensbedingung. Die Förderung von Programmangeboten oder strukturellen Anpassungen basieren auf unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten, die auch das Anforderungsprofil der mittelgebenden Instanzen mitbeeinflussen sollten. Daran anknüpfend bedarf es auch einer Ausweitung der Evaluierungskriterien, die nicht mehr nur quantitative Kennzahlen berücksichtigen, sondern ein auf gesellschaftliche Relevanz basiertes Impact Measurement vornimmt.

Langfristige Prozesse brauchen einen anderen Messrahmen, der die lokalen Gegebenheiten berücksichtigt und in einen der Institution entsprechenden Kontext setzt. Daran anknüpfend bedarf es spezifischer Korrekturinstrumente, die bei einem Abweichen von vorher definierten Projektzielen regulierend eingreifen. Bisher gilt bei der Projektförderung oftmals der Grundsatz: wenn der Zuschlag einmal da ist, dann kann das Geld für alle Bereiche der Organisation genutzt werden, solange die Mittelverwendung passt und ordentlich nachgehalten werden kann. Welche langfristigen Effekte allerdings die Förderung auf den operativen Betrieb und insbesondere auf die strategische Ausrichtung der Organisation hat, bleibt fast immer außen vor. Gerade vor diesem Hintergrund ist nach Ansicht der Autor*innen die Kulturpolitik gefragt. Denn angesichts fehlender Auflagen sowie eines begleitenden Coachings und Monitorings auf Basis vorher für das Projekt definierter Fragestellungen, ergibt sich keinerlei Handlungsdruck bei der langfristigen institutionellen Anpassung für ein agiles Management.

Scheinaktivitäten am Rande der Systeme

Eine noch weiterführende Durchökonomisierung des Kultursektors darf dabei allerdings nicht die Antwort sein. Die fortschreitende Neoliberalisierung kultureller Infrastrukturen hat ganz im Gegenteil zu einer Überforderung geführt, die durch den Druck einer ständigen Selbstevaluation und -legitimation sowohl aus dem Kultur- als auch dem Entertainmentsektor in den vergangenen Jahren in einer Systemkrise mündete. Um den vielen neuen Herausforderungen zu begegnen werden deshalb nicht selten Berater, Coaches, IT-Dienstleister oder Agenturen engagiert, die häufig zu horrenden Tagessätzen standardisierte Lösungen aus dem Wirtschaftssektor anbieten, obwohl ein maßgeschneiderter, aus den Eigenlogiken der Kulturorganisationen entwickelter Ansatz, deutlich zielführender wäre. Angesichts der starken Blockadehaltung für ernsthafte strukturelle Veränderungen etablieren sich legitimationsbedingt häufig veränderungsbezogene Scheinaktivitäten am Rande der Systeme, die von den beauftragten wirtschaftlichen Agenturen durchgeführt werden. Das für öffentlich geförderte kulturelle Infrastrukturen eingesetzte Geld verschwindet somit ohne Effekt in wirtschaftlichen Kanälen.

Innovationsorientierung im Kulturbetrieb

Angesichts der existierenden Defizite innovationsorientierter Projektförderung sind die Autor*innen davon überzeugt, dass wir einen Diskurs über die zukünftige Ausrichtung derartiger Programme benötigen. Kultur- und haushaltspolitische Entscheidungsträger*innen sind aufgerufen, für derartige Maßnahmen der Projektförderung klarere Zielvorgaben zu definieren und diese von den mittelgebenden Instanzen ernsthaft begleiten zu lassen. Darüber hinaus scheint es notwendig, über andere Formen der Forderung bzw. Förderung einer stärkeren Innovationsorientierung im Kulturbetrieb nachzudenken. Es gibt in einigen Bundesländern erste Coaching und Train-the-Trainer-Programme, die für die Kulturorganisationen dauerhafte Unterstützungen (durch intensive Beratungen, Prozessbegleitungen und einen passgenaueren Wissenstransfer) bei Veränderungsbestrebungen bereitstellen. Derartige intermediäre Unterstützungsleistungen scheinen eine sinnvolle Ergänzung zu sein, um die gewünschten Ziele im Bereich der Transformation zu gewährleisten.


Dieser Beitrag ist bereits in der Ausgabe 165 der Kulturpolitischen Mitteilungen erschienen. Sie kann hier erworben werden.



Autor*innen

(c) Helena Grebe
(c) Roland Baege

Dr. Henning Mohr ist Leiter des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. in Bonn. Der Kultur- und Innovationsmanager hat u.a. für das Deutsche Bergbau-Museum Bochum gearbeitet. Zuvor promovierte er am DFG-Graduiertenkolleg »Innovationsgesellschaft heute« (TU Berlin, Institut für Soziologie) über die Innovationspotentiale künstlerischer Interventionen in Transformationsprozessen.


Jasmin Vogel leitet seit 2019 als Vorständin das Kulturforum in Witten. Seit über einem Jahrzehnt ist sie im Kultursektor tätig und hat verschiedene Innovationsprogramme zur (digitalen) Transformation von Kultureinrichtungen verantwortet, dazu zählt u.a. das Projekt smARTplaces – European digital audience development, finanziert durch das Programm Creative Europe. In der Folge wurde sie für ihre Arbeit mit internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter der European Cultural Brand Award 2016 sowie der ZukunftsGut-Preis 2020 der Commerzbank Stiftung. In Witten liegt ihr Fokus auf der praxisorientierten Erprobung neuer Governance- und Geschäftsmodelle für den Kultursektor, die ausgehend von der Agenda 2030 zu einer größeren Diversität, Digitalität und Transformationsfähigkeit innerhalb der Organisationen führen und damit in Zukunft eine nachhaltige und resiliente Kulturinfrastruktur gewährleisten sollen.

Eine Krise der Konzepte
Warum Kulturförderung neu denken und sprechen lernen sollte

11. August 2021

Alle reden von Transformation – ohne aber die Rede von »Transformation« zu transformieren. Wer die Debatten über »Kultur“ und „Gesellschaft« selbst während des oft konstatierten »Ausnahmezustands« der Pandemie verfolgt, dem begegnen immer wieder Begriffe, Bilder und Argumentationsmuster, die über die Jahre bemerkenswert konstant geblieben sind. Ja, bisweilen konnte der Eindruck entstehen, der vermeintliche Ausnahmezustand wurde als Einladung verstanden, die Positionen, die man auch vorher schon hatte, nun lediglich mit noch mehr Lautstärke und Dramatik zu vertreten – als Amplifikation des Bekannten. Die Krise der Pandemie fügte sich so diskursiv recht nahtlos ein in gleich mehrere gefühlte Dauerkrisen »der Kultur«: So sahen sich gleichermaßen die bestätigt, die schon immer den Eindruck hatten, dass die herausgehobene Bedeutung »der Kultur« von »der Gesellschaft« oder »der Politik« zu wenig anerkannt werde – und andererseits auch die, die schon seit langem fordern »die Kultur« müsse endlich in plausibler Form ihren Relevanznachweis liefern, um ihren öffentlichen Auftrag zu erfüllen und ihre Förderung zu legitimieren – um nur zwei Standardpositionen des vertrauten Diskurses zu nennen.

So berechtigt diese Positionen in sich auch sein mögen, so unbefriedigend ist der diskursive Stillstand, der sich in der Wiederkehr und Form der Argumente zeigt. Erstens gibt es wenig Grund zur Hoffnung, dass die bloße mantraartige Wiederholung wohlvertrauter Positionen plötzlich eine Veränderung der Situation bewirkt, wenn dies über Jahre hinweg bisher nicht gelungen ist. Zusätzlich schal wirkt die diskursive Trägheit durch den inneren Widerspruch, dass viel über »Transformation«, »Wandel« oder gar »Disruption« gesprochen wird, ohne dass sich dieser behauptete oder geforderte Wandel in den Diskursen selbst grundlegend widerspiegelt: Wenn die Diagnose zutrifft, dass wir in einer Zeit tiefgreifender technologischer, sozialer und kultureller Veränderungen leben – müsste sich dies nicht auch ebenso tiefgreifend auf unsere Leitbegriffe auswirken, auf die Methoden, mit denen wir Evidenzen schaffen, auf die Formate, in denen wir miteinander kommunizieren, auf die Darstellungsweisen, in denen wir unsere Positionen dokumentieren?

Krise des Denkens und Sprechens

Vor diesem Hintergrund erscheint die in dieser Ausgabe der Kulturpolitischen Mitteilungen verhandelte Krise der Kulturförderung zuvorderst als eine Krise des Denkens und Sprechens. Dies zeigt sich exemplarisch an dem ganz grundlegenden kulturpolitischen Diskurs zur Frage, warum es Kultur braucht und warum diese öffentlich gefördert werden sollte. In der Pandemie wie schon davor kommt regelmäßig eine zweiteilige Strategie zum Einsatz: Zum einen wird das humanistische Motiv »der Kultur« als »Lebensmittel« aktiviert und in zuweilen beschwörender Form mit dem Nutzen der Kultur für das (individuelle wie kollektive) gute Leben argumentiert. Zum anderen kommt das BIP-Argument zum Einsatz, bei dem auf die mehr oder weniger erhebliche ökonomische Wertschöpfung der Kulturbranche hingewiesen wird. Zusammengeführt mündet man dann seit jüngster Zeit vermehrt beim Begriff der »Systemrelevanz«, der inzwischen zu einer Art Leitvokabel wurde und für die Forderung steht, dem Kultursektor einen gesellschaftlichen Status zuzuschreiben, der anderen zentralen Feldern wie der Wirtschaft nicht nachstehen soll.

Beide Argumentationslinien jedoch sind problematisch und mit ihnen auch die Rede von der vermeintlichen »Systemrelevanz«: Die humanistische Perspektive hat den Hang zur Sonntagsredengeste und bleibt meist appellativ und notorisch vage, das BIP-Argument neigt zu einer Anbiederung an eben jene Herrschaftslogik der Ökonomie, die gerade im Kulturbereich vielseitig kritisiert wird. Diese Problematik wird nicht geringer, wenn »die Kultur« argumentativ mit weiteren Nutzenfunktionen zusammengebracht wird: Prominent sind beispielsweise Hinweise auf die sozial-integrierende Funktion »der Kultur« – gern verbunden mit der Metapher, »die Kultur« sei der »Kitt« der Gesellschaft – bis hin zur Preisung positiver gesundheitlicher Auswirkungen von Kulturrezeption im Kontext von Achtsamkeits- und anderen Wellnesstrends.

All diese Versuche, »der Kultur« ein Set an festen und mehr oder minder konkreten Nutzeneffekten und -funktionen zuzuschreiben, führen letztlich dazu, sie entweder als sakrosankten Selbstzweck gegen jegliche Infragestellung ihrer Bedeutung zu immunisieren (prototypisch hier das einstige Motto des Bühnenvereins: »Theater muss sein«) oder als unverzichtbares Mittel für andere, vermeintlich wünschenswerte Zwecke zu instrumentalisieren. Weder zur Orientierung von Kulturpolitik noch für die strategische Ausrichtung von Kulturorganisationen lässt sich mit diesen Ansätzen fruchtbar arbeiten.

Stattdessen müssen wir uns – so unser Plädoyer – einmal mehr ans Eingemachte wagen, tiefenscharf neu nachdenken und über den spezifischen Nutzen des Kulturbetriebs debattieren, über die Kompetenzen, die diesen Nutzen in Wirkung bringen und über die Grenzen dessen, was dem Kulturbetrieb zugeordnet wird oder nicht. An dieser Stelle sei lediglich auf zwei Kernfragen in diesem Zusammenhang hingewiesen, die für eine nicht als krisenhaft empfundene Kulturförderung zentral sind: die Frage der Spezifikation und die der angemessenen Honorierung von Kulturarbeit.

Grenzziehungen

Keine Kulturförderung ohne Grenzziehungen: Was ist förderungswürdig und was nicht? Am Anfang einer Verhandlung dieser Frage steht der unspektakuläre Befund, dass die Kulturbranche in sich längst nicht mehr durch verstaubte Hierarchisierungen von »E« und »U«-Kultur differenziert werden kann. Doch allein diese Diagnose ist längst nicht in der Kulturförderung der Gegenwart angekommen, die bis heute die Großinstitutionen der Hochkultur gegenüber den freien Szenen und Popkulturen begünstigt und dies letztlich nur durch historische Pfadabhängigkeiten begründen kann. Noch komplizierter wird die Lage dadurch, dass das kulturelle Feld längst uneinheitlich und vielfältig mit Politik, Wirtschaft, Bildung, Religion – um nur einige zu nennen – verschränkt ist. Gerede die wachsende Bedeutung der »Kultur- und Kreativwirtschaft« mag hier als Beispiel dafür dienen, dass sich Grenzen verschieben bzw. durchlässig werden. Die lange Zeit dem Kunst- und Kultursektor als Spezifikum zugeschriebene »Kreativität« – repräsentiert insbesondere in der Figur der Künstler*in – hat sich bekanntermaßen längst zu einem Leitbild für nahezu alle Lebensbereiche entwickelt. Dies führt zu der paradoxen Situation, dass »die Kultur« einerseits gesellschaftlich so erfolgreich war, dass sie heute mit allen Feldern Schnittmengen bilden kann und bildet, und andererseits gerade dieser Erfolg dazu führt, dass ihre unterstellte Eigenart viel schwerer zu behaupten ist, als dies noch vor wenigen Jahrzehnten möglich gewesen sein mag.

The Business of Culture is also Business

Der Siegeszug der Figur der Künstler*in vom Rand hin zum Leitbild der Gesellschaft hat sich zeitlich parallel entwickelt zur Prekarisierung zahlreicher Arbeitsmärkte. Schon in den 1990er Jahren wurde problematisiert, dass die Kulturalisierung der Wirtschaft diese nur in der Rhetorik »weicher« gemacht hat, nicht aber in der Sache und ihrer Orientierung an den Erfolgslogiken neoliberaler Strategien. Die wirtschaftliche Lage im Kulturmilieu ist im Vergleich dazu noch ambivalenter. Die im »soften« Kapitalismus geförderte Bereitschaft zu Selbstausbeutung ist unter den Kulturschaffenden ebenfalls vorhanden, doch sie paart sich mit einer milieueigenen Betonung der Ablehnung von Orientierung an wirtschaftlichen Eigeninteressen: Allzu laut über individuelle Verdienstansprüche zu sprechen, scheint gewissermaßen die Glaubwürdigkeit des eigentlich vor allem intrinsischen Motiviertseins zu kompromittieren. Solange aber nicht auch auf der Ebene des individuellen Verdienstes Klartext gesprochen werden kann, kann kaum eine offene Diskussion darüber geführt werden, wie sich das Verhältnis von Arbeit und Lohn im Kultursektor zu jenem in anderen Feldern verhält. Diese Diskussion wird notwendig sein, wenn man hier nicht immer wieder auf die genannten Motive von Kultur als Selbstzweck zurückfallen und in immer noch gut geschmierten Vorurteilsautomatismen der Art »Warum sollten wir Steuerzahler denen ihre Selbstverwirklichungsambitionen finanzieren« münden will.

Wege aus der Krise der Begriffe

Ein neues Denken und Handeln der Kulturförderung wird ohne neue Antworten auf diese Fragen nicht möglich sein, und dazu ist ein neuer Typ von Debatte dringend nötig: Es ist höchste Zeit, der Rede von Transformation auch eine Suche nach neuen Begriffen, Konzepten und Modellen folgen zu lassen, die die verschiedenen gesellschaftlichen und ökonomischen Funktionen des Kulturbetriebs, seine porös gewordenen Ränder in andere sozioökonomische Felder, die heterogenen Interessenlagen und Erwartungshaltungen der in ihm tätigen Akteur*innen und anderer Stakeholder*innen möglichst unvoreingenommen und differenziert zur Verhandlung bringen. Es wird keinen Weg aus der Krise der Kulturförderung geben, wenn wir die Stagnation im Reden und Denken über »die Kultur« nicht überwinden.


Dieser Beitrag ist bereits in der Ausgabe 173 der Kulturpolitischen Mitteilungen erschienen. Sie kann hier erworben werden.



Autoren

(c) privat
(c) Christina Körte

Dr. Jens Badura betreibt das berg_kulturbüro in Berchtesgaden. Der habilitierte Philosoph und Kulturmanager lehrt zudem Kulturtheorie und Ästhetik an der Zürcher Hochschule der Künste und forscht dort am Zurich Center for Creative Economies sowie am »Institut Kulturen der Alpen« der Uni Luzern. Er lebt mit seiner Familie und einer Herde Alpiner Steinschafe in Marktschellenberg.









Prof. Dr. Martin Zierold ist Leiter des Instituts für Kultur- und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, an dem er die Zajadacz Stiftungsprofessur für Innovation durch Digitalisierung
innehat. Dort befasst er sich mit Fragen der Strategie und Organisationsentwicklung angesichts der großen
gesellschaftlichen Transformationsprozesse der Gegenwart. Martin Zierold arbeitet zudem freiberuflich als systemischer Coach, Lehrtrainer und Berater.

Kulturförderung 2040

4. August 2021

Kulturförderung befindet sich in einem stetigen Wandel. Megatrends wie die Digitalisierung, die Urbanisierung oder die grüne Transformation verändern nicht nur die gesellschaftlichen Herausforderungen und damit die Fragestellungen, mit denen sich Kulturschaffende beschäftigen. Genauso schaffen sie neue künstlerische Ausdrucksformen und kulturelle Speicher. Schließlich etablieren sie neue Ansätze, wie Politik, Wirtschaft, Stiftungen oder auch Privatpersonen das kulturelle Schaffen unterstützen.

Vor gut zwei Jahren unternahm ich im Auftrag des Forums für Kultur und Ökonomie eine Reise in das Jahr 2040 – und setzte mich auf dieser Zeitreise mit den Trends, den Kulturformen und Szenarien der künftigen Kulturförderung auseinander. Etwa mit der Unterstützung von Künstler*innenkollektiven, entscheidenden Algorithmen oder der Förderung von Kultur im Untergrund. Doch was war damals mein Fazit dieses Ausflugs in die Zukunft – kurz bevor das Corona-Virus uns mit ganz neuen Fragen konfrontierte?

Kulturförderung stärkt das Alternative und Nichtökonomische

In der Logik der Märkte der Zukunft zählt die Rendite. Man misst sich am globalen Publikum, Skalierung ist gefragt. Will Kultur in diesem Kontext reüssieren, vernetzt sie sich international und folgt den entsprechenden Rastern. Aus europäischer Sicht sind Alternativen zu den Plattformen, Deutungsangeboten und Megastars aus China und den USA wünschenswert. Kulturförderung unterstützt die kritische Reflexion bestehender Angebote und pflegt den kreativen Nährboden für Alternativen. Weil aber im Skalieren Vielfalt, Nuancen, lokale Bezüge und Gesellschaftskritik verlorengehen, fördert sie genauso, was ökonomisch (noch) nicht funktioniert und sich der Logik der Skalierung entzieht: Das Unikat, das Unvollkommene, das nicht Vervielfachbare.

Kulturförderung leuchtet digitale und analoge Extreme aus

Die Wunderländer, in die wir reisen, in denen wir spielen, kulturellen Veranstaltung in Events und Simulationen beiwohnen, entwickeln sich in den nächsten 20 Jahren parallel in eine hyperdigitale und eine retro-analoge Richtung. In der digitalen Variante sind sie virtuell, hypervernetzt, vom Ort entkoppelt, von Maschinenwesen kreiert und bevölkert. Analog ausgeprägt sind die Wunderländer Räume der Begegnung, die wir mit all unseren Sinnen erfahren. Wir gehen bewusst offline, um nicht abgelenkt, beobachtet und vermessen zu werden. Beide Extreme haben ihren Reiz, spannend sind konsequente Kreuzungen. Um das Neue zu entdecken, hilft Kulturförderung, beide Extreme des menschlichen Habitats auszuloten, unterstützt Crossmediales und Übersetzungsleistungen: Augmented Reality, Digitalisierungsvorhaben, Prints des Digitalen.

Kulturförderung vertraut auf Expert*innen und Crowds

Crowds sind wie Expert*innen berechtigt zu wählen, welche Kultur sie fördern wollen. Dasselbe gilt für das Speichern der Vergangenheit – wenn es darum geht Geschichte zu schreiben, zu bestimmen, welche Bilder, Serien, Bauten, Cyborgs und Tweets wir in die Zukunft übertragen. Plakativ skizziert sind Crowds näher am Zeitgeist, digitalaffiner und geschickter darin, Ideen zu multiplizieren. Expert*innen haben umgekehrt einen besseren Überblick. Sie sind potenziell die besseren Hüter*innen von Diversität. Wollen sie diese Aufgabe glaubwürdig wahrnehmen, müssen die Instanzen der Kulturförderung jedoch ihre eigene Diversität kritisch prüfen. Bilden sie Frauen, die Jugend, die Hundertjährigen, den hyperdigitalen und grünen Zeitgeist, Einwandernde genügend ab?

Kulturförderung konzentriert sich auf die Infrastruktur einer kreativen Gesellschaft

Zu dieser Infrastruktur gehören Räume, in denen Kulturschaffende an ihren Werken arbeiten und auf ein Publikum treffen. Durch neue Kulturformen ändern sich die Anforderungen: Genauso wichtig, um kreative Potenziale zu entfalten, Resonanz zu erfahren und Diskurse auszutragen, ist die immaterielle Infrastruktur. Diese umfasst Zeit – um zu lesen, zu denken, zu diskutieren, auszuprobieren, zu entdecken. Zeit ist wertlos ohne die Möglichkeit, frei zu denken. Je konkreter Kulturförderung Ziele vorgibt oder verlangt, desto mehr schwinden die Freiräume. Eine kreative Gesellschaft braucht schließlich Institutionen und Räume des Wissens. Ohne Wissenschaft und Wissensspeicher vergisst sie, erkennt sie keine Optionen für die Zukunft.

Kulturförderung darf ein Experiment sein

Meist läuft (helvetische) Kulturförderung in geregelten Bahnen. Man definiert Kriterien – auch um sich abzusichern. Neue Wege ergeben sich durch neue Kriterien, um Förderentscheide zu treffen – nach Postleitzahl, Alter, Farbe des eingereichten Dossiers, thematisierten Megatrends, digitalen und analogen Extremen. Ganz neue Formen der Kultur und Kulturförderung helfen, bisher unbeachtete Personen für das Kulturelle zu begeistern. Sie könnten ein mehrjähriges Grundeinkommen umfassen oder den Auftrag, in Experimenten Utopien zu simulieren. Auch die zufällige Auswahl von Dokumentierenden der Vergangenheit, Gegenwartsdeutern und Erfinderinnen der Zukunft aus allen Bürgerinnen per Losentscheid könnte die Diversität des Kulturschaffens stärken.

Kulturförderung wagt ein neues Verhältnis zu den Geförderten

Dazu braucht es neue Rollen der Kulturförderung. Zu diesen gehört die Coachin. Sie beobachtet, gibt Feedback, begleitet, vernetzt. Zweitens könnte Kulturförderung als Dienstleistende den Geförderten Aufgaben abnehmen – als Budgetplaner*innen, Vermarktungsprofis, Influencer*innen. Drittens könnte Kulturförderung in einer gewerkschaftlichen Funktion die Interessen prekär arbeitender Kulturschaffender schützen. Auf einer Metaebene könnte Kulturförderung die Gestaltung der Zukunft und das Speichern der Vergangenheit moderieren. Sie lanciert einen Dialog, welche Infrastruktur, welche Aus- und Weiterbildung und Persönlichkeitsentwicklung, welche Reflexionsräume, welche Inhalte die Kultur braucht.

Kulturförderung begeistert für die Vergangenheit

Der Mensch lebt im Wandel. Das Neue interessiert ihn ungemein. Gewiss, es lockt, weil es neue Märkte und Machtformen bringt. Aber genauso vereinfacht es unsere Leben, es entstehen neue Perspektiven, es ist spannend, vertreibt die Langeweile, intensiviert. Kulturförderung könnte als Ergänzung zum Zukunftsfetisch das Interesse an der Vergangenheit wecken. Das erfordert neue Wege, um diese zu erleben, sowie ein Verständnis dafür, wie relativ und dynamisch Geschichte ist, wie vernetzt Personen, Orte, Entwicklungen waren. Neue Technologien etablieren neue Formen, um die Vergangenheit zu interpretieren, zu speichern, zu erleben, zu bereisen. Um von diesen zu profitieren, braucht es Mittel und Zeit, die anfallenden Informationen zu deuten.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus der Studie »Kultur 2040 – Trends, Potenziale, Szenarien der Förderung«. Sie kann hier erworben werden.



Autor

(c) Carlos Meyer

Joël Luc Cachelin analysiert, strukturiert, kombiniert – als interdisziplinärer und multimedial tätiger Zeitreisender. 1981 in Bern geboren, führten ihn Studium, Promotion und Weiterbildung in den Disziplinen Betriebswirtschaftslehre, Technologiemanagement, Statistik und Geschichte an die Universitäten St. Gallen, Bern und Luzern sowie an die HWZ Zürich. Er begleitet und berät in Zukunftsfragen.

Status quo ante oder transformierte Kulturförderung?
Resilienz erfordert eine verteilungsgerechtere Kulturpolitik

13. Juli 2021

Wenn von den Lehren aus der Pandemie die Rede ist, dann fällt fast immer der Begriff der Resilienz, die die Kultur entwickeln muss. Darunter wird gemeinhin die Widerstandfähigkeit verstanden, Krisen durch den Rückgriff auf gesammelte Erfahrungen und Ressourcen für Weiterentwicklungen zu nutzen, eben Krise als Chance. In der Medizin und der Physik hat Resilienz eine etwas andere Bedeutung, nämlich die Wiederherstellung einer früheren Situation: Druck aufnehmen zu können, ohne zu zerbrechen, und in den Ursprungszustand zurückkehren – so wie ein Ball oder ein Stoßdämpfer. Bei den Szenarien, die der Kulturbereich derzeit für die Post- Corona- Ära entwirft, dominiert eher diese zweite Interpretation von Resilienz. Das ist nicht abwegig: Kunst- und Kulturschaffende und die Institutionen wollen – wie auch andere gesellschaftliche Sektoren – in den gewohnten Arbeitsmodus zurückkehren. Vermutlich entspricht das auch der Erwartungshaltung ihres Publikums. Aber war dieser ursprüngliche Zustand so erstrebenswert?

Kultureinrichtungen in kommunaler und Landesträgerschaft und -finanzierung werden dies überwiegend bejahen: Ihr Status sichert ihnen Resilienz, und auch während der Pandemie waren sie nie wirklich existenziell gefährdet. Bei aller Kritik an den Corona-bedingten Restriktionen im Kulturbereich ist zu konstatieren, dass nie so viel Empathie und staatliches Geld vorhanden war – sogar für die freie, zivilgesellschaftlich getragene Kultur. Das tat gut. Aber wie ist die Perspektive? Wie beurteilen die Künstler*innen und andere Betroffene sowie die freien, zivilgesellschaftlich getragenen Kultureinrichtungen ihre Existenzbedingungen vor der Pandemie? Und was erwartet sie für die Zeit danach?

Ungelöste Förderarithmetik

Corona hat das Brennglas auf die Lage dieses Kultursegments gelenkt, das neben den öffentlichen Institutionen als eine zweite Säule des kulturellen Lebens in Deutschland durchaus geschätzt wird. Für ihre künstlerischen Innovationen und Qualitäten wird sie gelobt. Auch die Publikumszahlen der Freien Szene sind im Vergleich mit etablierten Kulturbetrieben beachtlich: Beispielsweise verzeichneten 2017 die soziokulturelle Zentren 12,6 Mio.  Besuche, öffentliche Theater 20,5 Mio. Ihre materiellen Rahmenbedingungen halten jedoch mit ihrer Wirksamkeit nicht Schritt.

Bis Anfang der 1970er Jahre konzentrierte sich die öffentlichen Kulturpflege in der alten Bundesrepublik auf die Finanzierung der eigenen Theater, Museen, Bibliotheken, Musikschulen und andere, überwiegend kommunale Institute. Daneben gab es ein bisschen Hilfen für Künstler*innen und die Unterstützung kultureller Gemeinschaften. Ganz wenige Einrichtungen wurden kontinuierlich gefördert wie etwa die Kunstvereine. Mit der Entstehung einer freien und sozio- kulturellen Szene und ihrer Forderung nach einer Beteiligung am Kulturkuchen öffnete sich das System. Zunächst waren es vor allem Projektzuschüsse, später auch dauerhafter angelegte Förderprogramme insbesondere für Einrichtungen wie soziokulturelle Zentren, Jugendkunstschulen oder freie Theaterspielstätten.

Stets fielen diese Förderungen im Vergleich mit dem etablierten Kulturbetrieb geringer aus, und es wurden im Laufe der Zeit auch immer mehr, die sich in diesem neuen und differenzierten, Möglichkeiten und Distinktion versprechenden Kulturfeld zuwandten. Die Kulturpolitik selbst formierte sich alternativ: Sie war den neuen Entwicklungen, die einen Modernisierungsschub für den traditionellen Kulturkanon versprachen, gegenüber aufgeschlossen, und tat das in ihrem Rahmen Mögliche zur Unterstützung. Neue Themen wie Zielgruppen, Interkultur, Partizipation, Dezentralisierung und Alltagskultur(orte) fanden Eingang in die kulturpolitische Agenda. Diese Neue Kulturpolitik half der Bewegung auf die Beine, indem sie einen ideologischen Überbau und zusätzliche Finanzmittel für das Feld organisierte. Kritik hielt sie sich vom Leibe, indem sie den Besitzstand der alten Kulturkohorten nicht angriff. Diese Strategie hatte den Nebeneffekt, dass die Kulturetats seit fast 50 Jahren beständig anwachsen und mit dem Aufwuchs der öffentlichen Haushalte durchaus Schritt gehalten haben.

Allerdings kam und kommt der Großteil der Steigerungsraten den Konten der öffentlich getragenen, personal- und damit kostenintensiven Kultureinrichtungen zugute. Trotz vieler guter und durchdachter Förderansätze und -konzepte in den vergangenen Dekaden ist das Gefälle zwischen etabliertem Kulturbetrieb und freiem Kulturbereich immer noch eklatant, obgleich seine gesellschaftliche Wirksamkeit, sein künstlerisches Potential und seine Teilhabezugänge unstrittig sind. Prekäre und unzureichende Arbeitsbedingungen, fehlende finanzielle Planungssicherheit, Raumprobleme, Kampf um Sichtbarkeit und Anerkennung und letztlich um Mitgestaltung der öffentlich verantworteten Kulturentwicklung, und zwar auf Augenhöhe und nicht als Bittsteller: Das sind nach wie vor zentrale Herausforderungen für diese zweite Kultursäule.

Normallfall Projektförderung

Wer die Forderung nach Resilienz für die freie und soziokulturelle Szene nach Corona ernst nimmt, muss die Frage nach der Angemessenheit und Zukunftsfähigkeit des Kulturfördermodells in Deutschland beantworten. Das betrifft die kulturpolitische Relevanz der großen gesellschaftlichen Themen wie Klimawandel und nachhaltige Ökonomie, Globalisierung, Armut und Teilhabe, Diversität oder die Digitalität, aber eben auch ganz banal die Finanzierungsungleichheiten im Kultursektor. Wenn durch die Pandemie die Verletzlichkeit der nicht-staatlich oder kommunal verfassten Kultur überdeutlich hervorgetreten ist, wäre jetzt der Zeitpunkt eines grundlegenden Systemwechsels, der sich primär an die Sachwalter der Kulturfinanzierung auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene richtet.

Es gilt Abschied zu nehmen von einem Förderverständnis, das die freie Szene vor allem auf Maßnahmen reduziert, die zeitlich befristet und jederzeit rückholbar sind. Auf den Prüfstand müssen u.a. die Praxis der Ketten-Projekte für die Finanzierung von Einrichtungen, institutionelle Förderungen, die aber auf dem Regelwerk für die Projektförderung basieren, Optionsförderungen, die besonders qualifizierten Trägern für einige Jahre ein Auskommen ermöglichen, danach aber keine weitere Perspektive eröffnen, das Primat von Produktions- gegenüber Prozessergebnissen sowie Anteilfinanzierungen, bei denen erfolgreiche Eigenerwirtschaftung und Drittmittel die Förderung reduzieren und unflexibel und bürokratisch zu handhaben sind.

Selbst die großzügigen Corona-Hilfen staatlicher und kommunaler Herkunft spiegeln die Asymmetrie zwischen einer zeitlich eingegrenzten und einer nachhaltigen Förderung wider, denn die allermeisten Zuwendungen werden projektbezogen vergeben. Das bedeutet für die Projektverantwortlichen, dass sie antragsbasiert und (innovations)orientiert an definierten Kriterien für ein erwartetes Ergebnis arbeiten, verwendungsnachweispflichtig entsprechend der geltenden Allgemeinen Nebenbestimmungen sind, sowie der Notwendigkeit unterliegen, nach einem erfolgreich durchgeführten Projekt sogleich das nächste zu platzieren, um durch die anhaltende Krise zu kommen. Auch wenn viele Akteur*innen diesen Modus als Normalzustand kennen, hätte man sich doch wenigstens während des pandemischen Ausnahmezustands eine beständigere Unterstützung gewünscht.

Die Frage der qualitativen Bewertung – wer sie nach den Regeln von Zugänglichkeit, Transparenz, Nachvollziehbarkeit sowie eigener Fachkompetenz vornimmt und letztlich die Förderentscheidungen trifft – ist konstitutiv für die Akzeptanz jeder Kulturförderung. Doch gerade die Qualitätsfrage wird in Deutschland ungern offen diskutiert und kommuniziert; teilweise wird sie sogar als zu subjektivistisch bei Förderprozessen ausgeklammert. Dabei mag ein starkes Ausstattungs- und Finanzierungsgefälle zwischen öffentlichen und freien Trägern auch zukünftig durch qualitative Unterschiede durchaus begründbar sein, vielfach aber auch nicht.

Wenn beide Welten einmal aufeinanderstoßen wie beim Berliner Theatertreffen, bei dem seit einigen Jahren auch freie Produktionen zugelassen werden, sind die vielfach bemühten Qualitätsunterschiede nicht auszumachen. Im Jahr 2021 kamen schon drei von zehn eingeladenen Inszenierungen aus dem frei-produzierenden Bereich. In der kulturellen Bildung räumen besonders viele zivilgesellschaftliche Institutionen wie etwa Jugendkunstschulen oder Medienwerkstätten renommierte Preise ab. Was die freie Szene an neuen Methoden und Formaten erprobt und entwickelt hat, wird oft vom öffentlichen Kulturbetrieb adaptiert – allerdings unter deutlich besseren Rahmenbedingungen.

Dynamische Fördersysteme

Manchmal lohnt der Blick nach außen, z.B. in die Niederlande. Mit der Aktion Tomate (Aktie Tomaaat) protestierten 1969 (!) junge Theaterleute gegen eine verkrustete Theaterstruktur, was in der Folge die niederländische Kulturlandschaft insgesamt dauerhaft verändert hat. Für die vierjährigen Legislaturperioden legt ein Kunstplan die staatlichen Förderungen für die öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Kulturinstitutionen und -organisationen fest. Nicht das für Kultur zuständige Ministerium oder eine staatliche Behörde bewerten die Förderanträge und treffen die Förderentscheidungen, sondern ein Rat für die Kultur aus Fachleuten.

Ebenfalls alle vier Jahre wird die Förderperiode evaluiert und unter Berücksichtigung der Ergebnisse ein neuer Kunstplan aufgelegt. Mit seiner Umsetzung sind häufig Stiftungen und Fonds betraut (»Förderung auf Armlänge«). Gesetzlich ist das Verfahren, das vergleichbar auch in den Provinzen und Kommunen praktiziert wird, im Cultural Policy Act (1993) geregelt. Dieses System hat zu einer Flexibilisierung, Diversifizierung, Transparenz und Öffnung der Förderstrukturen geführt, die Förderzugänge der unterschiedlichen Kulturträger weitgehend gleich- und Erbhöfe infrage gestellt. Obwohl bis zu 30 % der staatlichen Kulturmittel in den vergangenen Förderperioden umgeschichtet worden sind, geht es nicht um maximale Flexibilität oder eine neoliberale Marktidee. Die Erfahrungen zeigen, dass auch die kulturelle Substanz des Landes nicht verloren hat; ganz im Gegenteil wird sie durch die permanente Anpassungsdynamik gestärkt.

Die skizzierte Konzeption folgt keinem additiven Kulturpolitikmodell, das an seine finanziellen und infrastrukturellen Grenzen kommt, auch nicht einem reduktiven Ansatz, der aufgrund begrenzter Mittel oder Einsparszenarien neuen Entwicklungen restriktiv begegnet oder sie ausschließt. Vielmehr geht es um einen regelmäßig geführten Diskurs über künstlerische und kulturelle Herausforderungen im Kontext gesellschaftlicher Prozesse, bei denen auch die Nachfrageseite und veränderte Kulturinteressen einbezogen sind.

Das Modell privilegiert weder die öffentlichen noch die freien Kulturträger, die den gleichen Maßstäben von Qualität, Wirksamkeit und Effizienz unterliegen. Risiken und Verluste werden bewusst in Kauf genommen, müssen aber fachlich begründet sein. Auf der anderen Seite werden mit einer transformierten Förderkonzeption nachvollziehbare Verfahren und mehr Verteilungsgerechtigkeit erreicht. Die ihr innewohnende Dynamik befördert zudem Veränderungsprozesse bei den Kulturangeboten und ihren Trägern. Denn: Wer Transformation ernst meint, muss auch die materiellen Grundlagen in den Blick nehmen.

Elemente einer verteilungsgerechteren Kulturförderung

Die Forderung nach Resilienz richtet sich vor allem an die Förderinstitutionen und ihre Förderarchitektur. Auch wenn das niederländische System der Kulturfinanzierung in seiner Gänze nicht auf Deutschland übertragen werden kann, so lassen sich doch zentrale Elemente im Förderbereich umsetzen und finden sich in einigen Kommunen und Ländern, bei öffentlichen und privaten Stiftungen sowie den selbstverwalteten Kulturfonds auf Bundesebene, wenn auch bisher überwiegend im Rahmen einer Projektförderung.  Eine Neujustierung der Kulturförderung durch deutsche Kulturadministrationen erscheint also durchaus möglich.

Dazu gehören für Einrichtungen und künstlerische Kollektive vor allem eine verlässliche mehrjährige Förderung, Festbetragsfinanzierungen, unabhängige fachliche Expertisen bei Förderentscheidungen, mediatorische Förderfonds, Kombiförderungen durch Land und Kommune, vereinfachte Regeln für Anträge und Mittelverwendungen sowie – ganz wichtig – ein Vertrauensvorschuss (in den Niederlanden sind bis zu Förderbeträgen von 25.000 € keine Verwendungsnachweise erforderlich).

Auf der Seite der Betroffenen bedeutet Resilienz: Diversifizierung der Angebotspaletten, unaufwändige und flexibel einsetzbare Veranstaltungsformate, kleinere und dezentrale Kulturorte, neue Vertriebswege und Vermarktung, Fortsetzung der Digitalstrategien, Diversitäts- und Vermittlungsprogramme, gesellschaftsbezogene Kollaborationen und Vernetzungen, Koproduzieren mit anderen Ensembles und Einrichtungen, subsidiäre Dienstleistungen für Kulturverwaltungen, vor allem aber auch die Stärkung der spartenbezogenen und übergreifenden Interessenvertretungen – denn ohne diese werden Veränderungen der Fördersysteme nicht durchsetzbar sein.

50 Jahre nach der Gründung der ersten freien und soziokulturellen Initiativen dürfte es an der Zeit sein, diesem Bereich mittelfristige Finanzierungsperspektiven zu eröffnen. Das erfordern die erreichte Professionalität sowie der Generationenwechsel in den Einrichtungen, der nur gelingen wird, wenn verlässliche Förderstrukturen die sozialen Standards und Gestaltungsmöglichkeiten sichern. Die Orientierung am gesetzlichen Mindestlohn wie jetzt im Entwurf des NRW- Kulturgesetzbuches führt in die falsche Richtung. Weiterhin auf die intrinsische Motivation der Kunst- und Kulturschaffenden zu setzen, wird nach den negativen und positiven Erfahrungen mit der Pandemie, den existenzgefährdenden Schließungen und den existenzsichernden Hilfspaketen, nicht ausreichen. Die zahlreichen privaten Theater- und Museumsgründungen im vorvergangenen Jahrhundert haben weniger Zeit gebraucht, um sogar den Ewigkeitsstatus öffentlicher Einrichtungen zu erlangen. Wenn in Deutschland schon die Klimaschutzziele bis zum Jahr 2030 nicht erreicht werden: Könnte nicht bis zu diesem Zeitpunkt zumindest eine nachhaltige Kulturförderung verwirklicht sein?



Autoren

Kurt Eichler ist Berater für Kulturpolitik und Kulturplanung und war bis Ende 2017 Geschäftsführender Direktor des Kulturbetriebe Dortmund.

Relevanz, Resilienz, Resonanz

7. Juli 2021

Einige Gedanken zur Transformation von Kultur

Was Corona sichtbar macht, lag längst brach. Oft bemüht, deswegen aber nicht weniger wahr und auch für den Bereich der Kultur gültig: Die Pandemie ist Brennglas und Katalysator. Offenbar werden nicht nur die kurzfristigen, existenzbedrohenden Nöte von Soloselbständigen und Kultureinrichtungen – offen zutage treten auch deren mittelfristigen strukturellen Zwänge und Grenzen. Der Weg aus der Krise weist in Richtung der Großen Transformationen, die unsere Gesellschaft gewärtigt. Ob Digitalisierung, Nachhaltigkeit oder Inklusion: Ein einfaches Weiter So und stetiges Mehr vom Selben stößt an die Grenzen eines selbstzerstörerischen Wachstums.

Und dennoch zeigen die Ergebnisse und Umfragen rund um Pandemie und anstehende Wahlen, dass signifikante gesellschaftliche und politische Mehrheiten auch weiterhin vom Status Quo Ante, vom Wieder-Weiter-So eines volkswirtschaftlichen V-Effekts ausgehen. Nach der Krise soll wie vor der Krise sein. Doch fällt Künstler*innen und Kulturschaffenden, Kunstfunktionären und Kulturpolitiker*innen tatsächlich so wenig ein? Wollen sie wirklich so systemrelevant sein, dass sich an ihrem bestehenden System so wenig ändert wie in der Finanzbranche nach der Finanzkrise von 2009/2010? Entspricht das noch der Autonomie und dem utopischen Potential eines gesellschaftlichen Bereichs, der von sich selbst immer wieder als einem der letzten verbliebenen öffentlichen Räume innerhalb einer durchrationalisierten und durchfunktionalisierten Gesellschaft schwärmt?

Es waren die ersten Wochen und Monate der Pandemie vor bald anderthalb Jahren, die noch heute von einer Vielzahl von Menschen als besonders beängstigend, aber auch als besonders offen und hoffnungsvoll beschrieben werden. Eine Situation, in der vieles, wenn nicht gar alles möglich schien, die in Windeseile vor Projektionen in alle möglichen gedanklichen Richtungen nur so wimmelte. Es ist eine solche iterative Situation, die wir uns für die Debatte rund um die Zukunft der Kultur nur wünschen können – eine Situation, die sich zwar nicht künstlich wiederherstellen lässt, der wir aber anhand des vorliegenden Debattenbeitrags mit einigen assoziativen Beobachtungen, unvollständigen Überlegungen und nicht abgeschlossenen Impulsen nachspüren wollen. Nach der Krise wird nicht vor der Krise sein: Was lernen wir aus den Zuspitzungen der letzten Monate?

Eine Große Transformation?

Die neue Wachstumsdiskussion aufgrund des Klimawandels, schwindender natürliche Ressourcen und Infragestellung der Fortgültigkeit des westlichen, sich ständig vermehrenden Wohlstandsideals hinterlässt Spuren, auch in der Diskussion über die Zukunft der Kultur, ihrer Entwicklungsmöglichkeiten und ihres Selbstverständnisses. Die Situation scheint gleichermaßen offen wie bedrohlich: Viele der bisherigen Debattenbeiträge rechnen mit einem spannenden und harten Ringen innerhalb der politischen und zivilgesellschaftlichen Debatte um die zukünftige Verteilung ökonomischer Mittel und öffentlicher Aufmerksamkeit. Fast alle gehen davon aus, dass sich irgendetwas ändern wird, ändern muss. So richtig greifen können die Meisten die Chancen und Risiken dieser Veränderung allerdings noch nicht.

Das trifft den Wesenskern dessen, was Soziolog*innen in der Folge des österreichischen Wirtschaftswissenschaftlers Karl Polanyi „Die Große Transformation“ nennen. Beim Begriff der Transformation geht es um eine eigendynamische und komplexe, von vielen gleichzeitig auftretenden und sich gegenseitig bedingenden Faktoren entfesselte, grundlegende gesellschaftliche Veränderung. Transformationen sind keine Revolutionen, die im Namen einer neuen gesellschaftlichen Ordnung von einer politischen Avantgarde gemacht werden; sie sind aber auch keine Reformen, die das Bestehende so verändern, dass es in der alten, leicht veränderten (Re-)Form bestehen bleiben kann.

Transformationen vollziehen etwas, das wir nicht aufhalten können, das passiert – ein Energiewandel, der stattfindet, ob wir es wollen oder nicht. Die entscheidende Frage, die sich stellt: Können und wollen wir Transformationen als offene Gesellschaft gestalten oder überlassen wir das anderen gesellschaftlichen Mehrheiten und Konstellationen? Karl Polanyi analysiert in diesem Zusammenhang die sozioökonomische „Große Transformation“ des ausgehenden, sog. langen 19. Jahrhunderts bis hin zur Machtergreifung der Nationalsozialisten. In diesem historisch abgeschlossenen Fall waren es die nicht demokratischen Kräfte, die sich bei der Gestaltung der Transformation durchzusetzen wussten.  

Insofern handelt es sich bei Transformationen um Prozesse der Veränderung, die notwendigerweise stattfinden, zwangsläufig, geradezu überfällig erscheinen, bei denen sich aber die Frage stellt, wer sie zu gestalten und für sich zu reklamieren weiß. Irgendwann lassen sich Fakten nicht mehr leugnen: Ob es um die Diversifizierung von Einwanderungsgesellschaften, um den voranschreitenden Klimawandel oder sich im Zeichen des Digitalen radikal verändernde Kommunikations- und Wahrnehmungsmuster geht. Vielleicht ist es vor diesem Hintergrund kein Zufall, dass die kraftvollen aktivistischen Bewegungen auf den Feldern der Digitalität, Nachhaltigkeit und Inklusion trotz Corona nicht an Präsenz verloren haben.

Obwohl ihnen monatelang die Protestoptionen der Straße nicht offenstanden und die übergroße Mehrheit der Menschheit andere existentielle Probleme zu bekämpfen hatten, sind Black Lives Matter und Fridays For Future, #MeToo oder Netzaktivismus äußerst präsent geblieben. Diese Bewegungen verstricken sich weder in der realpolitischen Kritik des Bestehenden, noch irrlichtern sie in der Sphäre des rein Utopischen. Ganz offensichtlich beschreiben die Transformationsvorgänge nicht nur die Zustände, die es zu ändern, sondern auch solche, die es zu erreichen gilt; nicht nur die Wege dorthin, sondern auch die Zustände nach dem Weg. Deswegen geht es bei einer Transformation um Digitalität, und nicht um Digitalisierung; um Nachhaltigkeit, und nicht um Klimaschutz; um Inklusion, und nicht um Emanzipation oder Diversifizierung.

I. Bestand und Aufnahme

In städtischen Marketingbroschüren wird gern mit der eigenen Urbanität und Kreativität um neue Firmen geworben, werden Fachkräfte in ein kulturell inspirierendes Umfeld gelockt – alles im Dienste eines weiteren Wachstums der Stadt. Kultur wird zu einer weiteren Funktion im Gefüge des Immer-Mehr, Immer-Größer und Immer-Besser. Die Attraktivität der Städte im Konkurrenzkampf untereinander bemisst sich mittlerweile auch an der Zahl ihrer Musikclubs, der Bekanntheit ihrer Museen und Theater, und der Einstufung ihres Orchesters. Hochglanzbilder zeigen Kulturevents im Sommer, gut gelaunte Zuhörer*innen von Straßenmusik, Kinder beim Malen oder Entdecken geheimnisvoller Lost Spaces, die die anderen, noch ungeglätteten, unerschlossenen Seiten einer Stadt verkörpern sollen.

Kennziffern des Erfolgs?

Die Kulturverantwortlichen und Kulturpolitiker*innen haben sich in den letzten 20 Jahren in dieses Framing integriert und benutzen es gern. Sichert es ihnen doch zum einen eine gewisse Anerkennung jenseits ihrer eigenen Szene, indem ihnen von außerhalb Bedeutung zugetragen wird, zum anderen scheint es ihnen Argumente im Verteilungskampf um die kommunalen Finanzen zu liefern. Es wird eine Win-win-Situation kreiert: Das Bild der wachsenden Stadt wird um weiche, sympathische Seiten erweitert, die Kulturpolitik erhofft sich mehr finanzielle und räumliche Gestaltungsmöglichkeiten.

Die Wachstumsideologie hat aber längst die Selbstwahrnehmung des Kulturbereiches ergriffen. Erfolge werden mittlerweile gern ökonomisch berechnet: Publikumsrekorde bei Festivals werden ebenso gerne verkündigt wie (pressetaugliche) Besucher*innenzahlen von Ausstellungen oder die Auslastung der Hotelbetten. Die verbundenen Rankings und Preise lassen die eigene Arbeit leuchten. Zudem färbt Entwicklung auch auf die Inhalte der Kulturarbeit ab: Musikreihen werden nach möglichst hohen Ticketverkaufszahlen gestaltet (gern mit der Bemerkung, dass dadurch ja dann auch die „Nischenkonzerte“ mitfinanziert würden); mühsam ausgehandelte Kompromisse politischer Gremien oder der persönliche Geschmack eines Mäzens ersetzen anderweitige künstlerische Irritationen im Stadtraum; Theater werden zunehmend als Orte der Unterhaltung, weniger als Orte der Auseinandersetzung einer Stadtgesellschaft angesehen.  

Fragile positive Nebenwirkungen

Es ist anzuerkennen, dass diese Entwicklung in den letzten 20 Jahren zunächst auch Erfolge vorweisen konnte. In vielen Städten, die sich dies ökonomisch leisten können, stiegen die Kulturetats, nicht nur die der städtischen Kultureinrichtungen, sondern auch der Förderprogramme für den freien Kulturbereich. Ostdeutsche Beispiele geben Leipzig, Halle oder Jena (z.B. Jena freie Szene außer Theaterhaus 2006 ca. 300.000,-€, 2020 730.000,- € + weitere Programme) Für kulturelle Großinvestitionen konnten Mehrheiten beschafft werden; die Raumproblematik wird wahrgenommen – als Problem der Raumknappheit wie in Jena oder als Problem des sozialräumlichen Verdrängtwerdens wie in Leipzig oder Berlin oder an anderen prosperierenden Orten.

Die freie Kultur drängt aus der Rolle eines Bittstellers in die Rolle eines politischen Akteurs. In fast allen größeren Städten gibt es mittlerweile Kulturkonzeptionen respektive Kulturentwicklungspläne, die zumindest versuchen, mittelfristige kulturelle Entwicklungslinien aufzuzeigen. Mancherorts gelingt es sogar, diese Prozesse zwischen Politik, Kultur und Bürger*innenschaft so partizipativ zu gestalten, dass eine neue Vernetzung und ein neues Selbstbewusstsein der kulturellen Szenen entstehen. Und Kulturpolitiker*innen gelingt es vereinzelt, in deren Windschatten auch nicht zeitgemäße, nicht vermarktungsfähige Projekte gegen frühere politische Mehrheiten durchzusetzen.

Kultur als Opfer des eigenen Erfolgs

Doch längst beginnt ein Teil der Kultur zum Opfer ihres eigenen Erfolges zu werden. Klassisches Beispiel ist die erwähnte Verdrängung der Soziokultur aus einzelnen Stadtquartieren, die sie erst attraktiv gemacht hat. Ein anderes Phänomen kann man daran beobachten, wie mit dem eigenen Erfolg und dem Anderer umgegangen wird: Die erfolgreiche Ausstellung, der erfolgreiche Spielplan muss im kommenden Jahr mindestens genauso erfolgreich wiederholt, am besten übertroffen werden (und die Nachbarschaft überscheinen); die Erwähnung in den Feuilletons ist Pflicht, und wenn nicht dort, dann ist zumindest die Resonanz in den sog. „sozialen“ Medien relevant. Selbst Streit wird zu einem Wert an sich und bedeutet oft kaum noch Interesse am Thema selbst. Wettbewerb und Selbstoptimierung – in der Kultur immer schon vorhanden – werden nun zu ihrer Vorbedingung, zum sich verstärkenden Antrieb ihrer Entwicklung.

Die Folge ist eine Dauer-Eventisierung der Kultur, die immer zuerst die öffentliche Aufmerksamkeitsökonomie bedient und weniger die eigenen Inhalte betont, seltener ihre Relevanz aus sich heraus definiert. Nichtsdestotrotz wird für die dauernde Schaffung von stetig Neuem selten Altes und dessen Fortbestand hinterfragt. Das kulturpolitische Muster folgt lieber der Logik des sich selbst ernährenden Wachstums: Neue Projekte werden lieber mit Aufwuchs von Ressourcen begründet, als ihren Beginn und Erfolg mit unangenehmen Diskussionen über Ressourcenknappheit und möglicherweise notwendige Priorisierungen zu gefährden. In den letzten Jahrzehnten wurde noch jede neue Entwicklung, noch jedes neue Thema schließlich mit einem additiven Förderprogramm überklebt, das am Ende oft noch nicht einmal gründlich evaluiert wird. Das lässt sich in Zeiten wachsender Ressourcen durchaus bewerkstelligen; auf Dauer wird es jedoch kaum durchzuhalten sein. So wuchs in den letzten Jahren Kultur zwar quantitativ und additiv, jedoch kaum qualitativ und substantiell.

Die Krise und ihre Wahrnahme

Die Frage nach den Grenzen des sich selbst prästabilsierenden Wachstums stellt sich erst recht mit Beginn der Corona-Pandemie. In der Krisenbekämpfung waren Kultureinrichtungen die ersten, deren Angebote geschlossen wurden. Für Industrie und Flugverkehr gab es schon Programme und Kurzarbeitsgelder, ehe die ersten Hilfen für Künstler*innen, Soloselbständige und Kulturinitiativen überhaupt politisch erwogen wurden. Diese kamen dann nicht nur verspätet, sondern zunächst bürokratisch verquast, unpraktikabel und lebensfremd. Die Schere zwischen kultureller Realität, Kulturverwaltung und -politik, insbesondere auf Bundes- und Landesebene konnte kaum größer klaffen. Glück hatte noch die öffentlichen Kulturinstitutionen, kamen doch dort ebenso Kurzarbeit wie Nähe zu Vor-Ort-Entscheidungsträger*innen in Sachen Infektionsschutz zum Tragen.

Freie Kräfte – ausgerechnet die, die sich vor dem Vorzeichen der Kreativwirtschaft in den letzten Jahren so unabhängig von staatlicher Hilfe gemacht hatten wie nur irgend möglich – sahen sich plötzlich in jeglicher Hinsicht abhängig. Ironie ihres Schicksals, auf dessen Erfolgsversprechen die Politik zuvor so euphorisch angesprungen war: Ein Kulturverständnis, dessen Messbarkeit und Erfolgskennziffern plötzlich nicht mehr als selbsterfüllende Prophezeiung, sondern als besondere Volatilität und Prekarität einzahlte. Es dauerte Monate, bis es der sog. Veranstaltungswirtschaft endlich gelang, in einem vergleichbaren Maße wie die Hotel- und Gastronomie-Lobby, etwa der Branchen-Dachverband DeHoGa, zur Spitzenpolitik durchzudringen.

Nach wie vor (und trotz der mittlerweile 4,5 Grütters-Milliarden) spielt Kultur bei den Überlegungen zur Verteilung der knapperen Ressourcen in den Entscheidungen jenseits von Sonntagsreden eine untergeordnete Rolle. Nach der Krise ist sie die erste Kürzungsoption, die keine Wertschätzung als notwendiger weicher Standortfaktor mehr erfährt, sondern erneut freiwillige Kostenstelle, die infrage gestellt werden kann. Die harte Infrastruktur wird als Hebel neuerlichen Wachstums gefördert: Verkehrsprojekte, Gewerbeentwicklung, Wohnen, ggf. noch Schulen und Kindertagesstätten – Kultur darf erst dann wieder Ansprüche anmelden, wenn Gesellschaft und Ökonomie wieder im Wachstumsmodus brummen.

Eine Frage der Wertschätzung

Doch nicht nur die politische Ebene, auch das Publikum bringt den kulturellen Nöten gegenwärtig wenig Wertschätzung entgegen. Sicher, wir erinnern uns an den Applaus für Balkonkonzerte vor einem Jahr und kennen die über die sog. „sozialen“ Medien und in Gesprächen immer wieder geäußerte Sehnsucht nach Kino, Konzerten und Cluberlebnissen. Dagegen beispielhaft die Erfahrung: Vorhandene Möglichkeiten, auch online Künstler*innen für ihre Arbeit zu bezahlen anstatt kostenlos zu streamen (oder über Streamingdienste, die Künstler*innen kaum Tantiemen überweisen), werden sowohl spärlich genutzt als auch verhalten angeboten. Wie stark ist tatsächlich die Bereitschaft, Kultur nicht nur in Anspruch zu nehmen, sondern ihren Wert zu schätzen?

Nach einem Jahr Pandemie ist der Kulturbereich schwer angeschlagen und für den Neuanfang schlecht aufgestellt. Persönliche Erschöpfung, wirtschaftliche Insolvenz, berufliche Umorientierung in immer breiterer Bahn kommen hinzu, die Resilienz einzelner Akteur*innen wird zwischen ökonomischer Katastrophe und immer wieder verschobenem Neubeginn zerrieben. Neue Argumente entgegen der oben benannten Verknüpfung zwischen Wachstum und Kultur wirken zunächst schal und verbraucht. In diesem Licht ist die starke Bewegung aus der Soziokultur heraus gegen erste pandemiebedingte kommunale Haushaltssicherungskonzepte wie in einzelnen Kommunen in NRW oder gar in den vergleichsweise wohlhabenden kleinen Großstädten Bamberg oder Jena nicht zu unterschätzen. Sie bietet einen mit der Beständigkeit der eingangs erwähnten aktivistischen Bewegungen vergleichbarer Hoffnungsschimmer.

II. Bewegung

Wie gelingt nun der Neuanfang? Und wie können wir jenseits der Wachstumslogik die Frage beantworten, was Kultur als Sinnstifter und Raumöffner innewohnt? Dazu einige bewusst nur assoziative Denkanstöße:

Heilung

Wir werden alle verwirrt, fragend und verletzt aus dem Coronageschehen herausgehen. Psychische und seelische Verfasstheit, materielle Existenz und physische Gesundheit – all dies wird bei vielen von uns zur Disposition stehen. Wir werden Räume und Zeiten zur Genesung brauchen, Formen, Bilder, Klänge, die zeigen können, was wir selbst nicht auszusprechen im Stande sind. Kultur und Künstler*innen haben nach den größten Unheilen immer ihre zentralsten Arbeiten schaffen können.

Ob Dante Alighieri in den Krisen des Mittelalters, Heinrich Schütz nach dem 30jährigen Krieg, oder u.a. Wolfgang Borchert, Inge Müller, Heinrich Böll, Günter Eich und Ingeborg Bachmann nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs. Auch diesmal müssen wir nicht befürchten, dass solche kulturellen Würfe nicht entstehen werden – und auch nicht bangen, dass sie ihr Publikum finden werden, dem sie bei der Bewältigung des Erlebten helfen werden. Was könnte dies für kulturpolitische Akteur*innen bedeuten? Wäre es vielleicht eine Möglichkeit, analog früherer Themenjahre die Nachpandemiejahre 2022/23 zu Jahren der Heilung zu erklären und die Förderprogramme danach auszurichten, Orte, Ereignisse und Zeiten für diese heilsame Begegnung zu organisieren?

Resilienz

Doch Heilung ist noch an einer anderen Stelle nötig: Gerade die Künstler*innen (und auch das begleitende Kreativgewerbe) sind durch die gegenwärtige Krise verletzt. All das oben Beschriebe trifft sie in einem besonderen Maße, ihre existentielle Not und deren Missachtung sitzen als materielle und symbolisch-emotionale Erfahrungen tief. Jetzt gerade in ihre Krise hinein zu sparen, wird ihren Existenzkampf endgültig zum Scheitern verurteilen. Stattdessen sind sogar zusätzliche Hilfen für den Wiederaufbau nötig – auch auf kommunaler Ebene. Förderprogramme, mit denen wohl eher selten zu rechnen ist. Dennoch muss in der Folge der Krise überlegt werden, wie der Kulturbereich mehr Resilienz gegenüber zukünftigen Krisen aufbauen kann.

Es gilt, dieses Thema als eines der Themen der kommenden Jahre zu benennen, sowohl innerhalb der Kulturbetriebe, als auch in der Kulturpolitik. Ohne Bearbeitung dieses Themas wird sich die gegenwärtige Katastrophe in der Kultur wiederholen. In diesem Zuge bleibt immer wieder darauf hinzuweisen, dass Kultur ihrerseits in empirisch belegtem Maß resilienzbildend auf Einzelne und die Gesellschaft als Ganzes wirkt. Ihre Abwesenheit in der Pandemie, selbst als passiv vermisstes Gut, ist momentan in aller Munde.

Qualität

Daher sind wir überzeugt: Will sich die Kultur aus dem ökonomischen Wachstumsdenken lösen, gelingt dies nur, indem sie sich selbst ökonomischen Bewertungsmaßstäben und funktioneller Verwertung entzieht. Als einziges Bewertungskriterium bliebe die Qualität der Kunst selbst. Ein umstrittenes Diktum, entlang der Grenze zur Lagerbildung und zum Geschmäcklerischen. Dennoch plädieren wir für den stetigen Versuch der Versachlichung der entsprechend zu führenden Debatten: Jede Form lässt sich wenigstens im Abgleich des künstlerischen Ziels mit den gewählten Mitteln und der Konsequenz ihrer Durchführung diskutieren. Nimmt man dies im politischen Raum ernst, kann jedoch die Politik Kultur schlecht bewerten, sie wäre noch mehr als bisher von fachlicher Expertise von außen angewiesen.

Eine radikale Konsequenz wäre es, Kulturförderentscheidungen konsequent an externe, divers zusammen gesetzte Fachgremien zu delegieren, im letzten Schritt auch die Erarbeitung von Kulturentwicklungsplänen sowie der darin beschriebenen Entwicklungsschritte samt benannter Bedarfe externen Fachgremien oder sogar den Akteur*innen selbst zu überlassen. Dafür Modelle für die Kultur jenseits der gegenwärtigen politischen Gremien zu erarbeiten, könnte das Ziel einer Diskussion der kommenden Jahre werden – das Ziel einer längst überfälligen kulturpolitischen Debatte, die daraufhin in Richtung zweier ebenso fragmentarischer gedanklicher Ansätze verlaufen könnte, wie wir sie in den nächsten beiden Anstrichen formulieren:

Radikale Subjektivität

Wie können wir in Ausstellungen, Aufführungen und Programmen künstlerische Positionen und subjektive Ansätze stärken? Wir glauben: Löst sich Kultur stärker von ökonomischen Zielen, kann Kunst wieder der Raum werden, in dem Subjektivität radikal möglich ist. Entstehung und Rezeption wird in erster Linie ein individueller Prozess, der sich objektivierender Verwertung entzieht. Durch subjektive Sichtweisen und Aneignungen kann ein wacher Blick auf die eigene Person und die der anderen gewonnen werden, auf die eigene fragile Existenz und die fragile Existenz der Umgebung, die persönliche Krisenbewältigung und Transformation und die der Anderen.

Nur auf dem Weg des Bekenntnisses von Subjektivität in der Kultur kann auch die zunehmende Diversität unserer Gesellschaft widergespiegelt werden. Wir bemühen dazu zwar keinen intersektionalen Ansatz, aber gerade angesichts der derzeitigen Identitätsdebatten kann eine radikal subjektive Kunst abseits festgefahrener Fronten ihren eigenen Beitrag leisten – und vor allem eins: wirklich beim jeweils realen Individuum mit ihrer/seiner Geschichte und Prägung, ihren/seinen Gefühlen und Gedanken bleiben.

Radikale Objektivität

Und gleich widersprechen wir uns: Wollen wir nicht gerade eine wissenschaftsgeleitete Politik, insbesondere in der Gegenwart von Klimawandel und Pandemie? Und geht es nicht bei Wissenschaft um nachvollziehbare, überprüfbare Erkenntnisse, um Nachweise, Belege, Fakten? Vielleicht ist es gerade in einer Wissensgesellschaft wie der bundesrepublikanischen eine spannende Möglichkeit, Subjektivität der Kultur und Objektivität der Wissenschaft in ein spannungsreiches, wechselseitiges Gespräch zu bringen? Wissenschaft böte der Kultur inhaltliche Relevanz; Kultur böte der Wissenschaft gesellschaftliche Resonanz. Wirklich spannend werden entsprechende transdisziplinäre Diskurs- und Festivalformate, wenn Kultur nicht für Illustration oder Vermarktung benutzt wird, sondern beide Seiten ihr eigenes Recht behalten, sich auf Augenhöhe begegnen und unterschiedliche Wege der Erkenntnis und Verwirklichung mit einander durchspielen.

Urbanität

Auf diese Weise gälte es, in die wesentlichen Spannungsfelder unserer Zeit einzusteigen. Urbanität kulturell neu zu denken, hieße, zunächst existierende Konflikte und Divergenzen der Städte als die zentrale gesellschaftliche Größe unserer Zeit zu benennen und sichtbar zu machen, die sie sind. Sie neu zu denken, hieße, zu verdeutlichen, dass es unterschiedliche gegensätzliche Interessenlagen, soziale, politische und kulturelle Anliegen gibt, die nicht wegmoderierbar sind. Verlassene Fabrikgelände sind zunächst keine neue Kulisse für Ateliers und Kreativwirtschaft, sondern können und sollten als unmittelbares Zeugnis ehemaliger, gescheiterter Industrie und abgebauter Arbeitsplätze mit all ihren Folgen benannt werden – glatte Fassaden und betonierte Flächen sollten nicht als neue, nutzbare Stadträume, sondern zunächst als anonyme Leerflächen für sich selbst stehen. Um wie viel mehr wird dies für verlassene Ladenflächen und unwirtliche öffentliche Räume in der Folge ihrer Nichtnutzung während der langen Monate der Pandemie gelten?

Urbanität würde so erst einmal nicht die Schönheit der Stadt bedeuten – sondern im ästhetischen Sinn die Benennung, Sichtbarmachung, gar Inszenierung des Konfliktes ihrer Bevölkerungsgruppen und dessen vielfältige Hintergründe. Im Bewusstsein, dass es in dieser Auseinandersetzung Verlierer*innen und Gewinner*innen gibt und kein allseits befriedigendes Verhandlungsergebnis möglich ist, sind es Kunst und kulturelle Äußerungen, die einseitige Parteinahme wiederentdecken (und nicht Gegensätzlichkeit verschönen). Erst darüber werden auch verbindende Elemente wieder sichtbar.

Zur Illustration dieser etwas abstrakten Überlegung zwei Beispiele aus dem ehemaligen Textilindustriezentrum Łódź, der zweitgrößten Stadt Polens. Hier dienen z.B. Murales (großflächige Wandmalereien) nicht (nur) der Verschönerung der Stadt, sondern offenbaren deren Verletzlichkeit und ihre Untiefen.

Daneben haben sie ein Zeichen der Verbundenheit der Menschen mit ihrer Stadt manifestieren können. Der Hauptboulevard der Stadt, die Piotrkowska-Straße, wurde mit Steinen ausgeschlagen; zu lesen sind die Namen von Bürger*innen, die für die Stadtgesellschaft einen Beitrag geleistet haben. Eine im doppelten Wortsinne niedrigschwellige Arbeit. Derzeit sind dort über 10.000 Platten zu sehen; hunderte weitere kommen jedes Jahr dazu. Wie könnten solche Zeichen in NRW, Bamberg oder Jena aussehen? Wie können die dortigen urbanen Konflikte kulturell sichtbar gemacht werden?

Rückbindung

Zu Entwicklung, Aufbruch und Transformation der Kultur brauchen Kunst und Kultur nicht nur progressive, sondern auch konservative Kräfte. Feste Konfliktlinien mögen künstlerisch inspirierend und dem eigenen (partei)politischen Selbstgefühl entgegenkommen, gesellschaftlich und kulturpolitisch jedoch verzögern und verhindern sie notwendige Entscheidungen und Projektentwicklungen. Nach der Pionierarbeit der Freien Szene und Soziokultur ab den 1960er Jahren, nach der Neuen Kulturpolitik einer Kultur für Alle ab den 1970er Jahren waren in den 00er und 10er Jahren Entwicklungen der freien Kultur, neue Konzepte und Angebote auch deswegen möglich, weil auch die konservativen Bildungsbürger*innen und Kulturpolitiker*innen in Gespräche zur Kulturentwicklung eingebunden und nicht ausgegrenzt wurden (was mehrheitstechnisch vielerorts möglich gewesen wäre).

Es herrschte, neben immer wieder zermürbenden Debatten, eine gegenseitige Anerkennung eines dialogischen Kulturverständnisses, sich verändernder Hör- und Sehgewohnheiten, sodass Konservative für Freiräume für neue, aktuelle Kunst gewonnen werden konnten. Wer hätte vor 50 Jahren gedacht, dass John Cage oder Joseph Beuys eines Tages zu Lieblingen auch der hochkulturellen Institutionen oder des konservativen Feuilletons werden? Erstaunlicherweise entdeckt gleichzeitig die progressive Seite beim Blick zurück wiederkehrende Sichtweisen und Denkmuster:

Was lässt sich angesichts der aktuell laufenden aktivistischen Diskurse von der lebensreformerischen Ganzheitlichkeit des frühen 20. Jahrhunderts, dem Getriebensein der 1920er, was von den Utopien, Protest- und Aktionsformen nach 1968 in Berkeley, Westberlin oder Prag, was von den kulturellen und politisierten Dissidenzen und Renitenzen in der ostdeutschen Diktatur und anderen osteuropäische Staaten der 1970er und 80er Jahre lernen?  Wie prägen diese Entwürfe und Aktionen Widerständigkeit und Aufbruch gegenüber dem Zeitgeist und verdeutlichen Wege, notwendige, umstürzende Veränderungen in Gesellschaft und Stadt auch künstlerisch auszudrücken?

Rückbesinnung

Zur Rückbindung gehört die Rückbesinnung auf die dunklen Seiten von National- und Stadtgeschichte. Zunächst scheint die bundesrepublikanische Gedenkkultur hier gut aufgestellt – regelmäßige (selbst)kritische Debatten, jährliche Gedenktage und Stadtgeschichtstage, Stolpersteine, NS- und DDR-Aufarbeitungsinstitutionen u.a.m. Und doch wird in Stadt und Staat Vergangenes immer wieder aufs Neue erratisch diskutiert – im Zeichen der aktuellen identitätspolitischen und postkolonialen Debatten oftmals einhergehend mit materiellen und symbolischen Aneignungskämpfen um Deutungshoheiten, Infragestellungen neuer Erkenntnisse und politischer Profilierungsbemühungen verschiedener Beteiligter.

Wir betrachten das Feld der Erinnerungskultur und Gedenkarbeit in einer sich stark diversifizierenden Gesellschaft als einen der Schlüsselmomente der kulturellen Entwicklung nach der Pandemie. Bei aller berechtigen Forderung nach Berücksichtigung marginaliserter Perspektiven benötigt die Debatte dennoch auch weiterhin das stete Bemühen um rationale Argumente, gegenseitigen Respekt und – abseits von jeglicher Moralisierung und Emotionalisierung – die Trennung von Person und Sache. Rückbesinnung braucht Struktur, Verlässlichkeit, Augenhöhe untereinander und Langatmigkeit. Dieser Anspruch ist und bleibt mühevoll, solange Aufarbeitung mit Sprechenlassen von Fakten, Differenzierung und Überzeugen verbunden wird.

Sehen, was ist: Die*der Kulturpolitiker*in als Künstler*in?

Beginnen wir daher bei uns selbst: Progressive Kulturpolitiker*innen sehen sich gegenwärtig als Ermöglicher*innen. Sie stellen Räume für Kultur zur Verfügung, Ressourcen für deren Ermöglichung, Proviant für die künstlerische Reise. Sie tun dies scheinbar selbstlos – für Andere. Das klingt zunächst positiv – Kulturpolitik wird so nicht als Durchsetzung einer eigenen ideologischen oder ökonomischen Agenda verstanden. Doch zugleich besteht die Gefahr, sich damit auf pragmatistische und technizistische Positionen zurückzuziehen, die im Wettstreit mit anderen politischen Zielen verhandelt werden.

Wie mag es sein, wenn die Kulturverantwortlichen ihre Arbeit selbst als kulturelle Äußerung, als künstlerische Aktion begreift? Könnten in der Kulturpolitik dann Begriffe wie Ambition, Scheitern, kreatives Handeln, Berührtsein, das Zulassen poetischer Situationen, von Lücken eine stärkere Rolle spielen? Worin bestünden dann die künstlerischen Ansprüche, die Materialien, Bezugsrahmen, Selbstverwirklichungen? Wie würden die anderen Politiker*innen darauf reagieren? Würden diese künstlerischen Kulturpolitiker*innen auch so unmittelbar und radikal ihre Werke verteidigen wie Künstler*innen? Eines würde sicherlich geschehen: Sie könnten mit den Künstler*innen wieder auf einer anderen Ebene, auf deren eigenen Ebene, sprechen.

Intensität vs Depression

Doch das Staccato und die Lautstärke des gegenwärtigen Kulturbetriebes – und auch dieser, unserer Gedanken – mag noch einen anderen Hintergrund haben. Menschen mit Depressionen kennen diese Momente, wenn eine gläserne Gummiglocke die eigenen Sinne abschirmt, Eindrücke, Emotionen, Signale das Innere nicht mehr erreichen, die innere Schwingung nicht mehr auf Äußeres antwortet. In solchen Situationen mögen Betroffene oder deren Umfeld verleitet werden, die Regler aufzudrehen, das Tempo zu erhöhen um wieder etwas zu spüren. Doch dieser Reflex nützt nichts, zumindest nicht auf Dauer. Helfen kann vielleicht das Gegenteil: der Abstand zu sich, um sich zu verstehen und sich zu verzeihen, die Verlangsamung, das Leiserwerden, das Zulassen von Trauer als Kraft. Intensität statt Tempo, Bei-sich-sein statt Anerkennung. Ein Moment der Heilung vielleicht auch im Raum der Kunst.

Heimat

In der Kultur kann somit etwas Neues entstehen, das wir mit dem alten und mittlerweile von anderen politischen Kräften missbrauchten Wort Heimat verbinden möchten. Heimat kann verschieden verstanden werden, als Herkunft, als Verortung in Raum und Zeit, als kulturelle Identität, neurobiologisch als Unmenge von Engrammen, die mit einem Ort verbunden sind, als politische Zugehörigkeit, als Verweis ins Jenseits, als individuelles Empfinden… Wir möchten für unsere Kultur die utopische Interpretation von Ernst Bloch zitieren und dann umformulieren:

»Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt, sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« (Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 5. Teil / Kap. 55, S. 1628, Frankfurt a.M., 1985)

Wenn wir beginnen, Kultur als Utopie zu sehen, arbeitend und schaffend, die Gegebenheiten umbildend und uns mit ihr an unsere Wurzel fassen, und dies für uns und doch im Miteinander tun, gehen wir auf etwas zu, das uns seit Kindheitstagen her scheint, was in uns sehnt und wo wir noch nicht sind – und was uns doch wohl immer schon umgibt: Heimat.

III. Resonanz

Kehren wir also dorthin zurück, wo wir noch nicht sind: Zu uns. Die Basis für diesen Mut, diesen Geist des Aufbruchs ist und bleibt die Stabilität der institutionellen Förderung, der institutionellen Grundausstattung der Kulturfinanzierung, der Kulturinstitutionen selbst. Ohne sie ist weder die Gestaltung der eingangs beschrieben Grunddynamik der laufenden großen, noch die Verwirklichung der im Laufe des Textes beschriebenen kleineren Transformationen irgend möglich.

Wir glauben, dass ein wesentlicher Teil des aktuellen Transformationsdiskurses an der Kultur als Betrieb vorbeiläuft. Die Dynamik im Schlagabtausch von Künstler*innen und Publikum mit- und jeweils untereinander überfährt viele Möglichkeiten der notwendigen Organisationsentwicklung der Kulturinstitutionen. Sinnbildlich zugespitzt im Brennglas der letzten Monate: Während einerseits ein regelrechter Kulturkampf im Feuilleton tobt, beschäftigen sich Geschäftsführungen und Belegschaften andererseits mit dem eigenen Fortbestehen, stecken wahlweise in Kurzarbeit oder im Home Office.

Kultur und Resonanz

Mit dem Jenaer Soziologen Hartmut Rosa knüpfen wir in diesem Zusammenhang an eine der ureigensten Erfahrungen sowohl beim Erleben, als auch bei der Kreation von Kultur an: Die Rede ist von Resonanz als Selbst(wirksamkeits)erfahrung und Intensitätsereignis in der Rückkoppelung des Einzelnen mit der Welt. Jeder Mensch kennt diese grundhaften Erlebnisse des Eins-Werdens mit seiner Umwelt, sei es im familiären und sozialen Raum, inmitten der Natur, beim Sport oder in der Religion. In seiner Resonanztheorie beschreibt Hartmut Rosa auch sogenannte Resonanzachsen der Produktion und der Rezeption von Kunst und Kultur.

Eine allgemein bekannte eindrückliche Beschreibung dieser oftmals gemeinschaftlich erlebten Resonanz ist etwa das Singen im Chor und das daraus entstehende Potential einer kollektiven Performanz und Intensität. Umgekehrt erinnert sich rein empirisch betrachtet jede*r an Konzert- oder Theaterabende, an Ausstellungsbesuche, Lese- oder Filmerlebnisse, bei denen das Gefühl der direkten Verbindung der einzelnen Zuschauer*innen oder gar der kollektiven Erfahrung eines Publikums im Hier und Jetzt des Kosmos eines Kunstwerks entstand. Mystiker*innen beschreiben solche Erfahrungen als Räume, die sich in und durch Kultur für innere Wege und Erkenntnisse öffnen, als Räume zwischen Entsagung des Eigenen, Entfernung von täglichem Getriebensein und des Einlassens auf etwas Unbekanntes, der Erfahrung einer unmittelbaren Begegnung. Dazu muss man nicht gläubig sein, diese Seite ist der Kultur eigen. Wir erinnern uns und fragen uns gegenseitig: Weiß Du auch noch, wie das war, als Du das erste Mal Radiohead gehört hast/ Tarkowskij gesehen/ das ensemble resonanz live erlebt hast?!

Drei Resonanzachsen

Neben diesen Beschreibungen von Resonanz bei der Kreation oder beim Erleben von Kunst und Kultur fehlt eine dritte Resonanzachse. Während die Kreation eine vertikalen Achse bildet, auch im Sinne der Rückbindung der künstlerischen Praxis an Traditionen und Wissen des jeweiligen Genres, lässt sich im Hinblick auf Zugänglichkeit und Rezeption des Publikums von einer horizontalen Achse sprechen, die auf dem Weg eines gemeinschaftlichen Erlebens gesellschaftliche Unterschiede inkludiert und zu einer temporären Kontingenz, Offenheit im Sinne einer flachen Hierarchie führt.

Diesen beiden Resonanzachsen fehlt eine dritte Dimension, die der Übersetzer*innen, der Brückenbauer*innen – die Dimension der Kunstinstitution, des Kulturbetriebs. Anders als bei Hartmut Rosa würden wir diese diagonale, oder Z-Achse im Kulturbetrieb verorten. Kunst- und Kulturinstitutionen sind nicht irgendwelche Betriebe. Sie sind die dritte Resonanzachse als Gelingensbedingung für das Ereignis der Entgrenzung und Resonanz von Kunst. Nur wenn das dort geteilte Wissen, die dort tradierte Erfahrung als stetig experimentierende Institution und lernende Organisation selbst in ein Resonanzverhältnis zur Produktion und Rezeption von Kunst gebracht werden, entstehen außergewöhnliche Situationen, gar Epochen, wie sie post coronam wieder möglich sein könnten und nötig sein werden.

Kunst und Institutionen

Am Ende des ersten Teils von Christoph Menkes »Kraft der Kunst« gibt es ein kurzes, kleines, aber entscheidendes Post Scriptum. Menke spricht darin vom Spannungsverhältnis zwischen Kulturinstitutionen und Künstler*innen. Ausgerechnet am Beispiel des Grünen (Bayreuther) Hügels beschreibt er das Wechselspiel zwischen der ungerichteten, unbändigen Kraft der Künste und der formenden, organisierenden Hand der Institution. Anhand von Friedrich Nietzsches Antikenrezeption der »Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik« lassen sich hier zwei Kraftfelder ausmachen, die in einer fruchtbaren Reibung miteinander stehen: Die dionysische und maßlose Kraft der Kunst begreift die künstlerische Arbeit als exzentrischen, immer weiter suchenden, nie zufriedenen Prozess; das apollinische Vermögen der Institution mit all ihren räumlichen, zeitlichen, personellen und finanziellen Ressourcen ermöglicht und begrenzt diese.

Ohne das Setzen von Rahmenbedingungen wie Budgets und Terminen, der Organisation von Kommunikation sowohl in internen Abläufen, als auch in Form von Marketing und Vermittlung gegenüber der Öffentlichkeit, käme es nie zur Veröffentlichung, zur Vernissage, zur Premiere. Unterschätzen wir nicht die darin liegende besondere Resonanzqualität einer Institution, die jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit künstlerischen Produktionsprozessen mitbringt! Man denke nur an die in der kulturpolitischen Debatte als durchweg positiv beschriebene, von allen Tarifparteien politisch stets heftig verteidigte und auf der Aufnahme-Liste des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO stehende deutschsprachige Orchester- und Theaterlandschaft mit ihren zwei wesentlichen weltweiten Alleinstellungsmerkmalen: der fest angestellten Ensembles und des im Rahmen einer Stadtgesellschaft verorteten Repertoire-Spielbetriebs.

Kurzum: Kunst und Institution, damit auch Kunst und Publikum, stehen in einem paradoxen Verhältnis zueinander: Einerseits die wuchernde, frei-radikale, chaotische, dionysische Kraft der Kunst; andererseits der formende, organisierende, übersetzende, apollinische Rahmen der Institution für ein Publikum. Beide Seiten brauchen einander und stehen daher in einem für beider Erfolg unabdingbaren wechselseitigen Kräftemessen. Vergessen wir also nicht die Dimension des Betriebs als Resonanzachse und Gelingensbedingung für die Produktion und das Erlebnis von Kunst und Kultur!

Der resonante Kulturbetrieb

Werden wir zum Abschluss noch etwas konkreter und deuten an, welche praktischen Auswirkungen ein derartig alteriertes Verständnis der Kulturbetriebe als Resonanzkörper mit sich bringen müsste.  Aus unserer Sicht kommt es auf nichts mehr oder weniger an, als darauf, die Arbeit innerhalb der Betriebe gänzlich und ganzheitlich neu zu organisieren:

Das beginnt bei einer rationalen, aber nie in die Freiheit der Kunst eingreifenden Kulturpolitik, die sich für die Kompetenzen – nicht nur die künstlerischen oder wissenschaftlichen, sondern vor allem die Führungs- und Changekompetenzen – des von ihr auszuwählenden und eng zu begleitenden Führungspersonals interessiert, die sich anhand der Instrumente von Kulturentwicklungsplänen mit klaren Visionssetzungen und Zielstellungen auseinandersetzt, sich für die Gestaltung und Entwicklung von Personal und Organisation der Kulturbetriebe interessiert und diese mittels Rahmenplänen und -verträgen sowie Zielvereinbarungen begleitet und forciert. Und zugleich eine eigene künstlerische Sprache findet, die – wie oben beschrieben – selbst Ambition, Berührtsein und Scheitern zulässt.

Das geht über ein neues Selbstverständnis von Personal- und Organisationsentwicklung, das die Leitungskräfte dazu empowert, sich Neue Arbeit (sog. „New Work“) im Rahmen flacher Formen der Selbstverständigung zu eigen zu machen, das auf die überzeugende Sinnhaftigkeit gemeinsam gesteckter Ziele und daraus entstehende intrinsische Motivation der Mitarbeiter*innen setzt, die Mitarbeiter*innen also nicht als Instrumente begreift, sondern sie als Organismus des Kulturbetriebs pflegt und diese Ressourcen als stetig zu regenerierende Quellen versteht.

Das reicht bis hin zur intrinsisch motivierten Selbstorganisation und -führung der Mitarbeiter*innen selbst, die ihre Arbeit als sinnhaft erleben und eigenverantwortlich in ihre Hände nehmen, bis hin also zu einem Verständnis von Arbeit als künstlerischem Prozess im weitesten Sinn (wie oft wurde doch Joseph Beuys mit seinem berühmt-berüchtigten Satz, jeder Mensch sei ein Künstler, genau an dieser Stelle missverstanden!) und einem daraus entstehenden gänzlich gewandelten Binnenklima des Kulturbetriebs der Zukunft.

Nochmal: Kulturbetriebe sind nicht einfach irgendwelche Betriebe. Sie sind die Grundlage, das größte, das bleibendste Risiko, aber auch die größte, stabilste Chance für die Entfaltung von Kunst. Es gilt, sie genau so sehr in eine innere Resonanz zu versetzen wie die Kunst und ihr Publikum!

IV Coda im Dreiklang

Kurz gefasst möchten wir die notwendige und längst laufende Transformation von Kunst, Kultur und des Kulturbetriebs auf die einfache Formel eines Dreiklangs bringen: Relevanz, Resilienz, Resonanz. Damit beschreiben wir nicht nur die drei zentralen Begriffe der kulturpolitischen Diskussion in der Pandemie, sondern auch den groben Verlauf, die großen Züge der Debatte der letzten 20 Jahre. Seit den 2000er Jahren war die kulturpolitische Debatte von der Frage nach der Relevanz, nach der Welthaltigkeit von Kunst und Kultur, geprägt. Immerzu ging es um eine rechtfertigende, funktionalisierende Selbstbehauptung des Kulturbetriebs:

Kunst als Standortfaktor, Kunst für die Umlagerentabilität, Kunst als sozialer Kitt einer Teilhabe Aller. Nie allerdings: Kunst als eigenlogischer Selbstzweck. Parallel dazu lief und läuft die schleichende Implosion, der verkappte Infarkt der Betriebe, deren Ressourcen kaum so nachhaltig gesteigert wurden, dass sie den immer neuen Ansprüchen an Öffnung und Diversifizierung, an Digitalisierung und Innovation gerecht werden konnten.

Spätestens seit Beginn der Pandemie geht es nun um die Resilienz, schlicht und ergreifend die Widerstandsfähigkeit und den Überlebenswillen von Kunst und Kultur. Letztlich aber führt auch diese Diskussion auf die einfachste und zugleich schwierigste aller kulturpolitischen Fragen hinaus: Was sind uns Kunst und Kultur als Gesellschaft wert? Was sind wir bereit, zu ihrem Unterhalt an Ressourcen beizutragen? Mit dieser Frage kommen wir zur Urerfahrung, unser ursprünglichsten Motivation von und für Kunst und Kultur zurück:

Zur Erfahrung von Resonanz, sowohl auf der Ebene der künstlerischen, als auch der institutionellen Produktion, sowie ihrer Rezeption auf Seiten des Publikums. In der Balance dieser drei Resonanzachsen, zwischen Künstler*innen, Institution und Zuschauer*innen, erweist sich der Kunst- und Kulturbetrieb der Zukunft; in der Balance dieser drei Diskursfelder, zwischen Relevanz, Resilienz und Resonanz erweist sich die Kulturpolitik der Zukunft.



Autoren

(c) privat

(c) Matthias Eckert

Tilo Schieck, geboren 1964 in Leipzig, aufgewachsen in Arnstadt / Thüringen. Studium der Landwirtschaft in Halle in der 80ern (konnte aus politischen Gründen nicht beendet werden), Studium der Theologie in Jena (aus persönlicher Entscheidung nicht beendet). Seit über 20 Jahren in einem Jenaer Hightech-Unternehmen der Optikbranche tätig. Politisiert in den 80er Jahren in der DDR-Opposition (Friedenskreise, Theaterarbeit …). 1989-1994 bei den Reformprozessen an der Jenaer Universität in verschiedenen Ämtern…. 1994-2019 kommunalpolitisch tätig, Stadtrat, Schwerpunkt Kulturpolitik (u.a. 2009-2019 Werkausschussvorsitzender JenaKultur), seit einigen Jahren auch fotografisch unterwegs.

Jonas Zipf studierte Psychologie in Berlin und Paris sowie Sprech- und Musiktheaterregie in München. Als Dramaturg und Regisseur arbeitete er für eine Vielzahl von Produktionen in In- und Ausland (u.a. Thalia Theater Hamburg, Schaubühne Berlin, Schauspielhaus Zürich, Theater Basel, Alfortville Paris, Wagenhallen Stuttgart, Staatstheater Mainz, Wiesbaden Biennale). Von 2011 bis 2013 war er leitender Dramaturg am Theaterhaus Jena und in der Spielzeit 2014/15 Schauspieldirektor am Staatstheater Darmstadt. Er arbeitete als Festival-Kurator (Rodeo-Festival München, Datterich-Festival Darmstadt) und Lehrbeauftragter (u.a. LMU München, HfMT Leipzig, TU  Darmstadt, JGU Frankfurt, JGU Mainz, FSU Jena). Seit Juli 2016 ist er als sog. Werkleiter des städt. Eigenbetriebs JenaKultur der Kulturverantwortliche der Stadt Jena; seit 2020 Präsident des Thüringer des Kulturrats.

Age Matters!

30. Juni 2021

Alter als Dimension kultureller Diversität

»War schön. Kann weg« lautet der sprechende Titel eines Online-Symposiums über das Alter(n) in der darstellenden Kunst, das auf Einladung des Künstlerduos Angie Hiesl + Roland Kaiser und mit Unterstützung des Förderfonds Kultur & Alter des Landes Nordrhein-Westfalen und der Kunststiftung NRW im Februar 2021 stattfand. Es widmete sich der Frage, welche Herausforderungen sich älteren Künstler*innen in Bezug auf ihre Weiterentwicklung, Wirkung, Wahrnehmung, Förderung und Absicherung stellen. Die Diversitätsdimension Alter ist nicht nur für Kulturschaffende von existenzieller Bedeutung, sondern betrifft darüber hinaus die Kultureinrichtungen, ihre Angebote und deren Vermittlung.

Alter als diskriminierende Diversitätsdimension

Unter den Diversitätsdimensionen wird das Alter nicht nur im kulturpolitischen Diskurs häufig marginalisiert und fällt leicht hinten rüber. Woran mag das liegen?

Zum einen spielt hier die Sozialfigur des sich seiner Privilegien noch nicht einmal bewussten alten weißen Mannes eine Rolle, der zur machtkritischen Selbstreflektion seiner Stellung im Kulturbetrieb einigermaßen unwillig erscheint. Ihm wurde unlängst die der privilegierten »alten weißen Frau« zur Seite gestellt, die bislang weit weniger mediale Aufmerksamkeit auf sich zog. Schweift der Blick aber über das Publikum, so scheint es, als ob die beiden, gern in Paarkonstellationen, die Kulturräume so bevorzugt bevölkern, dass sich mit gutem Recht die Frage stellt, wo viele Kultureinrichtungen ohne sie wären.

Zweitens betrifft das Alter alle Menschen – sofern sie nicht jung sterben. Alter ist keine konstante Identitätszuschreibung. Zudem erleiden auch jüngere Menschen Altersdiskriminierungen. Als diskriminierend erfahrene altersidentitäre Anrufungen häufen sich jedoch mit zunehmendem Alter, so dass auch diejenigen, die ihr Leben lang kaum unter Diskriminierungserfahrungen zu leiden hatten, im höheren Alter eine recht hohe Chance haben, diese Erfahrung zu machen.

Drittens sind Konstruktionen subjektiver Altersidentität im höheren Alter häufig fragil: Alt sind sehr oft die Anderen. Differenzierte Altersbilder sind rar, so dass die Identifikation mit diskursiven Altersidentitätsentwürfen von vielen in kalendarischer Hinsicht älteren Menschen verweigert wird oder ihnen zumindest schwerfällt.

Vereinfachende Altersstereotypisierungen verdecken zudem die komplexen intersektionalen Verschränkungen von Diversitätsdimensionen, welche die Zugangsbarrieren vieler älterer Menschen zu kulturellen Angeboten und kultureller Bildung eklatant erhöhen und ihr allgemeines Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe bedrohen. Auch für Ältere gilt: Verschiedene Ausschlüsse wirken zusammen und potenzieren sich mit zunehmendem Alter.

Prekäres Alter

Fitte, aktive, selbst versorgende Rentner*innen haben lange das Bild des Alters hierzulande dominiert und die Altersarmut unsichtbar gehalten. Studien zeigen, dass Altersarmut vor allem Frauen betrifft: Ein Grund dafür ist, dass Frauen der Jahrgänge zwischen 1930 und 1955 deutlich geringere Bildungschancen hatten. Späte kulturelle Bildungsmöglichkeiten zum Beispiel in Museen, aber auch in der Musik oder im Theaterspiel decken gerade für viele ältere Frauen ein Defizit, das sie in ihrer Generation schmerzlich seit ihrer (häufig viel zu kurzen) Schulzeit empfinden (Gajek 2021).

Eingeschränktes Alter

Mit fortschreitendem Alter steigt das Risiko für körperliche und kognitive Einschränkungen: Laut Statistischem Bundesamt (2020) sind über zwei Drittel der Menschen mit Behinderung Menschen über 55 Jahre. Allerdings verschieben sich dank des medizinischen Fortschritts die Altersgrenzen, an denen Mobilität und Kognition nachlassen, statistisch immer weiter nach hinten.

Für die Kulturpolitik bedeutet dies, Maßnahmen von baulicher, sinnlicher und kognitiver Barrierefreiheit, zu der sie laut UN-Behindertenkonvention schon seit 2009 verpflichtet ist, ernst zu nehmen und zu fördern. Im Feld der Vermittlungsangebote für die wachsende Anzahl von Menschen mit Demenz gibt es heute schon erfreulich viele und gute Angebote in zahlreichen Museen, aber auch im Bereich der Musik und des Theaters.

Besonders der ländliche Raum altert überproportional und ist aufgrund seiner strukturellen Defizite stark von den demografischen Veränderungen betroffen. Gerade hier bedarf es innovativer Strategien, partizipativer Projekte, Hol- und Bringangebote und künstlerisch gestaltete Dritte Orte, um älteren Menschen Teilhabe, auch an Kunst und Kultur, zu ermöglichen.

Buntes Alter

In Deutschland leben rund 18,5 Mio. Menschen mit Migrationsgeschichte. Mehr als 1,8 Millionen sind über 65 Jahre alt. Sie haben häufig weniger Zugang zu Bildung und Gesundheitsvorsorge, aber auch zu kultureller Bildung und Kultureinrichtungen. Wie ihre Bildungs- und Teilhabeansprüche wahrgenommen werden können, zeigt beispielsweise das Historische Museum Frankfurt im künstlerischen Erinnerungsprojekt »Bibliothek der Generationen«.

Homosexualität und Sexualität im Alter sind ein doppeltes Tabu: Trotzdem gibt es immer mehr ältere Menschen, die offen ihre sexuellen Orientierungen, geschlechtlichen Identitäten und Biografien leben. Hier gehen beispielsweise Theater in Schottland voran, die die ältere LGBTIQ*-Community zu »Coming Back Out Balls« einladen.

Differenziertes Altersbild

Differenzierte und vielfältige Bilder vom Alter wirken Diskriminierung entgegen und unterstützen das Miteinander der Generationen. Es ist die Aufgabe von Kulturpolitik, diese Vielfalt sichtbar zu machen und das Recht auf kulturelle Teilhabe im Alter zu gewährleisten. Seit 2008 macht sich das Kompetenzzentrum für kulturelle Bildung im Alter und Inklusion (kubia) als landesgeförderte Fachstelle in NRW dies zur Aufgabe. Mit Forschung, Information, Beratung und Weiterbildung rückt es die Diversitätsdimension Alter in ihren intersektionalen Verschränkungen ins kulturpolitische Bewusstsein.

Dieser Text erschien bereits in der Ausgabe Diversity Matters (173) der Kulturpolitischen Mitteilungen.



Autorinnen

(c) Ralf Bauer
(c) Ralf Bauer

Almuth Fricke, M.A., Literaturwissenschaftlerin und Kulturmanagerin, leitet seit 2008 das Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und Inklusion (kubia) am Institut für Bildung und Kultur in Köln.















Dr.in Miriam Haller, kulturwissenschaftliche Alterns- und Bildungswissenschaftlerin, leitet den Bereich Forschung am Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und Inklusion (kubia) in Köln.

Kein Interesse an Kultur?

9. Juni 2021

Neuer Konsens für die Künste gefragt

Sitzen in den Parlamenten, in den Verwaltungen lauter Kulturverächter*innen? Anne-Sophie Mutter sieht das offenbar so. »Das Leben von Künstlern ist in diesem Jahr so eingeschränkt worden, dass man von einem Kulturverbot sprechen kann«, sagte die Stargeigerin der Welt am Sonntag. Politik verachtet Kultur: Was die weltberühmte Virtuosin radikal äußert, fasst das Lebensgefühl vieler Künstler*innen in der Corona-Pandemie zusammen. Sicher, nicht nur Kulturmacher*innen leiden unter dem Lockdown. Jetzt geht es aber um mehr als um den Protest einer Branche. Die Corona-Pandemie hat offengelegt, dass ein Konsens erodiert sein muss, der das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft in Deutschland getragen hat. Die Kultur ist zu und Politiker*innen kümmert das nicht. Wie ernüchternd.

Aber kann das sein, im Land der Dichter*innen und Denker*innen? »Kultur ist kein Luxus, den man sich nur in guten Zeiten leistet. Sie gehört zum Wesenskern unserer Gesellschaft«, hatte Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung gesagt. Ein schönes Bekenntnis, das Risse bekommen hat. Die Kulturhäuser sind seit langer Zeit zu. Erst nach und nach sollen sie wieder öffnen. Wenn Lockdowns und Notbremsen verkündet wurden, war von Kultur oft nicht einmal mehr die Rede. Zudem hallt der Basta-Spruch von Isabel Pfeiffer-Poensgen nach. Nordrhein-Westfalens Kultusministerin hatte im letzten November gesagt, die Kultur dürfe sich in Corona-Zeiten keine Extrawurst braten lassen. Ein Warnschuss für den Kulturbetrieb? Ein verstörender Moment zumindest in einem Land, in dem klar zu sein schien, wofür Kultur und Künste da sind – für Sinn und Zusammenhalt.

Für Sinn und Zusammenhalt

Das versteht sich offenbar nicht mehr von selbst. Die Klage der Initiative Aufstehen für die Kunst klagt gegen die Schließung von Kulturhäusern. Musiker*innen wie der Dirigent Hansjörg Albrecht oder der Bariton Christian Gerhaher kritisieren die Lethargie der Kulturszene und sehen die Kunstfreiheit verletzt. Der Streit wird grundsätzlich, weil es nicht mehr nur um Zuschüsse geht, sondern um den Kern der Kultur – ihre Bedeutung. Welchen Stellenwert hat Kultur in Deutschland? Diese Frage muss neu beantwortet werden. Die Kommunikation zwischen Kultur und Politik scheint versiegt zu sein, aller wortreichen Bekenntnisse zum Trotz. Die Pandemie hat die Gesellschaft entlang der Linie des Geldes gespalten. Kultur findet sich auf der abgewandten Seite der Aufmerksamkeit wieder, gleich neben Bildung und Familie. Der Dienst des Menschen am Menschen, er zählt offenbar nicht viel.

Dabei sollte Kultur für so vieles gut sein. Die siebziger Jahre propagierten die Kultur für Alle, die Achtziger die Konjunktur des Festivals, die Neunziger Kultur als die eigentliche Sozialarbeit. Kultur als Marketing und Standortfaktor, schließlich als Medium für Inklusion und Diversität – die Inflation der kulturpolitischen Leitbegriffe ist zu einer Beliebigkeit der Zuschreibungen ausgefranst, die Kultur und Künste für alles und jedes in Anspruch nehmen wollen. Dieser Schulterschluss zwischen Politik und Kultur, Staat und Kunstbetrieb hat seine historischen Wurzeln. »Ich hoffe, Sie zu überzeugen (…), daß man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muss, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert.« In seinem Text »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« formulierte Friedrich Schiller den sehr deutschen Weg von jener künstlerischen Befreiung, die der politischen vorangehen sollte. Spuren von diesem Denken finden sich noch immer, zum Beispiel in fast jedem Spielzeitheft eines Stadttheaters.

Das Sinnfundament der Gesellschaft

Die Pandemie öffnet nun die Augen. In Deutschland werden eher Baumärkte als Opernhäuser geöffnet. Kultur firmiert im offiziellen Diskurs seit dem Beginn der Corona-Zeit als Freizeitbetrieb. Warum ist das bestürzend? Weil das zeigt, dass durch das Sinnfundament der Gesellschaft ein Riss geht, der lange unbemerkt geblieben ist. Höchste Zeit – ja, wofür? Mit dem Pflaster auf der Wunde ist es nicht getan. Die Corona-Zeit beschleunigt nur, was ohnehin anstand: Die Debatte um Kultur und Künste, Migration, Klimakrise und Digitalisierung machen klar, dass das Bespieltheater der Angebotskultur aus der Zeit gefallen ist. Programm, Publikum, kurz, das Projekt der Kultur, muss neu debattiert, ja, erstritten werden. Die Gesellschaft verhandelt sich gerade neu. Das betrifft gerade den Bereich, der ihr Sinnprogramm reproduziert: die Kultur.

Die Klage der Initiative Aufstehen für die Kunst ist ein guter erster Schritt, auch wenn das Projekt juristisch scheitern mag. Es geht darum, dass Künstler*innen ihre Interessen artikulieren und nicht wieder darauf warten, dass ihnen Politiker*innen soziale Funktionen zuschreiben. Viele Kulturhäuser und Kulturmacher*innen gehen bereits diesen Weg, indem sie konsequent digital arbeiten und Menschen erreichen, die vorher nicht zu ihrem Publikum gehörten. Die Gesellschaft braucht diese Aktivität ebenso wie die Energie der Künste selbst. Wie sehr sie als Medium und Erlebnisraum fehlen, zeigt die große Gereiztheit, in die viele Menschen gefallen sind. »Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet«, so noch einmal Friedrich Schiller. Klingt das nicht ungemein aktuell in einer Zeit, in der sich Menschen neu finden müssen?



Dieser Text erschien bereits in der Neuen Osnabrücker Zeitung vom 21.05.2021.



Autor

Dr. Stefan Lüddemann leitet die Kulturredaktion der Neuen Osnabrücker Zeitung und lehrt als Honorarprofessor an der Universität Osnabrück. Aktuelle Publikationen: Die neue Kunst der Gesellschaft. Wiesbaden. 2021, Kultur. Eine Einführung. Wiesbaden. 2019. www.stefan-lueddemann.de

Identitätspolitik löst keine Probleme

2. Juni 2021

Neue Herausforderungen für eine inklusive Kulturpolitik

Es geht ein Gespenst um in der Kultur – das Gespenst der Identitätspolitik. Derzeit vergeht kaum ein Tag, an dem sich nicht wenigstens ein Beitrag im Feuilleton der großen Zeitungen diesem Thema widmet, von den sozialen Medien ganz zu schweigen. Was vor Jahren noch eher ein Phänomen campusgestützter akademischer Debatten war oder sich vor allem auf reaktionäre Bewegungen im Umfeld der AfD und der ›Rechts-Identitäre‹ bezog, hat diese Enklaven längst verlassen und findet gegenwärtig Resonanz in Kunst und Kultur und in der Kulturpolitik. Der thematische Bezug und die Stoßrichtung der Argumentation haben sich jedoch verändert. Nicht mehr der Rechtspopulismus steht gegenwärtig im Zentrum der Kritik und der Auseinandersetzungen, was sie nicht weniger präsent und gefährlich macht, sondern die ›linke‹ Identitätspolitik, wie sie vor allem im Zusammenhang mit der Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten im Jahr 2016 bekannt geworden ist und sich seitdem auch in Westeuropa ausbreitet und diskutiert wird.

Die identitätspolitischen Debatten und deren tiefere theoretische und ideologiegeleitete Hintergründe und Kontexte sind mittlerweile kaum noch überschaubar und nachzuvollziehen und treiben seltsamste ›Blüten‹ bis hin zu überzogenen  Formen einer ›political correctness‹ und ›cancel culture‹, die nicht zuletzt mit antirassistischen, postkolonialen und queeren Bewegungen in Verbindung gebracht werden und den Kunst- und Kultursektor derzeit – zumindest diskursiv – durcheinanderwirbeln. Ausgestattet mit den Vokabeln der poststrukturalistischen Diskurstradition, des Postkolonialismus und der Gender Studies machen vor allem jüngere Menschen, die einen Status des Ausgegrenztseins für sich oder andere reklamieren, auf sich aufmerksam und fordern unter dem Label Diversity mehr Anerkennung, Repräsentanz und Sichtbarkeit für ihre jeweiligen Themen und Betroffenengruppen. Ihre Argumente sind dabei nicht gänzlich neu. Insbesondere die Forderungen nach mehr Chancengerechtigkeit und Diversität können sich auf die Programmatik der Neuen Kulturpolitik berufen.

Kulturpolitik als neue Gerechtigkeitspolitik

Es hat den Anschein, als erlebten wir derzeit eine Re-Politisierung der Neuen Kulturpolitik im Zeichen der Identitätspolitik und ihres Gerechtigkeitstopos mit allen Begleiterscheinungen, mit denen solche Prozesse in sozialen Bewegungen oft verbunden sind: eine gewisse Rigidität der Argumentation, die Überkonturierung der Positionen, die Selbstimmunisierung durch moralisch aufgeladene Begrifflichkeiten, unhinterfragbare Prämissen, rechthaberische Attitüden, intellektuelle Distinktion und aktives Framing der jeweils anderen Position als konservativ, reaktionär oder linksidentitär. Es geht dabei nicht nur um das Thema »Identität«, der Diskurs ist eine identitätspolitische Auseinandersetzung im links-liberalen politischen Spektrum, der mit harten Bandagen ausgetragen wird.

Manches dient der Klarheit, anderes der Diffamierung und geht in den extremen Ausprägungen bis hin zur Verachtung der Angesprochenen. Bisweilen kommt oft noch ein quasi-religiöser Diskursmodus hinzu, in dem die Kategorien Schuld, Scham und Opfer eine große Rolle spielen, die bei der Stabilisierung von Freund-Feind-Verhältnissen und den damit verbundenen identitären Selbstvergewisserungen behilflich sein mögen, aber einen rationalen und offenen Diskurs kaum noch möglich machen. Die eingesetzten Begriffe haben dabei – vor allem in ihrer adjektivischen Form (rassifiziert, migrantisiert, marginalisiert) – eine problematische Qualität, weil sie nicht nur Realität beschreiben, sondern sie gleichzeitig bewerten und eine Täter-Opfer-Beziehung herstellen. So verschwimmen wissenschaftliche Analyse, politisches Statement und moralische Empörung. Vor allem die kategorische Gegenüberstellung einer imaginierten Dominanzkultur und einer immer größer werdenden Zahl von intersektionalen Betroffenengruppen erschwert die diskursive Auseinandersetzung.

Aber so ist Bewegungspolitik – auch. Da hilft es nur, sich gelegentlich an die eigene Seite zu stellen, die Ausgangsfragen wieder vorzulegen und sich darüber im Klaren zu werden, was eigentlich das Ziel von neuer Kulturpolitik und Kulturförderung in einer aufgeklärten und offenen Gesellschaft war und ist, was erreicht wurde und auch nicht erreicht werden konnte. Es lohnt sich, dies auch in der gegenwärtig identidentitätspolitisch aufgeheizten Debatte zu tun, bevor sie aus dem Ruder läuft. Einige Beiträge des Diversity-Schwerpunktes der Kulturpolitischen Mitteilungen Nr. 172 und des Blogs »Neue Relevanzen« auf der KuPoGe-Website beziehen sich explizit auf die Neue Kulturpolitik, namentlich auf Hilmar Hoffmann als ihren – neben Hermann Glaser – renommiertesten Vertreter. Das ist auch nachvollziehbar. Immerhin hatte dieser die Formel »Kultur für alle« (1979) populär gemacht und hatte ganz sicher auch nichts gegen eine Kultur von und mit allen einzuwenden. Für die Neue Kulturpolitik waren beide Ansprüche konstitutiv: die Demokratisierung der Kultur mit der Forderung nach kultureller Chancengleichheit und die Kulturelle Demokratie als programmatischer Begriff für eine pluralistische Kulturpolitik, die auch als ein Ansatz für eine diversitätsbezogene Strategie gedeutet werden kann.

Förderungspolitisch waren beide Ansätze schwer umzusetzen. Der inklusiven »Kultur-für-alle-Option« wurde schon damals der Vorwurf der »kulturellen Volksbeglückung« [1] gemacht und die Kultur von und mit allen stand bei manchen Kritiker*innen in Verdacht, die »Kulturen des Alltags« [2] zu kolonialisieren. Trotz dieser Vorbehalte führten die Konzepte zu konkreten Fortschritten in der Kulturpolitik. Dies gilt sowohl für die Förderung und Vermittlung der zeitgenössischen Künste und des kulturellen Erbes wie auch für die diversen neuen (damals: alternativen) kulturellen Interessen und Szenen, auch wenn der Erwartungshorizont bei vielen Reformer*innen größer war. So sind die vielen neuen Konzepte, Einrichtungen und Projekte der Soziokultur, der freien Kulturszenen, der kulturellen Bildung und der zielgruppenbezogenen Kulturarbeit von, für und mit Frauen, Senior*innen, Migrant*innen, Menschen mit Behinderungen etc. in den unterschiedlichsten Varianten schon seit den 1970er Jahren aus diesen Ideen heraus entstanden, obwohl sie es förderungspolitisch im Verhältnis zur institutionell vermittelten Kultur schwerhatten und immer noch schwer haben.

Das Dilemma der Neuen Kulturpolitik bestand stets darin, dass weder die Strategie der Chancengleichheit noch die der kulturellen Vielfalt vollends aufgehen konnte und immer nur ein Versprechen blieb. Weder konnte es gelingen, dass alle Menschen das öffentliche kulturelle Angebot in Anspruch nehmen, weil die kulturelle Teilhabe auf Freiwilligkeit beruht und weil es auch faktisch kaum möglich wäre, für alle Interessen Angebote vorzuhalten, noch sind die kulturellen Lebensweisen der Menschen eine unproblematische Referenzgrundlage für die Kulturförderung der Öffentlichen Hand, will man sich nicht in die Gefahr der schon angesprochenen kulturellen Kolonialisierung begeben Vielmehr ging es der Neuen Kulturpolitik stets darum, die kulturelle Teilhabe als gleichberechtigte individuelle Option, sei es rezeptiv-konsumierend oder aktiv-partizipatorisch, zu fördern, um Menschen zu befähigen, Kunst und Kultur zu genießen und die kulturelle Demokratie leben zu können.

Kultur als Arena der Identitätspolitik

Der politische Kompromiss, den es in reformpolitischer Perspektive in der Neuen Kulturpolitik zwischen den etablierten Kulturinstitutionen und den neuen Kulturszenen zu verhandeln galt, war insofern alles andere als trivial und als Interessenausgleich schwer zu formulieren, was letztlich dazu führte, das Problem im Sinne einer Doppelstrategie additiv anzugehen. Offensichtlich wird diese Frage derzeit erneut und radikal herausgefordert, wenn etwa mit dem Hinweis auf »Diversität« und »Gerechtigkeit« verschiedenste partikulare Gruppen, die sich als marginalisiert verstehen oder so »markiert« sind, gefördert werden sollen und jenseits der Bühnen der sogenannten weißen »Dominanzkultur« der Mehrheitsgesellschaft eigene »nicht rassifizierte« Spielräume einfordern.

Ähnlich wie in den 1970er Jahren gerät die Legitimation der Kunst- und Kulturförderung in den Strudel gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen und wird so zur Arena eines Konflikts, der in den geschützten Räumen der Kultur Resonanz findet und symbolisch und medienwirksam ausgetragen wird. Insofern ist die Gerechtigkeitsdebatte von damals noch lange nicht zu Ende, sondern geht in die nächste Runde. Im Fokus stehen dabei kritisch die Museen (Stichwort: Raubkunst) und die Bühnenkünste (Stichwort: Hierarchie, weiße männliche Dominanz) und als Gegenüber erneut auch wieder die Akteure der freien Kulturszenen und der Soziokultur als Orte der Vielfalt sowie – heute verstärkt – die neuen Ansprüche, die mit den Menschen unterschiedlicher geschlechtlicher Orientierungen (LGBTQIA*), der Inter- und Transkultur sowie der postkolonialistischen und antirassistischen PoC-Bewegung verbunden sind, die sich als neue Akteure aktiv ins Spiel bringen.

Dabei geht es vordergründig zunächst weniger um materielle Dinge als um mehr Anerkennung, Repräsentanz und Sichtbarkeit der oben genannten Gruppen. Was auf den ersten Blick selbstverständlich und machbar erscheint, wenn es darum geht, den Personalbestand der Kultureinrichtungen oder die Kuratorien der Fördereinrichtungen – ggf. auch qoutengestützt –  diverser aufzustellen, offenbart sich bei näherem Hinsehen als Problem. So muss jedes Diversity-Konzept scheitern, wenn die für die Identitätspolitik konstitutive Idee der »Intersektionalität« Anwendung finden soll, weil die so konstruierten Betroffenengruppen personell gar nicht repräsentiert werden können, wenn denn der Begriff der Repräsentativität nicht bis zur Unkenntlichkeit überdehnt werden soll.

Wenn dann noch die Idee der »kulturellen Aneignung« ins Feld geführt wird, die in ihrer überzeichneten Auslegung nicht mal den »innergesellschaftlichen Kulturaustausch« [3] möglich macht, weil Verständigung gebunden wird an das Prinzip der »gelebten Erfahrung«, dann wird der Pfad demokratischer deliberativer Kulturpolitik verlassen. Wer nicht mehr den gemeinsamen (Theater-)Raum bespielen will und für die das Allgemeine und die universalistische Idee auch kein akzeptierter Referenzrahmen mehr darstellt, weil »white supremacy« und heteronormative Dominanzkultur dem entgegenstünden, der/die plädiert indirekt für ein System des kulturellen Separatismus und der (Selbst-)Segregation, dass dem demokratischen Anspruch der Kulturpolitik entgegensteht. Solche Auffassungen, die im identitätspolitischen Kontext vertreten werden, stellen die Kulturpolitik vor weit schwierigere Fragen als in den letzten Jahrzehnten, weil sie auf eine weitgehende Delegitimierung der bisherigen Programmatik und Praxis der (Neuen) Kulturpolitik hinauslaufen.

Der Diskurs wird entsprechend ernst zu führen sein. Irritierend ist jedoch nicht nur die möglicherweise noch nicht ausformulierte Erwartungshaltung der marginalisierten Bevölkerungsgruppen respektive ihrer selbst ernannten Sprecher*innen, sondern auch die Art, wie diese vorgetragen wird. Reformen sind in demokratischen Gesellschaften bekanntlich auf konsensbildende Prozesse angewiesen, wenn sie auf breite Resonanz stoßen sollen. Dafür braucht es die Bereitschaft zur Verständigung, die auf Vorannahmen und Unterstellungen weitgehend verzichtet und auf Verständlichkeit Wert legt, was gewiss nicht immer einfach ist. In vielen Beiträgen, die sich als Plädoyer für eine diversitätsorientierte Kulturpolitik ausgeben, ist diese Voraussetzung nicht zu erkennen. So fragt man sich, wie geschickt es ist, diejenigen, deren Zustimmung die Veränderungen bedürften, gleich zu Beginn des Prozesses als dominanzkulturelle Unterdrücker anzuprangern, die offenbar zunächst einmal eine Art Kollektivschuld abzutragen hätten.

Wenn etwa argumentiert wird, der Schlüssel zu einem Reformprozess in Richtung auf mehr Diversität und Anerkennung könne darin liegen, dass sich die betreffenden Institutionen zuallererst eingestehen, »jahrzehntelang rassistisch ausgeschlossen zu haben« und der Neuen Kulturpolitik »einen rassistischen Bias« unterstellt (Demir/ Annoff 2021), dann blendet diese Argumentation nicht nur die Öffnungserfolge der Neuen Kulturpolitik (nicht nur im soziokulturellen Bereich) bewusst aus, sondern provoziert in Kenntnis der Konnotationen, die der Begriff Rassismus in der (noch) aktiven Kulturpolitiker*innengeneration auslöst, einen Streit, der kaum noch produktiv werden kann. Ähnlich verhält es sich, wenn »Menschen aus verschiedensten Hintergründen, Realitäten und Betroffenheiten« gegen eine »homogene Masse« ins Verhältnis gesetzt werden, wie es in dem Beitrag von Sarah Elisabeth Braun geschieht. In solchen Zuspitzungen ist kein Angebot zur Diskussion zu erkennen.

Offenbar geht es darum aber auch nicht, sondern vor allem um einen Machtdiskurs, in dem Sprache als Machtmittel eingesetzt wird, wie es der Poststrukturalismus gelehrt hat. Dies lässt kaum Spielraum für Verständigung, die doch eigentlich immer beschworen wird. Identitätspolitik begründet in dieser Form keinen Fortschritt und schon gar nicht für mehr Inklusion. Bei aller zugestandenen Asymmetrie der bestehenden Machtverhältnisse zuungunsten der Marginalisierten und der Ungeduld der Aktivist*innen: Beschämung löst keine Probleme, sondern schafft neue. Immerhin aber – auch das muss konstatiert werden – ist eines erreicht: Gerechtigkeit ist wieder ein Thema der Kulturpolitik.


[1] Fohrbeck, Karla (1979): Kulturbedürfnisse und kulturelle Infrastruktur, in: Deutscher Gewerkschaftsbund (Hrsg.): Gewerkschaftliche Kulturarbeit (Tagungsdokumentation), Düsseldorf

[2] Pankoke, Eckard (1982): Kulturpolitik, Kulturverwaltung, Kulturentwicklung, in: Hesse, Joachim Jens (Hrsg.): Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft. Politische Vierteljahresschrift, Vol. 13, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften

[3] Hermann Glaser/Karl Heinz Stahl (1974): Die Wiedergewinnung des Ästhetischen. Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur, München: Juventa


Autor

Dr. Norbert Sievers ist wissenschaftlicher Berater des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. Er war (Haupt-)Geschäftsführer der Kulturpolitischen Gesellschaft und hat zahlreich zum Thema Kulturpolitik publiziert.