Eine neue Sprache

12. Februar 2021

Neu.
Relevant.
UND divers.

Das sind Adjektive, derer sich die Kulturpraxis gerne bedient. Ob derartige Beschreibungen zutreffen und wenn ja, aus wessen Perspektive, das sind Fragen, die ich mir beim Blick auf die deutschsprachige und größtenteils weiße Kunst- und Kulturszene regelmäßig stelle.

Neu? Vielleicht. Relevant – für wen? Divers – weshalb/inwiefern?

Dass ein Transformationsbedarf besteht, um Kunst und Kultur für verschiedene Gruppen relevant und zugänglich zu gestalten, steht für mich außer Frage. Die Frage danach, wie sich eine kulturpolitische Neuausrichtung gestalten ließe, bedarf allerdings einer eingehenden Auseinandersetzung. Meine Einschätzung dazu, was konkret getan werden muss, damit marginalisierte Gruppen in der Kulturpraxis sichtbarer und hörbarer werden, ist keine, die nicht schon viele betroffene Menschen vor mir vorgenommen hätten. Ich werde mich im Verlauf dieses Textes daran versuchen, über eine Handlungsanleitung hinaus meine Utopie für diese Freiräume zu formulieren.

Auf den ersten Blick mag es scheinen, als seien Utopien leicht zu formulieren, jedoch wenig zielführend. Aus meiner Perspektive ist es so, dass wir auch in der Kunst nichts anderes tun: Wir schaffen Möglichkeitsräume, um damit Perspektiven auf eine Welt zu öffnen, die zu gestalten immer wieder neu möglich ist. Wenn ich hier also meine Utopie formuliere, dann, weil ich davon überzeugt bin, dass sich innerhalb der schriftlichen Auseinandersetzung schon Strukturen und Arbeitsansätze etablieren lassen, die in der Praxis wünschenswert wären.


Kurz: Die Zukunft lässt sich beeinflussen, indem mensch die Utopie jetzt zu denken und zu formulieren vermag. Damit verlangt die Zukunft der Gegenwart stets viel ab.

Möglichkeitsräume zu imaginieren hat für mich also immer etwas mit Mut zu tun, nie mit Naivität. Mut in der Gegenwart, an den »äußersten Rand« (May Ayim, 1990, S. 92) des Möglichen zu gehen, um damit die bestmögliche Zukunft greifbar werden zu lassen. Diesen Mut sollten vor allem jene, die das Privileg haben, diese Räume und Arbeitswelten neu zu definieren, finden.

Mein Blick auf diesen Themenkomplex ist erneut ein privilegierter. Beinahe bin ich geneigt, mich als zu deutsch, zu reich, zu heteronormativ einzuordnen, um mich an diese Fragestellung zu wagen. Beinahe. Denn natürlich liegen auch für mich als junge Schwarze Frau, die sich in entsprechenden Kontexten bewegt, Betroffenheiten und Erfahrungswerte vor.

Einen meiner Erfahrungswerte hat Nayyirah Waheed bereits wie folgt auf den Punkt gebracht:

»in your arrogance
you presume that i want your
skinny language.
that my mouth is building
a room for
it
in the back of my throat. it is not.« (Nayyirah Waheed, salt., 2013)

In eurer Arroganz nehmt ihr an, dass ich eure dünne Sprache möchte. Dass mein Mund einen Raum dafür in seinem Rachen bildet. Er tut es nicht.


Dieses Zitat der afro-amerikanischen Poetin fasst meine persönlichen Erfahrungen im Kulturbetrieb perfekt zusammen. Es geht in diesem Zitat zwar ganz konkret um alltägliche Sprache – doch lässt es sich auch gut auf die Sprache, den Diskurs übertragen, auf den sich der deutschsprachige Kulturbetrieb geeinigt zu haben scheint.


Der normative Kulturbegriff ist innerhalb dieses Diskurses scheinbar immer noch Teil des Selbstverständnisses.

Das geltende Verständnis davon, was Kunst ist, wer sie wie in welchem Rahmen schafft und wer eben auch nicht, fußt auf der Annahme, es gäbe nur einen Diskurs, eine Sprache in der zu erschaffen ›richtige Kunst‹ möglich sei. Zu erwarten, Menschen mit verschiedensten Hintergründen, Realitäten und Betroffenheiten seien daran interessiert, sich in einem von einer homogenen Masse geformten Raum zu bewegen, den dort geltenden Regeln zu folgen und sich nach ihnen bewerten zu lassen, ist tatsächlich arrogant.

Davon auszugehen, dass sich nicht-weiße Künstler*innen an ein westliches Kunstverständnis anpassen und ihre Perspektiven dankbar in ein Narrativ zwängen, das sie in eindimensionaler Weise zeigt, ist absurd.

Zu glauben, dass die Aneignung von Worten, Praktiken und Ästhetik mit Freude aufgenommen und als Annäherung und respektvolle Begegnung wahrgenommen wird, ist sprechend. Es ist sprechend für das neokoloniale Gedankengut, dass viele weiße Menschen auch im Kulturbetrieb verinnerlicht haben.


Doch wie ist dem beizukommen?

Ich könnte jetzt vorschlagen, andere Gruppen in die Räume einzuladen, die staatlich gefördert werden, innerhalb derer mensch Kunst schaffen kann. Das sei wichtig, da Kunst sich immer denjenigen öffnen sollte, die eines Schutzraumes bedürfen.

Ich könnte an dieser Stelle außerdem formulieren, dass es unabdingbar ist, neue Stoffe auf die Spielpläne zu setzen, damit sich endlich auch die Geschichte(n) migrantischer Menschen auf den Bühnen wiederfinden.

Ich könnte fordern, die Leitungsebenen divers zu besetzen und die Regie- und Dramaturgie-Teams sowieso, damit die Machtgefälle endlich schrumpfen.
Ich könnte verlangen, dass es Workshops geben muss.
Und Expert*innen an jeder Kultureinrichtung, die dafür bezahlt werden, dass sie die Strukturen, auf denen die Diskriminierung(en) fußen, sichtbar machen und an ihrer Auflösung arbeiten. Sodass dadurch eine ganz direkte Umverteilung der (finanziellen) Ressourcen stattfinden könnte.

Dass für solche Umverteilungsprozesse zusätzliche Stellen geschaffen und besetzt! werden müssen, ergibt sich daraus ebenfalls.

Ich könnte auch formulieren, dass ich von Ausbildungsstätten erwarte, dass sie es sich zur Aufgabe machen, marginalisierende Strukturen zu erkennen und ihnen in Form von Quoten entgegenzuwirken.

Dass es IMMER mehrsprachige Angebote geben muss, dass sich auch künstlerische Studiengänge darum bemühen müssen, zugänglich für Menschen mit Fluchtgeschichte zu sein, dass Klassismus und intersektionale Betroffenheit immer eine Rolle dabei spielen, wie zugänglich (Ausbildungs-)Orte sind und deshalb stets beides mitgedacht werden muss; dass kulturelle Einrichtungen auch finanziell zugänglich sein müssen (und dass das nicht den Wert der Kunst mindert!); dass ein ermäßigtes Studierendenticket keine Lösung ist, sondern erneut Klassismus reproduziert; dass, dass, dass…


Das alles wurde aber schon oft formuliert.

Für mich ergibt sich: Eine Gesellschaft, die sich so zögerlich mit der eigenen Kolonialgeschichte und dem daraus resultierenden Rassismus auseinandersetzt, hat kein übergroßes Interesse an derartigen Veränderungen. Kulturpolitische Akteur*innen und Institutionen, die sich bezüglich der Rückgabe von Raubkunst so zurückhaltend oder gar unwillig zeigen, sind keine Instanz, der ich eine tatsächliche Auseinandersetzung zutraue.
Dennoch hoffe ich genau darauf.


Ich hoffe – oder bestehe auf meine Utopie, denn:

Ich werde keinen Raum mehr für euren dünnen Kunstbegriff in meinem Rachen oder in meinem Geist bilden.
Ich fordere ein Neudenken dessen, was Kunst ist. Eine neue Definition, die von all denen mitgestaltet wird, die sich vorher außerhalb des Rahmens bewegen mussten. Die sogenannten »Problemkinder«, die »Migrant*innen«, die »Armen«, die Nicht-binären und die Transpersonen, die, die be_hindert werden, die Rom*nja und Sinti*zze.

Weiße, bürgerliche, intellektuelle Kulturschaffende: Hört auf, den Raum zu vereinnahmen. Und dann gütig eine Nische zur Verfügung zu stellen, als gelte es, ›Entwicklungshilfe‹ zu leisten. UND als wüsstet ihr nicht, dass sich Kunst eben nicht in zugewiesenen Nischen schaffen lässt. Künstler*innen wissen doch am besten, dass sich Kunst Bahn brechen muss, Raum braucht, sich nie endgültig definieren lässt, sondern mäandert und immer wieder neu sein wird.

Mehr diverse Menschen in die bestehenden Räume einzuladen, kann helfen. Ihnen Raum zu geben, sie dort mit einzubeziehen, wo Entscheidungen getroffen werden und ihnen die Möglichkeit zu geben, Einfluss zu nehmen, ist sicher ein Teil der Lösung.

Wichtiger als all das ist jedoch das Eingeständnis, dass die Deutungshoheit darüber, was Kunst ist, sich nicht weiterhin auf eine privilegierte Klasse beschränken darf.

Da wo entschieden wird, welches Narrativ dominiert, da wo entschieden wird, wer diese Deutungshoheit innehat und da, wo die Entscheidung fällt, eine höchst subjektive, historisch gewachsene Wahrnehmung zum Maßstäbe dessen werden zu lassen, was zu bewerten niemals objektiv möglich ist, da stoßen wir auf die Wurzel des Problems.
Da stoßen wir auf White Supremacy.
Meine ganz banale Utopie ist also die Überwindung dieses Überlegenheitsgefühls. Die Dekolonialisierung des Geistes mit allem, was dazugehört.


Relevante Kunst entsteht da, wo Menschen Dinge verarbeiten, den Schmerz, die Wut, die Liebe mit Inbrunst zu etwas formen. An den Gefühlen und Erfahrungen herummeißeln.

Dieser Vorgang begegnet mir so viel mehr da, wo Menschen tatsächlich betroffen sind.

Der einzig schlüssige Weg, um der Kulturpraxis nicht ihre Relevanz abhandenkommen zu lassen, ist dorthin zu gehen, wo die Kunst passiert, die so oft übersehen wird. Und dort ein Theater zu bauen, dass den Schauspieler*innen und dem Schauspiel entspricht. Eine Konzerthalle für die Musik, der so oft die Musikalität aberkannt wird, die angeeignet, vereinnahmt und ausgebeutet wurde. Eine Fläche für die Performance, die für viele weiße Menschen nicht lesbar erscheint, bedient sie sich doch anderer Codes, einer anderen Sprache.

Also: Lernt eine neue Sprache.
Jede neue Sprache eröffnete ja bekanntlich eine neue Welt. Lernt eine neue Sprache. Lauscht aufmerksam auf die neuen Laute, habt Geduld, lasst euch Zeit zu erkennen, dass die neue Sprache nur neu für euch und mindestens genauso komplex ist, wie die, derer ihr euch sonst bedient.

Und verlernt die Arroganz, zu glauben, marginalisierte Menschen würden weiterhin Raum für euer Kunstverständnis und eure Begrifflichkeiten bilden.
Das tun wir nicht.
Unsere Sprache. Unsere Welt. Unsere Kunst.
Deutungsräume für alle.
Deutungshoheit für niemanden.


Autorin

Foto: Agnes Nagy

Sarah Elisabeth Braun, (geb. 1997)
ist eine afro-deutsche Künstlerin und Aktivistin.
Sarah ist Mitbegründerin des BIPoC-Netzwerks und seit 2018 Regieassistentin am Theater Bonn.
Sie ist in verschiedenen politischen und /oder kulturellen Strukturen aktiv und arbeitet dort zu Rassismus, Klassismus, Feminismus und Intersektionalität. Der Fokus ihrer Arbeit in künstlerischen und in politischen Kontexten liegt darauf, migrantische und Schwarze Perspektiven sichtbar zu machen und zu stärken.

KUNST ODER KULTUR – EINSAM ODER GEMEINSAM

9. Februar 2021

Kunst ist ein Testfall unserer Kultur.
Kultur ermöglicht Verbreitung und Dauer der Künste.

Kulturpolitische Debatten bedürfen sinnvoller Unterscheidungen von Kunst und Kultur.

Auf der Website von kulturrat.de lese ich Kunst und Kultur als Lebensnerv. Stellungnahme des Deutschen Kulturrates zur Kulturfinanzierung vom 08.10.2010. Fast zehn Jahre vor Anbruch des Coronazeitalters beginnt der Text mit den Zeilen: »Kunst und Kultur haben eine herausragende Bedeutung für die Gesellschaft. Sie spiegeln gesellschaftliche Debatten wider, sie bieten Reibungsflächen zur Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, sie weisen über das alltägliche Geschehen hinaus.«

Kunst und Kultur werden hier gleichermaßen auf Vergangenheit mit überlieferten Werten und auf Visionen einer künftigen Gesellschaft bezogen. Kurz darauf folgt der Satz: »In einer multiethnischen Gesellschaft gewinnen Kunst, Kultur und kulturelle Bildung eine zunehmende Bedeutung, um Integration zu befördern und die positiven Elemente kultureller Vielfalt herauszustellen.« Die Bereitstellung der kulturellen Infrastruktur für Bund, Länder und Gemeinden möchte der Deutsche Kulturrat sichergestellt wissen.

Angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008–2009 mit sinkenden Steuereinnahmen kommt man zum Schluss: »Insgesamt ist zu befürchten, dass die Schließung von Kultureinrichtungen und ein weiterer Beschäftigungsabbau im Kulturbereich drohen.«

Außerdem heißt es, das »Staatsziel Kultur muss im Grundgesetz verankert werden«.

Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern, wird schon viele Jahrzehnte immer wieder diskutiert. Auch Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien, bekannte sich zu dieser Zielvorgabe. Nachzulesen beispielsweise in der Wochenzeitung Das Parlament vom 15.10.2018: »Es wäre eine Selbstverpflichtung des Staates, die die fundamentale Bedeutung der Kultur für das Gemeinwesen betont.«

Auf kulturrat.de lese ich den Text Mut zur Zukunft. Die Kultur in der Coronakrise von Gerhart R. Baum vom 30.11.2020. Er beginnt mit einer aktuellen Lockdown-geprägten Essenz: »Kunst ist kein beliebiges Freizeitvergnügen.« Kurz darauf der Satz: »Kultur ist Lebenselixier der Demokratie.« Was ich hierbei immer wieder vermisse, ist eine zeitgemäße Unterscheidung zwischen Kunst und Kultur. Was versteht man unter Kunst und was unter dem Begriff Kultur? Macht es wirklich Sinn, beides in einem Atemzug nebeneinanderzustellen oder böte sich hier eine fruchtbare Chance der Differenzierung?

Noch einmal sei Gerhart R. Baum ein paar Zeilen weiter zitiert: »Kunst und Kultur geben Orientierung, sind anstößig und stoßen an, sind zukunftsorientiert und weltoffen. Gustave Flaubert hat es einmal wunderbar auf den Punkt gebracht mit den Worten, Kultur sei eine subventionierte Revolte.«

Kunst und Kultur werden oft völlig gleichrangig in Anspruch genommen und eine möglicherweise bedeutende Differenz mit dem schönen Zitat von Gustave Flaubert verdeckt. Meiner Meinung nach sollte sich eine Revolte mit ästhetischen Mitteln auf die Künste beziehen, nicht aber auf unsere kulturellen Rahmenbedingungen. Kunst darf überraschen, irritieren und als Testfall mit ästhetischen Mitteln Kultur und Kulturen in Frage stellen.

Wäre es nicht sinnvoll, unter Kunst beziehungsweise den Künsten das Differenzierende, das Singuläre, das Individuelle und das möglicherweise innovative Moment zu begreifen?

Etwas, das auch scheitern darf. Wäre es nicht ebenso sinnvoll, unter Kultur(en) etwas die Gesellschaft Verbindendes zu verstehen, zumindest im Sinne einer gemeinsam funktionierenden Streit- und Debattenkultur? Ich denke an eine pluralistische Gemeinsamkeit kultureller Rahmenbedingungen und Erfahrungen. Dann wäre es auch kein Widerspruch, wenn Kultur Menschen in Krisenzeiten und im Alltag Trost spendet und einzelne Äußerungen der Kunst verstörend und irritierend daherkommen – als Probehandeln oder als Interventionen innerhalb der Gesellschaft mit ästhetischen Mitteln. Der Prüfstand für Dauer wäre unsere Kultur, die sich wiederum in einem stetigen Wandel befindet!

Auch die Spielfelder der Dynamiken von Kunst und Kultur sollten meiner Meinung nach deutlicher unterschieden werden. In der Generaldebatte im Bundestag am 30.09.2020 äußerte Monika Grütters: »Das ist, finde ich, das Mindeste, das wir Künstlerinnen und Künstlern schuldig sind; denn Kultur ist keine Delikatesse für Feinschmecker, sondern Brot für alle. (…) Kunst, Kultur und Medien sind unverzichtbar für Verständigung.« Ich frage mich nun: Wäre es nicht eine große Chance zur besseren Verständigung und Gemeinschaftsfindung, wenn man verbindende kulturelle Elemente zum Zwecke stabilisierender Rahmenbedingungen und künstlerische Mittel sowie Strategien individueller Äußerungen benennbar unterscheidet?

Kurze Zwischenbemerkung: Abgesehen von der Tatsache, dass hinreichende Absicherungen von Soloselbstständigen in Krisenzeiten wie der Coronapandemie fehlen, sollte nicht vergessen werden, dass Künstler*innen wie viele andere Soloselbstständige nicht nur sehr unterschiedlich hohe Betriebsausgaben haben, sondern auch für ihren Lebensunterhalt aufkommen müssen. Es bleibt zusätzlich zu bedenken, dass ein Vermögen beispielsweise von 60.000 Euro oftmals nicht ausreicht, um Einkommensschwankungen auszugleichen, unvorhersehbare Rechnungen zu bezahlen und gegebenenfalls auch noch investitionsfähig zu bleiben.

Das Verhältnis der Kulturpolitik zu den Künsten bzw. Künstler*innen wird durch die Anforderungen einer offenen Gesellschaft mit ständig sich verändernder Relevanz zu bewerten sein.

Von wem stammt eigentlich die Idee, Künste und Künstler*innen dem Freizeitsektor zuzuordnen und nicht der Bildung?
Was erwartet unsere plurale Gesellschaft, die sich in ständigem Strukturwandel befindet, von den Künsten?
Sucht sie einen verbindlichen Halt, um ihre eigenen fortgeschrittenen Individualisierungstendenzen auszugleichen?

Haben einsame Lockdown-Erfahrungen im Coronazeitalter uns der separierenden, fortgeschrittenen Singularisierung überdrüssig gemacht? Entsteht aus dieser Monologisierung eine Dialogarmut? Sprechen die Künste für sich weiter ausdifferenzierende Identitäten an? Oder helfen sie uns wiederzuvereinen im Rahmen einer inklusiven demokratischen Gesellschaftsordnung? Sichert Kulturpolitik monadische Freiheiten einst autonomieverhafteter selbstbestimmter Künstler*innenträume – oder soll sie Steuervorteile für einige äußerst erfolgreiche Monopolisten eines übersättigten Kunstbetriebs verschaffen?

Nach welchen Kriterien werden Mittel verteilt, Stipendien vergeben? Wie viele Künstler*innen wollen wir? Regelt sich das über Angebot und Nachfrage oder nach staatlichen Förderungen? Sollten wir eine Inzidenzrate für Künstler*innen pro 100.000 Einwohner festlegen und uns dann ihren Angeboten und Einflüssen bereitwillig öffnen?

Wenn wir uns fragen, wie wir das Verhältnis von Kulturpolitik und den Künsten beziehungsweise Künstler*innen zeitgemäß anpassen und weiterentwickeln wollen, dann sollten wir uns auch fragen: Was wollen wir von den Künsten? Diese Frage stellen wir analog auch täglich in Bezug auf die Wissenschaften und den Sport. Warum sollten wir Zeit mit etwas verbringen und Geld ausgeben, wenn wir nicht wissen, was wir davon haben? Wenn jetzt die Antwort lautet: Wir möchten unsere Kulturpolitik von künstlerischen Angeboten überraschen lassen, dann dreht sich die Geschichte im Kreis. Das verstünde kein echter Sportsfreund.

Autor

Foto: R. Schappert

Dr. Roland Schappert

arbeitet als Künstler und Autor, erforscht die Bildwerdung der Schrift zwischen Poesie und Politik und veröffentlicht Essays über einen zeitgenössischen Kunstbegriff. 2005 erhielt er zusammen mit Michael Ebmeyer den Videonale-Preis 10 im Kunstmuseum Bonn. Ausstellungen und Interventionen im In- und Ausland. 2007–2010 Gastprofessur für Malerei an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Veröffentlichungen, Vorträge und Lehre über Aspekte eines zeitgenössischen Kunstbegriffs, Kunst & Wirtschaft. Zuletzt erschienen: Unsichtbarkeit Bildender Künstler*innen, Essay, Kunstforum International, Bd. 272, 2020; YOU, Künstlerbuch, Salon Verlag, 2020; Du fällst mir leicht, Gedichte, parasitenpresse, 2020.

Falsche Kultur-Reflexe.
Über die Pflicht Opferdiskurse und Neid-Debatten zu vermeiden

5. Februar 2021

In der vergangenen Woche jährte sich das Bekanntwerden der ersten Corona-Infektion in Deutschland. Seitdem hat die Pandemie unseren Alltag völlig verändert. Nach einem stillen Advent, einem Jahr der ausgefallenen Beethoven-Sinfonien im Jubiläumsjahr und komplett gestrichener Weihnachtskonzerte sind wir mit einer historisch nie dagewesenen Sang- und Klanglosigkeit in das neue Jahr gestartet. Besonders im Musikbereich, der durch die Übertragung von Aerosolen weiterhin als besonders kritisch eingestuft wird, sind neben vielen Profi-Musiker*innen und -Ensembles gerade auch zahlreiche Amateurmusizierende besonders hart betroffen.

Die Amateurmusik wird im kulturpolitischen Diskurs leider immer noch viel zu sehr belächelt. Dabei gibt es in Deutschland circa 14 Millionen Menschen, die in ihrer Freizeit musizieren. Über 100.000 Amateurmusik-Ensembles im instrumentalen und vokalen Bereich sind durch die Corona-Pandemie in Mitleidenschaft gezogen – Chöre und Orchester, die mit ihren Konzerten nicht nur zu Weihnachten ein ganz entscheidendes Fundament der deutschen Musiklandschaft bilden.

Zahlreiche Musizierende haben in den letzten Monaten Programme geprobt, die sie nun nicht singen oder spielen können. Die komplette Weihnachtszeit – sonst musikalische wie ökonomische Hochsaison der vokalen und instrumentalen Amateurmusikszene – verstummt. Mehr noch: Bereits jetzt ist absehbar, dass die momentane Sang- und Klanglosigkeit eine nachhaltige Stille produzieren wird. Ein schnelles Hochfahren der Konzerttätigkeit wird es nach Lockerung der Corona-Maßnahmen nicht einfach geben, da Musikaufführungen im Profi- wie im Amateurbereich das Ergebnis eines intensiven und kontinuierlichen Probenprozesses über Wochen hinweg sind. Die Auswirkungen der Corona-Krise werden alle Chöre und Orchester daher bis weit in das neue Jahr hinein spüren. Sie werden zu einem deutlichen Rückgang der Konzertangebote und der außerschulischen musikalischen Jugendbildung führen.

1. Verärgerung, Enttäuschung und Frustration aber bitte nicht persönlich nehmen

Die immer wieder verschärfte Unterbrechung der Proben- und Konzerttätigkeit im Amateurmusikbereich hat schon in den vergangenen Monaten viele Menschen demoralisiert. Vielen fehlt nicht nur die Kraft der Musik, ihre Hoffnung spendende Energie, die Freude, die sie einem schenkt und die gerade jetzt in der Krise so wichtig wäre. Viele Chöre und Orchester verstummen in Sorge um den Nachwuchs, fragen sich, ob es nach der Krise überhaupt weitergehen wird. Verärgerung und Sorgen vergrößern sich besonders dann, wenn die Erfahrung von Ungerechtigkeit dazukommt. Warum werden andere gesellschaftliche Bereiche als systemrelevanter angesehen als die eigene kulturelle Praxis? Warum wird unser Wert nicht anerkannt?

Haben wir ein Kommunikationsproblem? Ist die Krise auch die Chance jetzt erneut zu erklären, warum wir so wichtig sind? Oder sind diese Fragen zynisch bis nachrangig in Anbetracht des Überlebens vieler Solo-Selbständiger oder der berechtigten Sorge vieler älterer Menschen, ob wir jemals wieder so unbeschwert zusammen musizieren können?

2. Die Wertdebatte – Zur Bedeutung der Amateurmusik außerhalb der Freizeit

Gemeinsames Musizieren verbindet Bürger*innen und Kulturen; es fördert insbesondere in ländlichen Räumen den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dieser Dialog und die gegenseitige Verständigung sind die Fundamente einer starken Zivilgesellschaft.

Erst Ende November hat der Bundestag das Infektionsschutzgesetz geändert und dabei auch die besondere Bedeutung der Kunst- und Kultureinrichtungen für die demokratische Gesellschaft betont. Vorangegangen war in der politischen Begründung der Maßnahmen einige Wochen zuvor eine höchst unsensible Gleichsetzung der Kultur mit bloßem Freizeitvergnügen.

Aber auch das gemeinschaftliche Musizieren in Chören und Orchestern, das in Deutschland eine lange Tradition hat, kann man nicht nur als Freizeitgestaltung, Vergnügen oder Unterhaltung abtun, wie es in der ersten fatalen Begründung neuerlicher Corona-Schutzmaßnahmen im November geschah.

Wie im Fall fehlender Konzerte zur Weihnachtszeit wird uns die Bedeutung der Kultur aktuell besonders durch ihr Fehlen spürbar. Sie wäre jetzt genau jene Kraftquelle, die wir bräuchten, um Zuflucht und Trost zu finden, neue Diskussionsmöglichkeiten zur Verarbeitung der Alltagsbelastungen, gemeinschaftliche Foren des Austauschs, Reflexions- und Vergewisserungsmöglichkeiten.

Der Wert der Amateurmusik wird daher dort offenbar, wo Aspekte der Freizeitgestaltung und des Vergnügens, die ohne Frage auch eine Rolle spielen sollen und dürfen, zurücktreten, um der zivilgesellschaftlichen Bedeutung gemeinsamen Probens Platz zu machen. Amateurmusik garantiert breiten Schichten die aktive Teilhabe und Teilnahme an Kultur. Darüber hinaus erbringt sie eine Menge von Leistungen, die in der Krise nicht einfach beiseitegeschoben werden können.

Die Amateurmusik stiftet gerade auch fernab der großen Metropolen generationsübergreifende Bildungsorte. Menschen, die sich regelmäßig treffen, um gemeinsam an einem Musikstück, der Einstudierung einer Melodie oder der Erarbeitung und Planung eines ganzen Konzerts zu arbeiten, stehen im Austausch, sie diskutieren, stimmen sich ab, verwerfen, favorisieren und beleben damit an zahlreichen Orten dieses Landes, was die Politik sonst gern als gesellschaftlichen Zusammenhalt preist. Als Orte der Selbsterfahrung und kulturellen Partizipation ermöglichen Gemeinden und Musikvereine ein durch die Kultur gestütztes Forum zwischenmenschlichen Austauschs. Hier kommen Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit zusammen, werden Teil eines künstlerischen und immer auch demokratischen Aushandlungsprozesses. Im besten Sinne erzeugt die Diversität der Menschen, ihre Mitsprache und die Polyphonie ihrer pluralen Stimmen hier zugleich eine politische Praxis, die überaus schützenswert erscheint.

Leider wird in den aktuellen Krisenzeiten viel zu oft ausgeblendet, dass kulturelle Praktiken wie das Amateurmusizieren auch diese Art von Räumen der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung schaffen. Diskussionen, die unter dem Stichwort der »Systemrelevanz« geführt werden, um eine Priorisierung einzelner gesellschaftlicher Bereiche vorzunehmen, übersehen den außergewöhnlichen Beitrag solch scheinbar »entbehrlicher« kultureller Betätigungen. Letztlich bilden sie allerdings das Fundament unseres bürgerschaftlichen Gemeinwesens schlechthin.

Zum einen ist es also richtig, in der aktuellen Corona-Pandemie den eigenen Stellenwert zu betonen. Umso mehr, je deutlicher dem kulturellen Bereich in der aktuellen Krise die Wertschätzung, die sich allzu oft nur an ökonomischen Parametern orientiert, entzogen wird. Dabei bräuchte es gerade jetzt von der Politik eine ausdrückliche Bejahung und Wertschätzung der Kultur, insbesondere für den Beitrag, Kontakte weiter zu minimieren und der dadurch demonstrierten Unterstützung bei der Bewältigung der Krise.

Wo diese ausbleibt und mit den aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie leichtfertig eine Degradierung des gesellschaftspolitischen Auftrags und Wertes der Kultur in Kauf genommen wird, werden sich die Fronten weiter verhärten.

Dabei stellt auch innerhalb der Amateurmusik niemand die Maßnahmen grundsätzlich in Frage: Alle Kulturschaffenden wissen, dass auch wir in dieser schwierigen Situation Verantwortung dafür tragen, wie wir durch diese Krise kommen. Zum jetzigen Zeitpunkt kann die Notwendigkeit von Kontaktminimierungen nicht mehr durch existierende Hygienekonzepte wegdiskutiert werden. Um exponentiell steigende Infektionszahlen zu verhindern, genügen die bisher erarbeiteten Schutzmaßnahmen nicht mehr aus, die auch viele Chor- und Orchestermusizierende in den vergangenen Monaten erarbeitet hatten.

3. Krise als Chance?

Die Verlängerung und Verschärfung des zweiten Lockdowns über den Monat November hinaus trifft uns alle gleichermaßen hart. Wir müssen uns zurückziehen, vereinzeln, sollen liebe Menschen gerade nicht mehr treffen. Mit dem Wegfall gemeinsamer Begegnungen verstummt vielerorts zwangsweise auch das menschliche Grundbedürfnis des Musizierens.

Aber sind die gegenwärtigen Musizier-Verbote tatsächlich in der Lage, unsere weltweit einmalige Musik-Vielfalt in Deutschland zu bedrohen? Steht die herausragende und zugleich besonders schützenswerte Bedeutung unseres immateriellen Kulturerbes, zu welchem die Chormusik in deutschen Amateurchören (seit 2014) und Instrumentales Laien- und Amateurmusizieren (seit 2016) gehören, wirklich in Abrede?

Es ist berechtigt, große Geschütze aufzufahren und mahnende Worte zu wählen. Dennoch habe ich im Gespräch mit Kulturpolitiker*innen gerade die Erfahrung gemacht, dass dort der Ernst der Lage absolut verstanden wird. Wir sollten uns die Kraft sparen, Menschen von etwas überzeugen zu wollen, die längst zu unseren größten Unterstützer*innen zählen.

Was wir derzeitig erleben ist eine wichtige und notwendige Wertdebatte über die gesellschaftliche Bedeutung der Kultur im Allgemeinen. Es ist zu begrüßen, dass neu über den eigenen gesellschaftlichen Beitrag vieler Kulturschaffender und ihrer besonderen Sparten nachgedacht wird. Dass diese Diskussion nun breiter gefasst ist und noch mehr Menschen als die üblichen Verdächtigen erreicht, ist weiterhin wichtig. Denn eine Quintessenz dieser zum Teil sehr emotional geführten Debatte ist dabei doch auch die Erkenntnis eines kommunikativen Problems, das uns selbst betrifft. Die Kulturschaffenden und Kreativen dürfen gern öfter klarer und deutlicher erklären, welchen wichtigen Beitrag sie leisten. Drei Dinge helfen dabei jedoch nicht:

Erstens auf die eigene Unverzichtbarkeit zu pochen in Anbetracht einer absoluten Ausnahme-Situation, die aus Solidarität von anderen Mitmenschen eher Rücksichtnahme als lautes Poltern bräuchte.

Zweitens immer nur neidvoll auf die anderen zu blicken, die mehr bekommen, andere Privilegien genießen oder von den Einschränkungen weniger hart getroffen sind.

Drittens es sich zu einfach zu machen, und folglich nur als Opfer dieser Ausnahmesituation zu gerieren, anstatt jene Herausforderungen zu fokussieren, die auch vor der Krise schon da waren und die jetzt nur eklatanter die eigenen Versäumnisse offenbaren.

In den stillen Räumen der Sang- und Klanglosigkeit ist also viel Platz für neue Ideen. Anstatt sich darüber aufzuregen, warum der Einzelhandel lange offenbleiben durfte, der Kirchenchor aber nicht extra gefördert wird, gilt es Lösungen auf grundsätzliche Zukunftsfragen zu finden. Speziell für den Bereich der Amateurmusik ergeben sich wichtige Fragen im Bereich der Nachwuchsförderung, der Digitalisierung, des Engagements und Ehrenamts.

Die Corona-Krise setzt den Kulturbereich also nicht nur punktuell in Bedrängnis, indem sie ihn über einen längeren Zeitraum lahmlegt. Sie spült auch Probleme und Herausforderungen nach oben, die lange vor der Krise bereits virulente Themen einer grundsätzlich breiter angelegten Transformation unserer Lebenswelten waren. Neue Relevanz kann der Kulturbereich deshalb gerade dann entwickeln, wenn er einen Neustart fokussiert, der weniger Selbstbeschäftigung als ein Finden neuer Antworten ist. Denn ganz entscheidende Fragen und die Kommunikation unserer Antworten werden Kunst und Kultur auch in Zukunft sehr fordern: Wie können wir in einer Welt des rasanten Wandels unseren wertvollen Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt klar auf den Punkt bringen?

Autor

Foto: Studio Stivali

Dr. Stefan Donath

ist seit Juli 2020 Geschäftsführer des Bundesmusikverbands Chor & Orchester e.V. in Berlin. Er studierte Theater-, Politik- und Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin und der Université Paris VIII. Als Wissenschaftlicher Mitarbeiter forschte er lange Zeit am Internationalen Forschungskolleg »Verflechtungen von Theaterkulturen« in Berlin u.a. zu Aufführungen antiker griechischer Tragödien, Formen künstlerischen Aktivismus und internationaler Kulturpolitik.

Der gemeinsame Nenner und die politische Ästhetik der Differenz

2. Februar 2021

Am 10. Dezember 2020 gaben ein gutes Dutzend Vertreter*innen staatlich geförderter Kulturinstitutionen ein gemeinsames sowie zwölf individuelle Statements ab. Die Überschrift ihrer Stellungnahmen: Initiative GG 5.3 Weltoffenheit. Über zwanzig weitere Institutionen und Einzelpersonen bekräftigten öffentlich ihre Unterstützung für diesen Aufruf, in dem sich die Unterzeichneten wie folgt positionieren:

»Da wir den kulturellen und wissenschaftlichen Austausch für grundlegend halten, lehnen wir den Boykott Israels durch den BDS ab. Gleichzeitig halten wir auch die Logik des Boykotts, die die BDS-Resolution des Bundestages ausgelöst hat, für gefährlich. Unter Berufung auf diese Resolution werden durch missbräuchliche Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs wichtige Stimmen beiseitegedrängt und kritische Positionen verzerrt dargestellt. (…) Mit dem Namen (Initiative GG 5.3 Weltoffenheit, Anm.d.R.) verweisen wir auf Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes, in dem die Freiheit von Kunst und Wissenschaft garantiert wird. Weltoffenheit, wie wir sie verstehen, setzt eine politische Ästhetik der Differenz voraus, die Anderssein als demokratische Qualität versteht und Kunst und Bildung als Räume, in denen es darum geht, Ambivalenzen zu ertragen und abweichende Positionen zuzulassen. Dazu gehört es auch, einer Vielstimmigkeit Freiräume zu garantieren, die die eigene privilegierte Position als implizite Norm kritisch zur Disposition stellt.«

Eine Woche später zirkulierte ein offener Brief, der Solidarität mit dem Ursprungsstatement ausdrückt, aber auch eigene Akzente setzte und der von über 1.300 Künstler*innen und Akademiker*innen (Stand 19.12.2020) unterschrieben wurde. Seitdem tobt eine Debatte im klassischen Feuilleton und den sozialen Medien, die sich, mit offenem Ausgang, noch weit ins nächste Jahr ziehen wird. Auch die Unterzeichner*innen der Liste müssen sich für ihre Unterschrift rechtfertigen. Am überzeugendsten macht das der in Jerusalem geborene und in Berlin lebende Künstler und Kurator Boaz Levin, wenn er am 8. Januar das Unvermögen moniert, »sich mit einer Realität zu befassen, die ungleich verschlungener ist als die mundgerechten Dichotomien, die Boykott und Anti-Boykott heraufbeschwören: gut und böse, Inklusion oder Exklusion.«

Aus der Frage nach einem adäquaten Umgang mit der Bewegung BDS (Boycott, Divest, Sanctions) leitet sich ein Bündel weiterer Fragen zur politischen und Erinnerungskultur ab, die zu relevant sind, um sie nur innerhalb bestehender Diskursdichotomien zu verhandeln. Eine #neueRelevanz kann nur in neuen Diskursräumen entstehen. Doch wie behauptet man diese?

Initiative GG 5.3 Weltoffenheit

Ausgehend von einer als problematisch wahrgenommenen Resolution des Bundestages zum Thema BDS äußern einige der größten Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen (von der Kulturstiftung des Bundes bis zu den Berliner Festspielen bis zum Goethe-Institut und dem Wissenschaftskolleg) ein Unbehagen bezüglich einer hieraus resultierenden politischen Grauzone, was den Umgang von Kultur mit BDS betrifft. Ich möchte hier nicht en détail oder erschöpfend die inhaltlichen Argumente der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit oder deren Kritiker*innen wiedergeben (die zentralen Argumente sind in den Links zu finden), sondern einen Blick auf die Architektur einer kulturpolitischen Konstellation werfen, die in ihrer Komplexität schwer auf eine einfache Formel zu bringen ist.

Wie lassen sich differenzierte Diskursräume behaupten in einem Klima der Verkürzung, des Konsums, der Komplexitätsreduktion oder Polarisierung? Wirkliche Transformationen in der Kultur sind ohne Veränderungen in der Debattenkultur kaum zu bewerkstelligen. Nach der Pressekonferenz der Initiative scheint jedoch bereits die Debatte darüber, was debattiert werden kann, merkwürdig unproduktiv und verhärtet.

In der Vergangenheit schrieb ich über eine Positionierung von Kulturinstitutionen als soziale Kraftzentralen (im Sinne Alexander Dorners) – also als Orte der Begegnung und Verständigung auf der Basis gemeinschaftlicher Ideale. Aus dieser Praxis und Haltung heraus möchte ich hier für eine konstruktive Debatte plädieren, die mit Perspektivübernahmen, Vielstimmigkeit und sozialer Verantwortung operiert, um kulturpolitische Debatten nicht für politische Grabenkämpfe zu instrumentalisieren. Die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit dient momentan sozusagen als lebendiges Anschauungsmodell – es lohnt sich ein Blick auf die Debattenführung.

Dem Folgenden ist vorauszuschicken, dass ich für eine der beteiligten Institutionen, das Haus der Kulturen der Welt, arbeite und mein Arbeitsfokus in der intersektionalen Vermittlungspraxis und nicht der politischen Analyse liegt. Da es der Initiative aber um Vermittlung von Positionen geht, möchte ich mit diesem Text auf Schnittstellen verschiedener Debattenaspekte hinweisen, da Kulturpolitik in meinem Verständnis ebenfalls viel mit Vermittlung zu tun hat.

Kulturpolitische Solidargemeinschaften

Es ist bekannt und leicht nachzuprüfen, dass bestimmte Blogs, seriöse wie unseriöse Presseorgane sowie Trolls[1], sogar politische Parteien am rechten Rand sehr schnell und vehement Antisemitismusvorwürfe äußern. Die Kontroversen um das Jüdische Museum Berlin (2019) und die Kunsthochschule Weißensee (2020) können als Beispiele dienen. Das ist ihr gutes Recht, allerdings ist die Folge, dass der Antisemitismusvorwurf teilweise als ausgehöhlt wahrgenommen wird. Dass dies in einer Zeit des erstarkenden Antisemitismus problematisch ist, halte ich für wichtig zu betonen. Es ist also wichtig, über die sich stets im Wandel befindliche Antisemitismusdefinition zu sprechen – mit dem Ziel, die Integrität des Begriffes zu schützen, vor allem angesichts der Verantwortung gegenüber der deutschen Geschichte.

Einzelne Institutionen schaffen es jedoch kaum, neue Vorschläge zu formulieren. Das mediale Gegengewicht ist stärker, auch das zeigen die erwähnten Beispiele. Allianzen zu bilden ist also eine logische Vorgehensweise für kulturelle Akteur*innen, um politische Sorgen und Wünsche zu formulieren. Initiativen wie Die Vielen zeigen erfolgreich die Bedeutung und auch die Funktionalität von Solidargemeinschaften innerhalb der Kultur. Als Gegenkonzept zu einem wirtschaftlich orientierten Konkurrenzmodell von Kulturinstitutionen vereinen sie auf Basis eines gemeinsamen Nenners eine Vielzahl diverser Positionen; in diesem Falle: Den Glauben an eine demokratische Gesellschaft, den offenen und kritischen Dialog über rechte Strategien, die Weigerung, völkisch-nationalistische Propaganda oder Rechtsnationalen eine Bühne zu geben und die Solidarisierung mit Menschen, die durch eine rechtsextreme Politik immer weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.

Eine weltoffene Debattenkultur

Nicht wenige Institutionen, die das Plädoyer der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit unterzeichnet haben, sind auch involviert bei Die Vielen. Das bedeutet, dass sie auch eine Verpflichtung unterzeichnet haben, aktiv gegen Rassismus und Antisemitismus vorzugehen: In der programmatischen Arbeit durch Projekte für verschiedene Publika, in ihrem kulturpolitischen Engagement, schlägt sich diese Haltung nun in einer Kritik der Folgen der BDS-Resolution des deutschen Bundestags von 2019 nieder.

Diese Resolution wird in der praktischen Umsetzung vielfach als problematisch empfunden – da aktives Werben für BDS-Ziele mit ›Kontaktschuld‹ verwechselt wurde. Als Folge entstand eine Praxis der Denunziation, der Schriftsteller Doron Rabinovici schreibt: »(…)im Plädoyer der ›Initiative GG 5.3 Weltoffenheit‹ beklagen kulturelle und wissenschaftliche Institutionen, dass unter Berufung auf den Bundestagsbeschluss kritische Stimmen allein aufgrund ihrer politischen Positionen zu Israel des Antisemitismus bezichtigt werden, um sie so in Misskredit zu bringen. Wir sind mitten in einer Inszenierung der exzessiven Auslegungen und der wechselseitigen Verdächtigungen.«

Die Initiative sieht die Integrität des Antisemitismusbegriffs gefährdet, für deren Wahrung sie sich einsetzen will. Das eigentlich bezweckte Ziel der Resolution, deutsche Verantwortung für die Sicherheit Israels zu übernehmen, greift nicht. Statt einer differenzierten Auseinandersetzung wird ein Feinbild, hier in Form von BDS, aufgebaut. Dass dieses Vorgehen für eine weltoffene Debattenkultur problematisch ist, darauf weist die Initiative hin. Es treffen Staatsräson auf politischen Pragmatismus, kulturelle Praxis auf politische Ideologien – ein vielschichtiges Problem oder, im Sinne von Schmidt-Linsenhoff, eine fehlende Deckung von politischer Ideologie und praktischer Erfahrung.

Vielen Pressemeldungen zum Thema ist fälschlicherweise zu entnehmen, dass es den Initiator*innen darum geht, die BDS-Initiative salonfähig zu machen. Vielmehr ist das Ziel der Gruppe, Einladungspolitik und politischen Druck zu diskutieren. Ist eine Ausladung von Achille Mbembe Selbstzensur? Oder kritische Programmgestaltung? Wann wird es eine rassistische Beleidigung? Auch hier gilt es, Antwortnuancen zuzulassen und Pauschalisierungen entgegenzutreten, um kulturelle Lernprozesse einzuleiten.

Wenn eine große Anzahl von Institutionen, die für kulturellen Dialog standen und stehen, auf verschiedene Problematiken hinweisen, die sich in der praktischen Umsetzung der BDS-Resolution des deutschen Bundestags bündeln, verdient diese Kritik meiner Meinung nach zumindest eine genauere Analyse statt einer reflexhaften Ablehnung. Besonders dann, wenn in den Verlautbarungen der Initiative eine Ablehnung der Boykottpraxis von BDS mehrfach deutlich formuliert wurde und wird.
Kritik bei Beibehaltung des Dialogs.

Doch diese Diskursposition (Ablehnung der BDS-Praktiken bei Aufrechterhaltung des Dialogs), sorgt für Skepsis. Gleichwohl ist dies ein Grundsatz demokratischer Diplomatie und gehört, wie die bereits unterschiedlichen Positionen innerhalb der Initiative betonen, zur »politischen Ästhetik der Differenz«[2]. Die besondere Herausforderung liegt darin, dass das Thema Erinnerungskultur komplex, traumabeladen und politisch umkämpft ist. Dass hier aber ein produktives und relevantes Arbeitsfeld für die Kultur besteht, zeigt auch die Debatte zum Thema Erinnerungskulturen in den Kulturpolitischen Mitteilungen 171.

Diese Komplexität in Programme umzusetzen, ist die tägliche Aufgabe von Kunst und Wissenschaft. Gemeinsamer Nenner innerhalb dieser Differenz ist das Grundgesetz, genauer gesagt §5, Absatz 3, in dem es heißt: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.«

Der Name der Initiative gibt also an, in welchem Rahmen man sich bewegt: Die Initiative verteidigt diesen Absatz des Grundgesetzes, fordert ihn ein, aber bekennt und verpflichtet sich auch zu all ihren Grundsätzen. In ihrem Beitrag vom 22.12.2020 in der Frankfurter Rundschau legt Aleida Assmann die Bedeutung einer demokratischen »Streitkultur« auf Basis des Grundgesetzes überzeugend dar, ebenso wie die Rolle von Privileg und Machtposition bei der Äußerung von Forderungen und Ablehnungen:

»(…) zur Demokratie gehört der Streit. Genau das garantiert der Artikel 5.3. des Grundgesetzes, nämlich die Meinungsfreiheit, auf die sich die Gruppe beruft. Medien haben ein ganz besonders enges Verhältnis zum Streit. In einer Demokratie sind sie mit dafür verantwortlich, ihn zu entfachen und am Leben zu halten.
Das Problem ist heute allerdings das umgekehrte: Wie kann man den Streit demokratisch einhegen? Wer verhindert, dass er nicht umgehend in hemmungslose Attacken und Diffamierungen abgleitet? Wo sind die Schiedsrichter, die die Übersicht behalten, ab und zu mal abpfeifen, zur Mäßigung gemahnen und, wenn nötig, hier und da eine gelbe oder rote Karte ziehen? Eigentlich gibt es ein ganz einfaches Rezept, um hysterische Aufwallung zu dämpfen, und das heißt: Zuhören, bevor man nach der Keule greift. Das wäre die Rückkehr zum guten alten Streit.«

Ein wichtiges Thema – und gerade mit Blick darauf, dass viele Kritiker*innen der Initiative die Privilegien staatlicher geförderter Institutionen selbst kritisieren, eine nötige Debatte über staatliche Aufträge, Repräsentation und Fördermechanismen, der sich die so genannte Hochkultur natürlich stellen muss.

Ästhetische Differenz in beide Richtungen

Felix Klein, Beauftragter für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, hat nach den ersten Kontroversen zur Thematik ein Gutachten der wissenschaftlichen Dienste des Bundestages beauftragt. Der Bericht, der kurz vor Weihnachten veröffentlicht wurde, konstatiert interessanterweise verfassungsrechtliche Problematiken in der Umsetzung des BDS-Beschlusses des Bundestags, gleichwohl der Bericht rechtlich nicht bindend ist.

Bezogen auf die von mir dargelegte Problematik kann man also sagen, dass eine rechtliche Grauzone entstanden ist, die eben nicht zu einer fundierten Debatte zum Thema und somit wohl auch nicht zum Schutz einer Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland beiträgt. Konkret: Sollte man nicht kritisch nachfragen, wenn eine Resolution des Bundestages nicht verfassungskonform wäre, wenn sie Gesetz wäre? Eine tiefgehende Analyse von Ursachen des unverkennbar steigenden Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft sowie der Rolle von Kulturinstitutionen liefert Itay Maschiach in einem Beitrag in der Haaretz, auf Deutsch nachzulesen in Der Freitag vom 14.12.2020, in dem er Strukturen einer Kultur des subtilen Druckes und der Selbstzensur nachzeichnet.

Man könnte innerhalb dieser Debatte das Grundgesetz oder auch das Recht von Israelis und Palästinenser*innen auf Leben in Freiheit und Sicherheit sowie Selbstbestimmung als den gemeinsamen Nenner bezeichnen. Diese müssen unberührt bleiben. Die Gespräche darüber, wie beides am besten und konstruktivsten behauptet werden können, müssen innerhalb einer ästhetischen Differenz in alle Richtungen möglich sein.

Man sollte darüber sprechen, wo die Intersektionen aber auch die Differenzen von Erinnerungspolitik, Außen- oder Innenpolitik und eben der Kulturpolitik liegen – regelmäßig. Dies erfordert eine Kommunikationskultur der Vielstimmigkeit und eine politische Praxis der klaren Farben statt Grauzonen – eine Transformation als Entwicklung statt als Regression.

Es bleibt abzuwarten, ob sich die glücklicherweise zunehmend differenzierte Diskussion dieses Themas Vorbild für weitere überhitzte Diskussionen erweisen wird und damit über den aktuellen Sachverhalt hinaus kulturpolitische Relevanz haben wird. Viele Institutionen der Initiative GG 5.3. Weltoffenheit planen für 2021 Projekte zur weiteren Vertiefung und Ausdifferenzierung der Thematik.

Autor:

Foto: Silke Briel

Daniel Neugebauer ist seit April 2018 Bereichsleiter Kommunikation und Kulturelle Bildung am Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin. Er ist als Literaturwissenschaftler ausgebildet und interessiert sich für die Schnittstellen von Kommunikation und Bildungsarbeit. In seiner institutionellen Praxis, mit Stationen in der Kunsthalle Bielefeld, dem Van Abbemuseum Eindhoven sowie der documenta 14, beschäftigt er sich unter anderem mit Themen wie Inklusion, Queering oder transnationale Kooperationen.


[1] Als Trolls werden Online-Präsenzen bezeichnet, die auf eine bestimmte politische Mission angesetzt werden. Klassischerweise belästigen sie andere Nutzer*innen oder stören Diskussionen durch provozierende, beleidigende oder schlicht vom Thema ablenkende Zwischenrufe.

[2] Der Begriff »Ästhetik der Differenz« ist dem gleichnamigen Buch (2010, Jonas Verlag) von Viktoria Schmidt-Linsenhoff zu postkolonialen Perspektiven entnommen. Die These der Autorin ist, dass die Inkongruenz politischen Bewusstseins und persönlicher Erfahrungshorizonte durch ästhetische Produktionen reflektiert werden können. Bezogen auf die in diesem Essay skizzierte Problematik bedeutet das, dass kulturelle Praxis wie die Praxis von Kulturinstitutionen nur dann #neueRelevanz und produktive neue Ideen hervorbringen kann, wenn sie in der Lage ist, zwischen Positionen zu vermitteln und über die Zementierung der eigenen Position hinausdenken und -arbeiten will. Das heißt: Auch wer Boykott ablehnt, kann mit Menschen sprechen, die das nicht tun.

Transformieren statt transformiert werden:
Chancen für den Kultursektor

29. Januar 2021

Wir erleben einen Epochenwechsel. Das globale Kultursystem ist lahmgelegt und überwintert nach jahrelanger Überhitzung in bedrohlicher Kühle. Seit Monaten leben Tausende von Kulturschaffenden und Kulturinstitutionen mit existenziellen Unsicherheiten. Die Pandemie zeigt die Ungleichheit und die Prekarität des Kultursektors ebenso schmerzhaft wie seinen Nachholbedarf in Sachen Lobbying und Digitalisierung. Und sie beginnt bereits die künftigen Strukturen zu prägen.

Die einzige Möglichkeit, aus dieser belastenden Situation eine Chance zu machen, liegt darin, die Bedingungen für die Zeit nach der Krise mitzugestalten. Wagen wir daher einen Blick in die Zukunft. Lernen wir von den Errungenschaften, die in vielen künstlerischen Aktionen aus Not entstanden sind. Nicht umsonst hat der Bund im Covid19-Gesetz[1] Finanzhilfen für Transformationsprojekte zur Verfügung gestellt, die gemeinsam mit den Kantonen unterstützt werden können. Denn Transformieren oder transformiert werden, das ist die entscheidende Frage für den Kultursektor. Fünf Themen sollten Kulturpolitik, Kulturinstitutionen und Kulturschaffende dabei berücksichtigen.

Bessere soziale Absicherung der kulturellen und kreativen Berufe

Der Kultursektor ist wesentlich geprägt von Freischaffenden[2], die sich in höchster Verwundbarkeit und Abhängigkeit befinden. Etwa 15.000 Kulturschaffende sind in der Schweiz mit hohem Einsatz und wenig Absicherung tätig, ihr Status ist in gängigen Berufskategorien schwer zu erfassen und folglich schlecht geschützt: Musiker*innen und Tontechniker*innen, Tänzer*innen oder Kurator*innen, allesamt Angestellte im Kulturbereich mit befristeten Arbeitsverträgen bei häufig wechselnden Arbeitgeber*innen. Dies ist die Realität einer sehr dynamischen Branche, die kaum Festanstellungen bietet.

Die Freischaffenden tragen in unzähligen Projekten zum Reichtum unseres Kulturlebens bei – leider bleibt auf ihrer Seite wenig davon hängen, selbst wenn sie erfolgreich arbeiten, fallen sie durch die Maschen der Vorsorge-, Hilfs- und Absicherungssysteme und stehen am unteren Ende der Lohnskala. Ihnen verdanken wir einen Großteil der Festivals, Bücher, Tanzprojekte, Ausstellungen und Clubabende.

Abgesehen von angemessenen Honoraren ist es dringlicher denn je, die Besonderheiten dieser Berufsgattungen endlich im Sozialsystem abzubilden und ihnen einen Anspruch auf Arbeitslosenversicherung zu sichern. Die Schweiz hat hier Nachholbedarf, die bisherigen Nothilfemaßnahmen zeigen dies eindrücklich. Mögliche Teilmodelle aus Deutschland oder Frankreich können als Diskussionsgrundlage dienen, Suisseculture und andere Verbände sind ideale Gesprächspartner, um eine tragfähige Lösung zu entwickeln:

Die Pandemie hat die beschriebene Problematik verdeutlicht und für viele Betroffene schmerzhaft gezeigt, wie schwierig es ist, in einem staatlichen Nothilfesystem die zahlreichen freischaffenden Kulturberufe angemessen und fair zu erfassen. Es scheint daher absolut naheliegend und zwingend, die Frage der sozialen Absicherung von freien Kulturschaffenden in einem größeren Kontext anzugehen und auf eine politische Lösung hinzuwirken. Gelingt dies nicht, droht ein Segment an Kreativen wegzubrechen, das in unzähligen zeitgenössischen Formaten das Kulturleben der Zukunft wesentlich mitprägen würde.

Nachhaltige Prozesse statt kurzlebige Produkte fördern

Die gegenwärtige Krise zeigt in zugespitzter Form, in welchem Maße der Kultursektor ein Output-orientiertes System ist, das international eine wachsende Produktionsdichte bei abnehmender Präsentationsdauer fördert: Heute ist ein Werk hier, morgen dort und übermorgen wird es durch ein neues ersetzt. Dies ist ökonomisch und ökologisch wenig nachhaltig und führt zu großem Verschleiß. Unter der Hektik leiden auch die kreativen Prozesse. Wer je einem Orchester beim Proben zugehört hat, weiß, wie wichtig die Momente des Suchens sind, denn Klang ist nicht gleich Klang, er muss gefunden werden.

Kulturmarkt und Subventionspolitik haben Institutionen und Kunstschaffende über Jahre auf Outputsteigerung, Hypermobilität und Kurzlebigkeit gepolt. Der Kultursektor braucht aber mehr Nachhaltigkeit, bessere Verwertungs- und Wirkungsketten. Dafür muss er auf die Langfristigkeit von Prozessen setzen, zum Schutz der Ressourcen, Kreativität und Natur. Die Pandemie hat dafür eine Art »in vivo«-Experimentierlabor geschaffen: Im Zentrum der kulturellen Arbeit steht momentan zwangsläufig der künstlerische Prozess, die Recherche, und weniger das fertige Produkt und dessen Präsentation.

Dadurch hat auch das Lokale und der direkte Einbezug der Menschen vor Ort an Bedeutung gewonnen. Kurze Wege sollen aber nicht Provinzialisierung bedeuten, denn gerade mit bewusster lokaler Verankerung muss es weiterhin darum gehen, einen internationalen Austausch zu pflegen: Kunst und Kultur entstehen aus dem Dialog mit anderen Realitäten. Für die Kulturförderung wird es künftig darum gehen, die Förderempfänger*innen nicht nur an Produktions-Ergebnissen, sondern auch an Prozessen zu messen. Recherchen, technologische Experimente oder offene Austauschprozesse sollten dezidiert Teil des Auftrags sein. Der Kulturbereich wird dadurch wesentlich an Qualität und Nachhaltigkeit gewinnen. 

Raum schaffen für Transdisziplinarität und neue Sprachen

Lange Zeit wurde der Begriff der künstlerischen Qualität von Institutionen nach bestimmten ästhetischen Filtern diktiert, die einer disziplinären Logik folgen und bis heute die Kulturförderung bestimmen. Mit zunehmender Popularität digitaler Praktiken entstehen neue soziale Konstruktionen von Qualität, die mit jenen der Institutionen konkurrieren. Im Reich von TikTok & Co. findet sich hierzu endloses Anschauungsmaterial.

Theaterregisseur Arne Vogelgesang experimentiert schon lange mit Netz-Formaten: »Man traut sich Live-Streams von den Proben oder Opern-Kommentare auf Twitch – wo beide Seiten erstmal verwirrt sind, sowohl das Internet-Laufpublikum als auch die Opern-Besucher. Diese Überkreuzung von Welten finde ich das Spannendste im Moment: mit dem zu experimentieren, was Publikum und Publikumsbeziehung bedeutet.«

Für die institutionelle Kultur und ihre Förderung stellt sich die Frage, wie und von wem das künftige Verständnis von Qualität erarbeitet wird. Das Verhältnis zum Publikum, auch der Einbezug von und die Interaktivität mit neuen Publika sind hier wichtige Herausforderungen. Transdisziplinäre Formate bereichern darüber hinaus den künstlerischen und außerkünstlerischen Dialog indem sie Kompetenzen aus verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten einbeziehen. Dies kann zu hybriden Produktionsformen und Prozessen führen. Der Tänzer, die VR-Spezialistin und der Modedesigner für eine Modeschau, der Klangforscher und die Geologin für ein Landschaftsprojekt interagieren und suchen eine gemeinsame, vielleicht neue Sprache. Transdisziplinarität fordert dazu heraus, die eigenen Verständnisräume und Denkkategorien zu verlassen und sich auf unvertraute Zusammenhänge einzulassen. Für Kulturinstitutionen liegt die Herausforderung darin, nicht in beliebige Aktivismen zu verfallen, sondern gezielt neue Sprachen zu lernen und die relevanten Akteure außerhalb ihrer ursprünglichen Bestimmung einzubinden.

Das Publikum findet seine Kultur nicht nur dort, wo die Kultur ihr Publikum sucht

Untersuchungen aus der Zeit der Pandemie belegen, dass die Menschen nicht weniger Kultur konsumiert haben, sie haben sie bloß anderswo gesucht und gefunden als bisher. Eine Studie des Unternehmensberaters Deloitte weist für Deutschland eine erhöhte Mediennutzung zwischen 38 % (Konsolen) und 55% (Mediatheken) aus. Dabei wirkt die Pandemie wie ein Katalysator: Digitale, qualitativ hochwertige Inhalte wurden stärker genutzt, zugleich beschleunigte sich der Rückgang bei traditionellen Medienangeboten.

Es gibt also entgegen unbelegten Gerüchten einen großen Appetit nach Kultur. Nur wird dieser Appetit nicht unbedingt dort gestillt, wo traditionellerweise die kulturellen Speisen offeriert werden. So stellt sich die entscheidende Frage, von wem und für wen künftig was angeboten und verbreitet wird. Das Geschäft mit der Veränderung des Publikumsverhaltens wird meist von Instanzen betrieben, die nicht zum herkömmlichen Kulturbetrieb gehören und sehr viel Einfluss auf das Kulturleben der Zukunft haben.

Amazon verdreifachte im 3. Quartal 2020 seinen Gewinn auf den bisherigen Rekordwert von 6,3 Mrd. Dollar. Aber was kann der Kultursektor tun, statt den Plattformkapitalismus zu beklagen und zugleich mangels Alternativen Youtube, Twitch und Spotify zu nutzen? Die Antwort ist etwas unbequem und lautet: Akzeptieren, dass das Netz für den herkömmlichen Kulturbetrieb kein feindlicher Raum ist und daran arbeiten, die Verteilverhältnisse zu verändern. Eine zentrale Aufgabe künftiger Kultur- und Institutionenpolitik könnte es sein, alternative, selbstorganisierte Plattformen zu ermöglichen, auf denen die Mittel- und Informationsverteilung, die Produktion und Distribution eigenständig und produzentenfreundlich organisiert wird. Das ist machbar und reizvoll, auch in der Schweiz. Die Erfahrungen während der Pandemie haben gezeigt, dass dies keine Utopie sein muss, es gibt Menschen in den Startblöcken.

Die Grenze des Digitalen beginnt bei der Realität des Körpers

Mit dem Zuwachs an digitalen Angeboten im Web kann das Bedürfnis nach Inhalten zeitgleich lokal und international sehr viel breiter bedient werden, auch partizipatorischer, als dies Kulturinstitutionen auf analoge Art schaffen. Die digitale Kulturwelt ist populär, divers und zugänglich, jederzeit und überall verfügbar. Diese Potentiale sind es, die sich die analoge Kultur vermehrt aneignen muss, um ihre inhaltlichen Stärken beim Publikum auszuspielen. Das Bedürfnis nach physischem Zusammenkommen, das Verlangen nach körperlicher Begegnung wird die zentrale Realität des Kultursektors bleiben, denn der Sinn von gelebter Kultur ist direkte Interaktion.

Alles zu Digitalisieren oder in virtuelle Formate zu bringen, wünschen wir uns nicht, es geht um ergänzende oder hybride Formate. Die Möglichkeiten der Interaktion zwischen analog und digital sollten deshalb vorurteilsfrei ausgebaut werden, so dass aus der noch platten Idee des Streamings mehr wird als eine Notlösung für die nächste Pandemie. Nur der direkte, gleichberechtigte Kontakt zwischen Menschen an einem gemeinsamen Ort – ob analog oder digital – ermöglicht offenen Dialog oder Widerspruch, die beide für unsere Gesellschaft existenziell wichtig sind. Kultur ist immer auch ein Angebot für Demokratiebildung. Kann man sich dabei nicht in die Augen schauen, fehlt etwas Entscheidendes zum Mitdenken, Mitfühlen und Mitstreiten.

Die bereits begonnene Transformationsphase wird eine Gelegenheit sein, uns darauf zu verständigen, welche kulturellen Werte wir als Gesellschaft fördern wollen. Für uns alle, hoffe ich, ob als Publikum, Kulturschaffende, Veranstalterinnen oder Kulturförderer, wird es darum gehen, den Weg zu öffnen zu einem Kulturbetrieb, der nachhaltiger, prozesshafter und verteilgerechter wird.

Autor:

Foto: Anita Affentranger

Philippe Bischof (1967) ist seit dem 1. November 2017 Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Nach Studien in Basel begann er seine Laufbahn als Regieassistent am Theater Basel. Anschließend arbeitete er als Regisseur und Dramaturg im In- und Ausland sowohl an Stadttheatern wie auch in der freien Szene.

Hinweis: Die Zeitung »Schweiz am Wochenende« hat den Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia eingeladen, in einer Carte Blanche seine Gedanken zur Zukunft des Kultursektors und der Kulturpolitik zu formulieren. Der dabei entstandene Text konzentriert sich bewusst auf einige Zukunftsthemen, die struktureller Art und eng miteinander verbunden sind, wohl wissend, dass es auch andere Dringlichkeiten gibt: Etwa Fragen der Diversität und Chancengleichheit, die ebenfalls in einer künftigen Kulturpolitik prioritär zu behandeln sind.


[1] Mit diesem Gesetz hat der Schweizer Bundesrat finanziellen Maßnahmen zur Bewältigung der Covid-19-Epidemie beschlossen (vgl. https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2020/711/de, letzter Zugriff 26.01.2021). Art. 11 regelt die Maßnahmen im Kulturbereich, u.a. auch die sog. Transformationsprojekte: »Kulturunternehmen mit Sitz in der Schweiz können für Projekte, welche die strukturelle Neuausrichtung oder die Publikumsgewinnung zum Gegenstand haben, bei den Kantonen dafür Finanzhilfen beantragen. Bitte beachten Sie: Die Finanzhilfen decken höchstens 80 Prozent der Kosten eines Projekts. Sie betragen maximal 300 000 Franken pro Kulturunternehmen.« (vgl. https://www.bak.admin.ch/bak/de/home/themen/covid19/massnahmen-covid19/kulturelle-unternehmen.html, letzter Zugriff 26.01.2021) Transformationsprojekte umfassen zwei Kategorien von Vorhaben: Zum einen sind Vorhaben förderfähig, die eine strukturelle Neuausrichtung des Kulturunternehmens zum Gegenstand haben. Damit sind Vorhaben wie organisatorische Verschlankungen, Kooperationen verschiedener Kulturunternehmen oder Zusammenschlüsse (Fusionen) gemeint. Zum anderen können Projekte unterstützt werden, welche die Wiedergewinnung von Publika oder die Erschließung neuer Publikumssegmente bezwecken. Die Kantone haben bei der Auswahl der Projekte respektive der Beurteilung der Kriterien nach Artikel 8 einen großen Ermessensspielraum.

[2] Der Begriff »Freischaffende*r« ist in der Schweiz seit langem Gegenstand politischer Diskussionen rund um die Frage der sozialen Absicherung von Kunstschaffenden. Dies hat damit zu tun, dass die freischaffenden Berufsbilder jenseits des eindeutigen, offiziell anerkannten Selbständigen-Status oft nicht klar definiert bzw. erfasst sind und dementsprechend auch nicht anspruchsberechtigt im Zusammenhang mit sozialen Leistungen, Arbeitslosenversicherung. In Diskussionen wird oft auf den Status der Intermittence in Frankreich oder auf die Künstlersozialkasse Bezug genommen. Im Covid-19-Gesetz gilt folgendes: Unter den Begriff der Kulturschaffenden fallen alle Personen, die hauptberuflich im Kulturbereich tätig sind. Dazu zählt insbesondere auch technisches Personal (Ton, Beleuchtung usw.). Nicht erforderlich ist eine ausschließlich selbständige Tätigkeit. Erfasst sind auch Kulturschaffende, die eine Kombination aus selbständiger und angestellter Tätigkeit ausüben. Um den zahlreichen atypischen Arbeitsverhältnissen im Kulturbereich Rechnung zu tragen, können auch Kulturschaffende mit befristeten Anstellungen eine Nothilfe erhalten. Die Definition der hauptberuflichen Tätigkeit stützt sich auf Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 der Kulturförderverordnung (KFV; SR 442.11) ab. Hauptberuflich im Kulturbereich tätig sind damit Kulturschaffende, die mit ihrer künstlerischen Tätigkeit mindestens die Hälfte ihres Lebensunterhaltes finanzieren oder mindestens die Hälfte der Normalarbeitszeit für die künstlerische Tätigkeit einsetzen. Maßgebend sind dabei auch künstlerische Tätigkeiten (selbständig erwerbend oder angestellt) außerhalb des Kunstsektors gemäß vorliegender Definition (z.B. Tanzlehrerin an einer Tanzschule). Das Vorliegen einer hauptberuflichen Tätigkeit ist im Einzelfall gestützt auf die durch die Kulturschaffenden beizubringenden Unterlagen zu beurteilen (z.B. Steuerabrechnungen, Liste von Engagements, Ausstellungen usw.).

Was mache ich eigentlich hier?
Eine Rechtfertigung

27. Januar 2021

Mein Schriftstellerinnendasein in diesem deutschen Literaturbetrieb ist so unwahrscheinlich, dass ich immer wieder meinen Werdegang, diese unmögliche Strecke, gedanklich zurücklaufe. Die Vergangenheit ist eine Abfolge der mir bekannten Schritte, in der Gegenwart stehe ich und bekomme manchmal keine Luft, wenn ich an die Zukunft denke: Kann ich diesen Beruf weiterhin in Würde ausüben? Kann ich mir den Luxus erlauben, vom Schreiben zu leben?

Ich denke an den Satz von Guy Debord: »Paris war eine so schöne Stadt, daß viele [Künstler*innen] lieber hier arm sein wollten als anderswo reich.«

Ich denke: Guy Debord musste in seinem Leben nie hungrig ins Bett gehen.
Ich denke: Selbstgewählte Armut ist keine Armut.

Ein ehemaliger Mitstipendiat der Heinrich Böll Stiftung in Berlin fragte oder schlug vor – ich weiß es nicht so genau – ich sollte nach Berlin ziehen und so wie er Teil der Bohème werden, weil er um meine schriftstellerischen Ambitionen wusste. Ich wusste damals nicht, wo ich mit meiner Erklärung anfangen sollte. Heute weiß ich: Sein Vater ist Chirurg.

Wer begibt sich freiwillig in existenzielle Not, wenn er damit aufgewachsen ist, wenn er davor geflüchtet ist?

Eigentlich bist du Lehrerin, fragt man, oder sagt man, und dann weiß ich, ich muss erklären, warum ich Lehramt studiert habe: Kompromiss zwischen mir und meinen Eltern, aber das ist nur die Hälfte von dem, was wahr ist, denn der Kompromiss ist auch zwischen mir (heute) und mir (damals), meiner Angst vor Armut und meinem Wunsch zu schreiben.

In der achten Klasse lesen wir Sonia Levitins Buch Die Tote im Wald – in der Autor*innenvita steht, dass sie Lehrerin und Schriftstellerin ist.

Meine Klassenlehrerin weiß, dass ich Schriftstellerin werden möchte; meine Eltern wissen, dass ich schreibe, aber beide Parteien wissen auch: Ich werde nicht davon leben, ich muss mir etwas Anständiges suchen – das sind die Worte meiner Lehrerin; das muss ich mit meinen Eltern erst gar nicht besprechen. Levitins Doppelberuf suggeriert, ich könnte als Lehrerin nebenbei schreiben.

Wer sollte wo lernen?, werde ich gefragt. Ich finde es unangenehm darauf zu antworten, weil meine Antwort nur vermessen sein kann. Wie könnte ich darüber urteilen, wer wo lernen sollte, selbst wenn ich dies – im Rahmen dieses Essays – theoretisch könnte, als Gedankenexperiment. Die Implikation dieser Frage ist wahrscheinlich, dass ich als migrantisches Arbeiterkind schreiben soll: Wir brauchen mehr migrantische Arbeiterkinder im Kulturbetrieb, weil der Kulturbetrieb in Deutschland eine homogene Masse ist – zumindest kann ich das dem Literaturbetrieb attestieren. (Der Literaturbetrieb, auch im Jahr 2020, ist immer noch elitär, weiß, bürgerlich und sehr geschlossen, obwohl aufgeschlossener als zum Beispiel die Kunstszene, aber deutlich biederer als die Musikszene).

Wer sollte wo lernen?
Ich habe keine Antwort, aber ein paar Gedanken.

Ich denke: Zumindest gibt es einen sehr schmalen Korridor für solche Schriftstellerinnen wie mich, die kein Kreatives Schreiben studiert haben und ohne Netzwerk, trotzdem in der deutschen Gegenwartsliteratur einen Platz zugewiesen (!) bekommen. (Die Besprechungen meiner Bücher, die Interviews und Lesungen, die Anfragen lassen mich zu dem Schluss kommen: Ich bin eine Vertreterin einer Art Nischenliteratur, aber nicht der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, und jede weitere Erwähnung und Auseinandersetzung damit führt nur zu weiteren Verstrickungen.)

Wie kommt es, dass der Literaturbetrieb in Deutschland aus einer homogenen Masse besteht?, könnte eine selbstkritische Frage sein, die man sich stellte, würde einem die Homogenität auffallen. Auf der Bühne scheint zumindest seit den letzten Jahren die Homogenität aufgebrochen worden zu sein, aber hinter der Bühne werkeln immer noch ähnliche Akteure wie vor zwanzig und dreißig Jahren.

Ich denke: Würde man den Kanon abschaffen, würde man Goethe und Schiller und Büchner für eine Dekade aus dem Gedächtnis löschen, würde auch der Betrieb aufhören, nach der Stimme einer Generation zu suchen, endlich aufhören junge Männer, die nichts zu sagen haben, diese jungen Bohémien, diese Chirurgensöhne, zu feiern. Ich kenne die Gefühls- und Gedankenwelt dieser jungen Männer, in wie vielen Variationen soll ich das noch lesen? Keiner wird den nächsten Werther schreiben, er wurde schon geschrieben.

Wenn ich auf meine eigene Schreibbiographie schaue, sehe ich nur Frauen, die dafür gesorgt haben, dass ich schreibe, angefangen bei meiner Mutter bis Sandra Cisneros, dann Toni Morrison und Zadie Smith bis hin zu Shida Bazyar.

Ich weiß: Diversität als Marketingtool ist zu verachten, weil es die reelle Struktur nicht verändert, sondern kosmetische Veränderung ist.

Senthuran schreibt mir: Das Austauschen des Personals in einem Text, und der Marker, ist keine neue Literatur sondern nur Repräsentationspolitik. Ich like seine Nachricht. Wenn statt Kaffee Chai getrunken wird, wenn statt Alex Ahmet da steht, wenn Alltagsrassismus den Text schmückt, aber der Text in seiner Grundstruktur sich kaum von anderen Texten unterscheidet, stellt sich die Frage: Warum schreiben? Stell dir vor, du schreibst nicht für ein deutsches Publikum, sondern du schreibst. Wie würdest du schreiben? Stell dir vor, niemand wird deinen Text lesen, stell dir vor, du bist die einzige Person, die den Text lesen würde, würdest du immer noch deinen Text dir selbst erklären? Ich habe mich dessen auch schuldig gemacht:

In meinem Roman Beschreibung einer Krabbenwanderung erzählt die Protagonistin, im Irak würde man wegen der erdrückenden Sommernächte auf dem Dach schlafen, und man könnte auf den Dächern schlafen, weil diese flach sind.

Als ich das geschrieben habe, schrieb ich für ein deutsches Publikum, das möglicherweise (!) nicht weiß, dass Menschen im Irak auf dem Dach schlafen und dies auch architektonisch möglich ist. In dem Moment habe ich verraten, für wen ich schreibe, zu wem ich spreche; nämlich zu einem ausschließlich eurozentrischen Publikum, das sich nicht die Mühe macht, herauszufinden, wie die Architektur in Westasien ist.

Ich sehe das bei vielen Kolleg*innen, die etwas erklären, was sie nicht erklären müssten, wenn sie zu mir sprechen würden. Unbewusst schreiben wir also für ein Publikum, das uns nicht verstehen wird. Die Rezeption der Arbeit von migrantischen Schriftsteller*innen entlarvt, wie diese Literatur verstanden wird. (Und auch dieser Essay richtet sich größtenteils an ein ignorantes Publikum.)

Es ist völlig egal, worüber ich schreibe, das deutsche Publikum wird immer darin eine Zerrissenheit zwischen den Kulturen lesen – die Abwesenheit ›deutscher‹ Figuren, der deutschen Geschichte und Diskurse ist eine sehr bewusste Entscheidung von mir als Schriftstellerin, es ist keine politische Entscheidung, sondern eine dramaturgische, für die Themen, die ich behandle (nicht Integration, nicht Rassismus, nicht Ankommen, nicht Fremdgefühle) brauche ich schlicht und ergreifend nichts spezifisch Deutsches außer Deutsch.

Eine Rezensentin schreibt über mein zweites Buch und über mich, ich müsste als Schriftstellerin noch beweisen (sic!), dass ich über andere Figuren und Themen schreiben kann als über junge Migrantinnen, die zwischen den Kulturen und Geschlechterstereotypen ihre Identität suchen.

Das, worüber ich schreibe, wird nicht gesehen, weil migrantische Figuren ohne den Kulturkonflikt nicht existieren können. Die Abwesenheit des ›Deutschen‹ scheint das Publikum derartig zu stören, dass sie diese Abwesenheit als Konflikt lesen, als eine Zerrissenheit zwischen den Kulturen.

Eine Redakteurin verrät mir, ihre Kollegin wollte mein zweites Buch nicht lesen, weil es wieder um ›Kurden‹ geht.

Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke schreibt, der Wissenschaftsbetrieb vernichtet die Wissenschaft, ich denke: Auch der Literaturbetrieb vernichtet die Literatur.

Angefangen bei den berühmten Ärztekindern in Schreibschulen (s. Kessler-Debatte) bis hin zu einem sehr primitiven Verständnis von Literatur als Identitätspolitik in der Rezeption.

Ich schicke die Rezension meiner befreundeten Kollegin Rasha, sie antwortet mir lang und ausführlich – erzählt von ihren Erfahrungen und zwischen all ihren Sätzen stechen zwei besonders hervor:
Du schreibst, was du schreiben musst.
Es ist zu viel Arbeit, um Kompromisse einzugehen.

Wenn es einen Grund zum Schreiben gibt, dann um eine neue Sprache, einen neuen Ausdruck für das zu finden, was da ist oder was nicht da ist. Toni Morrison schreibt, Literatur sei eine »alternative language« als die Sprache, die uns tagtäglich umgibt. Wir müssen in die Lage versetzt werden, in einer anderen Sprache zu schreiben, in die Grammatik einzudringen, nicht der Alltagssprache zu verfallen, die Sprache, wie sie gesprochen wird zu brechen, in den Spalt zu schauen und das Gebrochene zu entdecken, gebrochen Deutsch zu schreiben.

Mittlerweile haben auch die Verlage verstanden, dass man nicht Kreatives Schreiben studiert haben muss, um schreiben zu können, aber es hilft für ein zukünftiges Netzwerk, es hilft auch, um diesen Betrieb zu verstehen und dann lese ich einen Tweet von dem Lektor Florian Kessler, der sich als Gatekeeper bezeichnet, weil er einen Debütroman über Obdachlosigkeit als »zu intrinsisch und umfangreich und zu kompliziert« empfand und deswegen ablehnte. Intrinsisch bedeutet hier: Es bedient nicht meine Vorstellung davon, was Obdachlosigkeit ist oder auch meine Vorstellung davon, was die Kaufkräfte sich unter Obdachlosigkeit vorstellen: Es bedient nicht meine Vorurteile.

Wie viele Schriftsteller*innen wurden und werden verhindert, weil ihre Arbeit als ›intrinsisch‹ beurteilt wird? Wahrscheinlich so viele wie es Chirurgensöhne in den Verlagen gibt.

We hunger for a way to articulate who we are and what we mean.
Toni Morrison, wieder.

Ich denke an die kurdische Künstlerin Zehra Doğan, die im türkischen Gefängnis mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, malte. Kunst war für sie kein Luxus, sondern ihre Rettung, vielleicht sogar Rettung davor wahnsinnig zu werden, ganz sicher.

Kunst ist eine Notwendigkeit, für diejenigen, die es erschaffen. Kunst ist Ausdruck, keine Pose. Das Beispiel soll nicht zu dem Vorurteil beitragen, leidende Künstler*innen wären die besseren Künstler*innen. Trotz der widrigsten Umstände entsteht Kunst, aber möchte das »Land der Dichter und Denker« wirklich die widrigsten Umstände als Arbeitsalltag für Künstler*innen akzeptieren?

Ich weiß: Kunst ist kein Luxus, den ich mir erlaube, sondern eine Notwendigkeit; Geld sollte nicht darüber bestimmen, was ich mache und doch entscheidet Geld über alles, und dies zu ignorieren, bedeutet die Realität zu leugnen.

Autorin:

Foto: Havin Al-Sindy

Karosh Taha wurde 1987 in Zaxo geboren. Seit 1997 lebt sie im Ruhrgebiet.
Ihr Debütroman ›Beschreibung einer Krabbenwanderung‹ erschien 2018 bei DuMont. Sie wurde mit zahlreichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet, darunter der Förderpreis des Landes NRW, das Stipendium Deutscher Literaturfonds und das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium 2019.

Über den eigenen Status hinaus. Produktive Irrelevanzerfahrungen

18. Januar 2021

Wann immer Kürzungen oder Umschichtungen in den Kulturetats von Städten und Gemeinden, auf der Landes- oder Bundesebene anstehen, beschwört jemand das Gespenst der gesellschaftlichen Verödung, die durch eine Verknappung kultureller Angebote oder gar der Schließung kultureller Institutionen entstehe. Das verrückte Jahr 2020 hat uns ermöglicht, so eine Situation zu erleben – und das ganz ohne Kürzungen in den Kulturetats. Oder wahrscheinlich: vor den Kürzungen in den Kulturetats.

Wie sich eine Gesellschaft anfühlt, in der es keine klassischen Kulturveranstaltungen mehr gibt, kein Theater, Oper, Ballett und Konzert, in der Museen geschlossen sind und Vorträge nicht stattfinden können, erleben wir nun seit mehreren Monaten, und ziemlich sicher noch weit bis in den Sommer 2021. Für mich und viele andere kultur-affine Menschen ist eine der interessantesten Erfahrungen im Shutdown kultureller Präsenzveranstaltungen, wie gut man mit ihm zurechtkommt – wenn man einen funktionierenden Internetzugang hat. Die Rhetorik von der Kultur als »geistigem Lebensmittel« oder »geistiger Tankstelle«, mit der sich die Staatsministerin für Kultur und Medien und andere Interessenvertreter*innen des Kulturbetriebs zu Wort meldeten, stand und steht im deutlichen Gegensatz zur eigenen persönlichen Erfahrung in der Pandemie.

Die Reichweite der Relevanz-Rhetoriken

Während ich der Relevanz-Rhetorik von Grütters et al. etwas irritiert gegenüberstehe, prallen an den Verantwortlichen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene die Appelle und Hinweise auf den bedeutsamen Beitrag, den Kunst und Kultur in dieser tiefgreifenden Krisensituation leisten könne, weitgehend ab. Der ein oder andere Kulturmensch schaffte es zwar in eine Talkshow, wo er/sie an den Hygiene- und Kontaktreduzierungsvorschriften Kritik üben durfte. Im Krisenmanagement oder in zentralen Entscheidungsprozessen werden diese Menschen aber offensichtlich nicht konsultiert. Die großen Worte von der »Systemrelevanz der Kultur«, von »Kultur als Ort der gesellschaftlichen Auseinandersetzung«, erweisen sich in der Krise zwar immer noch als wirkmächtig genug, um finanzielle Mittel zu aktivieren – immerhin! Sie klingen aber im Angesicht der sich bereits im Oktober dynamisch steigenden Infektions- und Sterbezahlen und der intensiven Diskussion darüber, wie sie wieder eingedämmt werden können, für viele auch nach Selbstüberschätzung.

Natürlich ist es unfair, Theateraufführungen mit dem zu vergleichen, was auf Intensivstationen getan und geleistet wird. In die Situation gebracht haben sich aber prominente Vertreter*innen des Kulturbetriebs selbst: Wer sich in einer lebensbedrohlichen Pandemie als »systemrelevant « behauptet, manövriert sich selbst in die paradoxe Situation, existenzielle Bedeutung für die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft ausgerechnet in dem Moment zu behaupten, in dem deutlich wird, wie wenig man für den Großteil der Gesellschaft tatsächlich bedeutet.

Denn es geht ohne Theater, Oper, Ballett und Konzert. Es geht sogar ohne öffentliche Bibliotheken – deren Schließung sehr viel mehr Menschen betrifft, die kaum Zugang zu mit Eintrittsgeld bewährtem Kulturkonsum haben. Massenhafter Protest ist ausgeblieben – und offensichtlich waren sich die Entscheider*innen dessen sehr sicher, so resolut wie man sich im Oktober für einen Shutdown der auf Präsenz ausgerichteten Kultur-Institutionen entschloss.

Tobias J. Knoblich interpretiert diese Nonchalance der Politik in seinem Essay »Kultur ist mehr als Freizeitgestaltung, Vergnügen und Unterhaltung« nicht nur als Hinweis auf den tatsächlich untergeordneten politischen Stellenwert von Kultur, sondern auch als Indiz für die kommenden Debatten um die post-pandemische Neuordnung von Kommunal-, Landes- und Bundeshaushalten – hier würden die Kulturetats zu den ersten Opfern gehören, – und prognostiziert, dass es wohl nicht gelingen werde, mittels der seit Jahren eingespielten kulturpolitischen Rhetorik der eigenen gesellschaftlichen Relevanz massive Kürzungen zu verhindern. Ich halte diese Voraussage für zutreffend: Zwar hat die Relevanz-Argumentation 2020 zwar noch einmal ausgereicht um erhebliche Einmal-Beträge beim Bund frei zu machen, aber spätestens ab 2022, wenn es nach der Bundestagswahl um strukturelle Entscheidungen in Kommunen und auf Länderebene geht, wird die Rhetorik der gesellschaftlichen Bedeutsamkeit der Kultur nicht weit tragen. Schließlich haben wir gerade erfahren, wie wackelig dafür die Faktenbasis ist.

Man wird nicht dümmer ohne Theater

Heavy User des prä-pandemischen kulturellen Präsenz-Angebotes wie ich haben seit dem 19. April 2020 die Erfahrung gemacht, die der größere Teil der Gesellschaft schon immer hat:

Man wird nicht dümmer ohne Theater, Oper, Konzert oder Museum.
Man wird auch kein schlechterer Mensch.
Man verpasst auch keine wichtigen gesellschaftlichen Debatten.
Man langweilt sich noch nicht einmal.

Digitale Angebote sind für die Bedürfnisse, die ich (und wahrscheinlich nicht nur ich) mit dem Besuch von Museen, Theater und Vorträgen befriedige, nicht nur ein guter Ersatz. Stattdessen ermöglichen sie oft ganz eigene Formen von Konsum und Teilhabe, mit denen viele klassische Präsenz-Formate nicht mithalten können. Zeitsouveränität ist nur eines davon. Wichtiger, weil dem Anspruch von Kultur an sich selbst viel näher: Digitale Formate haben eine deutlich niedrigere Zutrittsschwelle – und hier spreche ich nicht primär über Eintrittsgelder.

Es sich auf dem Sofa oder am Küchentisch mit Laptop oder Tablet gemütlich zu machen und sich eines von Igor Levits Pandemie-Mini-Recitals anzuhören oder gleich eine komplette Opernaufführung, die sich in mystischer Weise plötzlich auf den Webseiten oder YouTube-Kanälen mancher Häuser oder Musik-Labels finden, ist eine sehr andere, (und für viele Menschen wahrscheinlich auch sehr viel positivere) Erfahrung, als der Besuch eines Konzertsaales oder Opernhauses, bei dem bereits Architektur und Ambiente der Location verdeutlichen, welche Rezeptionshaltung und welcher Habitus hier gefordert werden. Das lässt sich selbst für Museen festhalten, die tendenziell bei der Öffnung gegenüber nicht-bildungsbürgerlichen Zielgruppen schon viel weiter sind als die performativen Kulturinstitutionen.

Dass Einübung, Affirmation und Privilegierung bestimmter Habitusformen (und damit Stabilisierung und Durchsetzung gesellschaftlicher Hierarchien gegen andere soziale Gruppen und Praxen) dem Präsenz-Kulturbetrieb leider nicht nur äußerlich sind und sich durch ein paar Diversity-Maßnahmen in den Inhalten begradigen ließen, zeigt sich in der Pandemie erstaunlich unverstellt: Keine der Stellungnahmen oder Kritiken am Shutdown der Präsenz-Kultur kam ohne den Hinweis aus, dass man doch schließlich etwas ganz anderes sei als ein Friseurbetrieb oder Bordelle. Diese Spitze ist nicht überall gut angekommen.

Überparteiliche Finanzkritik

Die Debatten darüber, für welche Art von Kultur in Zukunft überhaupt staatliche Mittel budgetiert werden sollen, werden nicht nur vor dem Hintergrund angeblich beschränkter Finanzmittel geführt werden. Sie werden sich auch in einem diskursiven politischen Raum abspielen, in dem die Besonderheit und Förderungswürdigkeit von Kunst und Kultur in ihren traditionellen Formen grundsätzlich in Frage gestellt werden kann – und dass nicht nur aus dem kulturellen Feld selbst heraus, durch die jeweiligen Avantgarden.

Schon vor der Pandemie sind große Kulturprojekte wie die Sanierung oder der Neubau von Opern- und Konzerthäusern (Bonn, Köln, Stuttgart) ins argumentative Schlingern gekommen, als aus bürgerlichen Kreisen und quer zum bekannten politischen Spektrum Stimmen laut wurden, dass man hier kein ausgeglichenes Kosten-/Nutzenverhältnis erkennen könne. Beispielsweise konnten sich in der Debatte um die Totalsanierung der Stuttgarter Oper schon vor der Covid19-Krise Menschen aus allen im Gemeinderat und in Landtag vertretenen Parteien hinter dem Argument versammeln, dass hier das Unterhaltungsbedürfnis einer sowieso schon privilegierten kleinen gesellschaftlichen Gruppe überproportional gegenüber anderen Gruppen gefördert wird.

Mit einigem Erfolg: Nicht nur haben sie den verantwortlichen Kultur- und Finanzpolitiker*innen überhaupt einmal eine Debatte über Sinn, Zweck und Umfang der Sanierungen aufgezwungen, sondern auch die Veröffentlichung einer einigermaßen realistischen Finanzplanung erreicht. Nachdem die Hausnummer der Sanierung all-inclusive auf eine Milliarde Euro beziffert wurde, steht die Debatte auf ganz anderen Füßen. Man merkt den Vertreter*innen aus Kultur und Kulturpolitik an, wie schwer es ihnen für diese Summe mit neun Nullen fällt, den gesamtgesellschaftlich bildenden und erhebenden Besuch einer Verdi-Oper glaubhaft zu machen, wenn für dieselbe Summe jede Schule Stuttgarts mit einer üppigen Bibliothek und alle Schüler*innen mit Premium-Laptops plus Internet Flatrate ausgestattet werden könnte.

2021, wenn die Debatte nach überstandener Pandemie weitergehen wird, steht neben dieser Milliarde auch noch die Zeit im Raum, die alle ohne Oper, Ballett und Konzerte überstanden haben. Welche Folgen dies zum Beispiel für die Abo-Abschlüsse haben wird, bleibt spannend. Vielleicht waren vor allem kulturtouristisch beworbene Großprojekte wie Elbphilharmonie und Humboldtforum die letzten ihrer Art.

Mangelnde Transformationsbereitschaft

Man kann die Stuttgarter Opernsanierungsdiskussion, die bereits eine Verfahrensänderung erreichte, beispielhaft als positives Zeichen für eine lebendige, wenn auch stellenweise ruppig geführte kulturpolitische Debatte verstehen, die vor allem auf kommunaler Ebene geführt wird, und quasi ein Vorschein gibt auf die zukünftigen Auseinandersetzungen über Erhalt und Erneuerung der Kulturlandschaft, die Tobias J. Knoblich im Start-Essay dieser Reihe bereits fordert und anmahnt. Pessimistisch stimmt mich aber die Sprachlosigkeit der Vertreter*innen des Kulturbetriebs, die zu diesem Gespräch bislang kaum mehr als unhinterfragte Besonderheits-Rhetorik von (traditioneller) Kultur beitragen konnten.

Die Erfahrungen, die ich hier in Stuttgart bisher in der Debatte um die Sanierung der Oper gemacht habe, sprechen eher gegen die Transformationsfähigkeit und -bereitschaft des kulturellen Feldes. Zumal sie nicht die einzigen sind, die einen skeptisch werden lassen. So kann man über die Ignoranz und die Sturheit nur erstaunt sein, die ausgerechnet Vertreter*innen des bundesdeutschen Kultur-Leuchtturm-Projektes Humboldt Forum in der Debatte um den angemessenen Umgang mit kulturellen Artefakten an den Tag gelegt haben, die durch kolonialistische Praktiken in die Berliner Sammlungen gelangt sind. Ein absoluter Tiefpunkt war ein Interview im Deutschlandfunk zum Thema, in dem Horst Bredekamp, einer der Gründungsintendanten des Humboldt Forums, bestritt, dass es überhaupt deutschen Kolonialismus gegeben habe. Fairerweise ist zu sagen, dass es gerade in diesem Feld aber auch positive Gegenbeispiele gibt: So haben das Land Baden-Württemberg und das Linden-Museum 2019 die Bibel und die Peitsche Hendrik Witboois an dessen Familie zurückgegeben. Witbooi war einer der Anführer des Aufstandes gegen die deutschen Kolonialherren im heutigen Namibia, die es laut Bredekamp gar nicht gab. Bibel und Peitsche wurden 1902 an das Stuttgarter Museum gegeben. Sie waren beim Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama von deutschen Soldaten erbeutet worden.

Das Linden-Museum und Landespolitiker*innen geben hier ein gutes Beispiel in Sachen Offenheit für Veränderungen und zeigen ein neues Verständnis für museale Artefakte und ihrer kulturellen Bedeutung. Trotzdem befürchte ich, dass sich die Tendenz der etablierten, auskömmlich finanzierten Institutionen eher verstärkt, die von außen angemahnten Veränderungsprozesse zu ignorieren. Dass sie sich Forderungen nach mehr Diversität bei den präsentierten Inhalten und den Arten der Präsentation, aber vor allem beim Fach- und Führungspersonal weiterhin verweigern und meinen, sich für diese Verweigerungshaltung auf die grundgesetzlich garantierte Autonomie und Freiheit der Kunst berufen zu können. Die Virtuosität, mit der die Gründungsintendanten des Humboldt Forums die sowieso hohe institutionelle Trägheit behördlicher Apparate wie sie Kulturbürokratien sind, genutzt haben, um die Debatte über eine Neukonzeption des Projektes museumspraktisch im Sande verlaufen zu lassen, ist für mich so ein Zeichen. Genauso wie der defensive Ton, der gerne in den Newslettern des Deutschen Kulturrates angeschlagen wird, wenn man sich – natürlich ganz selten offen aggressiv – mit Forderungen nach mehr Diversität oder nach deutlicher Positionierung kultureller Institutionen gegen diskriminierende Politikentwürfe auseinandersetzt. Oder dass Kulturstaatsministerin Grütters zu Fragen einer Kultur der Digitalität wenig mehr einfällt als die Klage über die Verrohung des Diskurses durch soziale Medien. Ganz praktisch und strukturbildend zeigt sich diese defensive Haltung gegenüber den Transformationen, die ja bereits ohne Budgetierung und Segen der obersten staatlichen Kulturrepräsentantin ablaufen, dann in den überschaubaren Beträgen, die Grütters in ihrem Etat 2021 für die Digitalisierung und den Aufbau digitaler Strukturen im Kulturbereich vorsieht: circa 22 Millionen Euro.

Funktionale Spaltung des Kulturbetriebs

Hier gäbe es also viele Ansatzpunkte zur Transformation. Stattdessen werden die Bereiche im kulturellen Feld, die bereits aktuell unter deutlich prekäreren Finanzierungs- und Arbeitsbedingungen, programmatisch und personell diverser und inklusiver zu arbeiten versuchen, noch stärker unter Druck geraten. Sie haben viel weniger Ressourcen und entsprechende Netzwerke, sind viel einfacher angreifbar – und vor allem sitzen sie nicht in einer gebauten Infrastruktur, die man nicht so einfach leer stehen lassen oder umwidmen kann. Gerade durch die institutionelle Kulturförderung mit festen Budgets für etablierte Häuser auf der einen Seite und einem großen, tendenziell intransparentem Projektmittelwesen auf der anderen, hat sich die funktionale Spaltung des Kulturbetriebs mittlerweile als reale bürokratische, finanzielle und bauliche Infrastruktur materialisiert: (relativ) gut finanzierte Traditionsbetriebe, die sich am Kunst- und Kulturbegriff des letzten Jahrhunderts festhalten, und flexible, von der Hand in den Mund lebende Innovationslabore, die sich ständig neu erfinden müssen, weil die Förderperiode beendet ist und die Gelder einen neuen thematischen Schwerpunkt bekommen.

Damit sich diese tief in das kulturelle Feld, seine Inhalte und sein Selbstverständnis versenkte Struktur nicht durch massiven ökonomischen Druck verstärkt, bräuchte es Netzwerke und Diskussionsräume, in denen sich Vertreter*innen aus beiden Sphären gleichberechtigt begegnen können. Gleichberechtigt hieße hier vor allem: In denen sich auch Opernintendanten und Museumsdirektorinnen der Frage nach der Existenzberechtigung ihrer Häuser und ihrer Arbeit stellen lassen, ohne dass das professionelle Konsequenzen für die Fragenden hat. (Die Intransparenz der tatsächlichen ökonomischen und finanziellen Verhältnisse innerhalb des Kulturbetriebs und die daraus folgenden Abhängigkeiten sind der große Gorilla im Raum dieser ganzen Debatte.) Für solche offenen Räume sehe ich, vor allem oberhalb der kommunalen Ebene, bisher wenige Anzeichen. Aber wer weiß: Um die Debatte herum kommt der Kulturbetrieb sowieso nicht. Und vielleicht eröffnet die schockhafte Erfahrung der eigenen gesellschaftlichen Irrelevanz doch Räume, in denen offener über die Funktionen von Kultur in einer Gesellschaft gedacht werden kann – und nicht nur über den Erhalt des eigenen Status.

Autorin

Fotoquelle: www.mag.de

Dr. Christina Dongowski

Geboren 1969. Hat an der JLU Gießen Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie studiert. Arbeitet als Ghostwriterin, PR-Texterin, Übersetzerin und Autorin und ist ehrenamtlich im Kulturbereich engagiert. Sie lebt in Stuttgart und im Internet.

Machen wir das Richtige richtig?

15. Januar 2021

Gedanken zur neuen Relevanz der kulturellen Infrastruktur und der Aufgabe der Kulturpolitik

Was heißt eigentlich Relevanz? Wenn man es dem Englischen entlehnt, sprechen wir von »Bedeutung«. Wenn wir uns am lateinischen Original orientieren, meint das Wort, etwas sei »schlüssig« oder »richtig«. Die Rede von der neuen Relevanz der Kultur bedeutet also in diesem Sinne, wir diskutieren die (neue) Bedeutung von Kultur oder aber wir fragen nach deren Schlüssigkeit oder der Richtigkeit. Folgen wir dem allgemeinen Verständnis (auch in Kultureinrichtungen), dann geht die Diskussion um die Klärung der »Bedeutung«. Wobei wir an dieser Stelle schon mittendrin in einem semantischen Problem sind. Denn die Bedeutung von Kultur steht außer Frage. Indem Kultur die Beschaffenheit unserer Gesellschaft beschreibt, die ihre Selbstvergewisserung in Symbolen und Formen, in Konventionen und Reflexionen, in der Speicherung und Vermittlung betreibt, hat sie eine grundsätzliche Bedeutung per se, die man zwar – und hier wird es strittig – mehr oder weniger sehen, betonen und fördern, gleichwohl aber nicht negieren kann. Dies umso mehr, da »die Kultur« in der Intention der neuen Relevanz wohl gleichbedeutend ist mit der kulturellen Infrastruktur. Die Rede der Relevanz im Verständnis von »Bedeutung« geht ja davon aus, dass es eine neue Art der Wahrnehmung und in deren Gefolge eine neue Art von Umsetzung gesteigerter Aufmerksamkeit durch Erhöhung der Förderung und der Beteiligung bedarf. Wenn man indes von »Schlüssigkeit« oder »Richtigkeit« spricht, dann müssen wir fragen, inwiefern die eben beschriebene Kultur noch zu den gesellschaftlichen Entwicklungen passt oder ob wir es nicht vielmehr mit unzähligen Friktionen zu tun haben, mit Leerstellen und offenkundigen Divergenzen in der Debatte und in der Realität.

Die Frage nach der Schlüssigkeit der kulturellen Infrastruktur ist eng verwoben mit den Stichwörtern »Effizienz« und »Effektivität« Bevor hier ein erster Aufschrei erfolgt: Es geht nicht um einen allzu ökonomisierten Blick auf die Einrichtungen, wiewohl doch die Entwicklung des Kulturmanagements gerade in den vergangenen zwanzig Jahren gezeigt hat, wie wichtig ein wirtschaftlicher Blick sein kann. Trotzdem soll hier keiner Unterwerfung der kulturellen Infrastruktur allein unter finanziellen Kriterien das Wort geredet werden. Die Kulturelle Infrastruktur stellt nämlich zweifelsohne einen Public Value dar, der sich niemals komplett refinanzieren wird. Aber wo wir gerade bei der Wortbedeutung sind, können wir die Begriffe Effektivität und Effizienz näher betrachten. Effektivität übersetzt heißt: »Machen wir das Richtige?«Effizienz kann man auch als »Machen wir das Richtige richtig?« formulieren. Womit wir nun wieder bei dem Punkt der Schlüssigkeit sind, der uns vielleicht näher dazu bringt zu formulieren, was eine neue Relevanz der Kultur ausmacht.

Die Rede von der kulturellen Infrastruktur – ein Terminus, der zurecht an Daseinsvorsorge und die dafür notwendigen Systeme erinnert – insinuiert, wir hätten es mit einem homogenen Gebilde zu tun. Das ist mitnichten der Fall. Die kulturelle Infrastruktur umfasst – je nach Lesart oder Interpretation – Theater, Museen, soziokulturelle Zentren, Bibliotheken, Archive, Volkshochschulen, Musikschulen und vieles mehr. Manche Institutionen sind gesetzlich geregelt (z.B. Bibliotheken oder Archive), manche basieren auf einem Markt (z.B. Verlage, Clubs). Die Frage nach der Relevanz im Sinne der Bedeutung stellt sich für diese Einrichtungen genauso unterschiedlich dar wie im Verständnis von Schlüssigkeit. Eigen ist all‘ diesen Einrichtungen nur, dass sie gemeinsam die Beschaffenheit unserer Kultur spiegeln, dies jedoch in unterschiedlichen Brechungswinkeln und, je nach Situation und Zeitläufen, in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Modellen und Konzepten.

Von daher wollen wir uns dem Thema zunächst nicht – wie so häufig – vonseiten der Institutionen der kulturellen Infrastruktur widmen, sondern aus gesellschaftlicher Perspektive. Denn so besteht die Möglichkeit, eine gute Verbindung aufzuzeigen. Überhaupt ist es sinnvoll für Kultureinrichtungen, die häufig vorherrschende Binnenperspektive zu verlassen und einen gesamtgesellschaftlichen Blickwinkel einzunehmen. Die Aufregung über die Beschlüsse des Bundes und der Länder, Kultureinrichtungen im Rahmen der Corona-Bekämpfung im Herbst 2020 als »Freizeit- und Veranstaltungsorte« zu subsumieren, war groß und kann geteilt werden. Verlässt man aber die institutionelle Blase, so ist es wohl im Alltag so, dass beispielsweise Theater, Volkshochschulen oder Museen von Teilen der Politik und Bevölkerung zunächst einmal wirklich (nur) als Freizeitangebote gesehen werden. Eine Differenzierung erfolgt häufig nicht. Die substanzielle Sicht hingegen entspricht der der Akteur*innen, die über die öffentliche Zuschreibung schnell in Larmoyanz verfallen könnten und sich abgewertet fühlen. Was heißt es aber, wenn diese öffentliche Zuschreibung besteht? Wenn es schwer ist, eine differenziertere Sicht zu vermitteln? Und wie müssen sich Kultureinrichtungen aufstellen, um hier nachsteuern zu können? Die Antworten beantworten auch die Frage nach der neuen Relevanz.

Nehmen wir also zunächst die gesellschaftliche Perspektive ein. Von vorherrschenden Megatrends ist häufiger die Rede. Sie variieren hier und da. Eine Schnittmenge besteht gewissermaßen in der digitalen Transformation der Gesellschaft, der fortschreitenden Globalisierung, der mit beidem verbundenen zunehmenden Beschleunigung und den daraus resultierenden Unsicherheiten. Während Bill Clinton noch mit dem Schlagwort It‘s the economy, stupid! in den Wahlkampf gehen konnte (und heutzutage analysiert wird, ob dieses Schlagwort noch stimmt – ob etwa Donald Trump aufgrund seiner äußerst liberalen Wirtschaftspolitik so viele Stimmen bekommen hat), muss man wohl konstatieren, dass der Satz abgewandelt werden muss. Nein, es ist nicht die Wirtschaft, die heute primär wahlentscheidend ist. It‘s the culture, stupid! muss es eigentlich heißen. Denn wir erleben einen – ja, so drastisch muss man es nennen – Kulturkampf, der eben nicht der von Samuel Huntington apostrophierte Clash of Culture ist (als Kampf unterschiedlicher Kulturen), sondern ein Kulturkampf innerhalb der Kultur, zwischen Kosmopoliten und »Endemiten«, zwischen neoliberalem und starkem Staat, zwischen denen, die alles regeln und verbieten wollen und denen, die alles erlauben, zwischen denen, die den Kapitalismus und das Wachstum ins Unendliche steigern wollen und denen, die den Kapitalismus am liebsten sofort abschaffen und das Wachstum stoppen wollen. Was uns zunehmend fehlt, ist die Mitte, verstanden als Ausprägung einer Gesellschaft, die über eine gesunde Balance von Eigenverantwortung und Solidarität verfügt; eine Gesellschaft, die Minderheiten wahrnimmt und demokratische Mehrheits­entscheidungen akzeptiert; eine Gesellschaft, die angesichts globaler Herausforderungen in einen vernünftigen Diskurs geht, eine Gesellschaft, die auch mit Kontingenzen und Unklarheiten zu leben vermag. Uns fehlt häufig das »Wir« und ein reflektierter Umgang mit dem »Nein«. Das ist eine gesellschaftliche Perspektive, wie sie derzeit treffend von Soziologen wie Nassehi oder Reckwitz analysiert wird – ohne deren Thesen hier im Einzelnen paraphrasieren und analysieren zu wollen.

Innerhalb dieser Gesellschaft agiert die kulturelle Infrastruktur. Das heißt, sie ist Teil derselben und die genannten Diskussionen schlagen auf sie durch. So muss sich zum Beispiel auch eine Kultureinrichtung der Frage der Nachhaltigkeit stellen, die nicht kongruent ist mit einem zunehmenden Wachstum, das einhergeht mit der Forderung nach immer mehr Mitteln. Andererseits: Unsere Wirtschaft ist noch dem Wachstumsmodell verhaftet und Kultureinrichtungen würden abgehängt, wenn sie auf Forderungen nach mehr staatlicher Zuwendung verzichten würden. Was also ist zu tun?

Was ist richtig?

Die Einrichtungen der kulturellen Infrastruktur unterliegen den gesellschaftlichen Entwicklungen. Sie sind zunächst einmal keine prägenden Akteure. Dadurch in eine defensive Position gedrängt, besteht entweder die Möglichkeit, sich zu unterwerfen, oder aber zu widerstehen. An diesem Punkt sind wir genau bei der Beantwortung der Frage angelangt, was das Schlüssige zu tun sei. Weder unkritische Unterwerfung noch bloßer Widerstand sind hier die richtigen Strategien. Gleichwohl gibt es Unsicherheiten und Suchbewegungen. Damit wären wir bei den Aufgaben der kulturellen Einrichtungen, da sie der intellektuellen Daseinsvorsorge gelten. Sie sollten sich als Diskurs- und Reflektionsräume profilieren. Nun werden viele Kulturinstitutionen sagen, dass genau dies selbstverständlich ist. Das soll an dieser Stelle bezweifelt werden, weil noch vielfach in der eigenen Logik gedacht wird, die gesellschaftliche Entwicklungen außer Acht lässt. Dabei wird weder der inhaltlichen Nivellierung das Wort geredet (»Nur noch Blockbuster spielen«) noch einer Anbiederung an Trends und Moden. Es erfordert viel Fingerspitzengefühl, den Diskurs zu organisieren, changierend zwischen Affirmation und Provokation. Die gesellschaftliche Analyse ist dafür unverzichtbar. Vielleicht ist schon dieser Schritt eine neue Erfahrung für viele Einrichtungen, nämlich aus der Binnensicht hinaus den Blick der Anderen einnehmen, eben weil die Kultureinrichtungen in Deutschland prinzipiell 80 Millionen Nutzerinnen und Nutzer haben. Wie gesagt, das gilt unterschiedlich für unterschiedliche Einrichtungen. Volkshochschulen sind, aufgrund ihrer Struktur per se darauf konditioniert, aktuelle Entwicklungen aufzugreifen. Ebenso Bibliotheken, wenn sie aktuelle Literatur anschaffen. Viele Museen tun sich manchmal schwer, Theater sind hier wieder weiter. Archive müssen sich nicht Trends anschließen, aber beispielsweise technischen Entwicklungen, die die Vermittlung von Archivalien unterstützen. 

Das Richtige ist also eine Abwägung zwischen den Notwendigkeiten, die sich durch gesellschaftliche Trends ergeben und dem eigenen künstlerischen Anspruch. Wer hier agiert, wird nicht nur die Relevanz der Schlüssigkeit steigern, sondern schließlich auch die Relevanz der Bedeutung, weil offenkundig werden wird, welchen eminenten Beitrag die kulturelle Infrastruktur leistet. In einem etwas wehmütigen Rückblick mag an die 1970er Jahre erinnert werden, als Erwachsenen­bildungseinrichtungen die Foren für die Wertedebatte waren. Was früher die Auslegeware einer Akademie war, ist heute ein gut organisierter, aktuell administrierter und Orientierung gebender Internetauftritt.

Wie macht man das Richtige richtig?

Das wiederum ist eine Frage der Strategie. Hier haben die Kultureinrichtungen beileibe Nachholbedarfe. Immer mehr desgleichen wird im oben beschrieben Kontext nicht funktionieren. Auch nicht mit immer mehr Geld. Vielmehr bedarf es einiger Anstrengungen, sich über die eigenen Strategien Gedanken zu machen, in dem Bewusstsein, die nötige Flexibilität zu entwickeln. Von Beschleunigung war bereits die Rede. Umso notwendiger wird ein agiler Ansatz und ja, hier kann durchaus von der Ökonomie gelernt werden. Wie Digitalkonzerne ihre Produkte in immer wieder reflektierenden Schleifen entwickeln und die Wirkung auf die Kundinnen und Kunden reflektieren, so brauchen auch Kultureinrichtungen ein Verständnis für die verschiedenen Stufen und möglichen Anpassungen einer Strategie. So kann es gelingen, das Richtige richtig zu machen.

Wie wird die kulturelle Infrastruktur aufs Neue relevant? Oder: Wie bleibt sie relevant?

Zu sehr wollen wir das Kulturlicht nicht unter den Scheffel stellen, denn die Sicht ist besser, als sie häufig propagiert wird. Wie wird, wie bleibt sie schlüssig? Indem sie sich aus dem eigenen Korsett befreit. Tradition und Kontinuität spielen heutzutage eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger wird es deswegen sein, schlüssige Strategien für heute und morgen zu entwickeln, sich neu aufzustellen, hinzuhören und – im Sinne des Audience Developments – die Nutzerinnen und Nutzer als Teilhaber*innen der kulturellen Infrastruktur zu verstehen. Das ist mit einem bloßen gemeinsamen Verständnis von »Kultur« nicht möglich, sondern bedarf der jeweiligen Adaption innerhalb der Institution. Auf jeden Fall wird es aber notwendig sein – dem Netzwerkgedanken in der Kultur der Digitalität geschuldet –, das Spartendenken zu überwinden und gemeinsam Projekte zu planen, an die bis dato niemand gedacht hat. Hackathons sind hier für ein treffendes Beispiel.

Wird sich dieser Angang finanziell auszahlen? Nicht, wenn man ihn von der jetzigen Situation aus einfach in die Zukunft kontinuierlich weiterdenkt. Aber es wird neue Finanzierungsmöglichkeiten geben und es muss auf jeden Fall (auch und gerade innerhalb der Kultureinrichtungen) Posterioritäten und Prioritäten geben, bevor diese kulturpolitisch eingefordert werden. Was gesellschaftlich relevant ist, wird prioritär, von manchem Liebgewonnenen wird man sich verabschieden müssen. Das ist ein schmerzhafter Prozess aber für die Gewinnung an Relevanz in jeglicher Bedeutung unverzichtbar. Die Kulturpolitik muss auf die neue Relevanz reagieren und die notwendigen Mittel in einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive auf das »Wir« bereitstellen.

Was bleibt, ist die Ungewissheit.

Theologisch gesprochen: die Kontingenz. Die wird dieser Gesellschaft niemand nehmen können (selbst, wenn es manch‘ politische Initiative verspricht). Genau das können Kultureinrichtungen offen präsentieren und thematisieren und selbst leben. Was wird? Hoffentlich eine Gesellschaft, die sich nicht überwältigen lässt, die um ihre Tradition weiß und um die Notwendigkeit, die eigene Kultur weiter zu entwickeln und vor allem auch zu pflegen, auf dass sie nicht zur Un-Kultur verkommt. Wer kann das schlüssiger aufzeigen, als Einrichtungen der kulturellen Infrastruktur? Hier gibt es die Kernkompetenz, um die eigentliche Zukunftsfrage zu thematisieren, die mit allen Megatrends zusammenhängt, nämlich die Frage nach der Transzendenz. Das ist nicht religiös gemeint, sondern im philosophischen Sinne als Übersteigen und Reflektieren dessen, was sinnlich wahrnehmbar ist. In diesem Prozess wird es Aufgabe der Kulturpolitik sein, mit Programmen zu unterstützen und insbesondere die individuelle strategische Beratung stärker zu flankieren, als dies bisher üblich ist.

Autor

Martin Lätzel, Kiel

Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek

In welchem System relevant?

13. Januar 2021

Ich beginne mit einer Frage. Sie ahnen es vielleicht schon. Sie lautet: Ist Kultur systemrelevant? Kulturschaffende und Politiker*innen sind seit Beginn der Pandemie in schier unendlichen Debatten gleichsam an ihr kleben geblieben wie ein vertrockneter Kaugummi an einer Museumswand. Es wurde gerufen, debattiert und geschrieben. Aber kaum jemand kam auf die Idee, eine wichtige Gegenfrage zu stellen: Welche Kultur ist überhaupt gemeint?

Für welches System relevant?

Denn es gibt nicht bloß eine Kultur, der diese oder jene Eigenschaft zukommt. Ich beobachte in unserer Gesellschaft Kulturen. Und ich beobachte, dass manche von ihnen äußerst systemrelevant zu sein scheinen, wie beispielsweise das Humboldt-Forum. Selbst die Pandemie sollte die für Dezember 2020 angesetzte (digitale) Eröffnung im wiederaufgebauten Berliner Schloss nicht verhindern. Die notwendigen Hygiene- und Schutzmaßnahmen für die planmäßige Fortführung der Baumaßnahmen ließen laut Bundesinnenministerium die Gesamtkalkulation von 644 Millionen auf 677 Millionen Euro steigen.

Warum ist das Humboldt-Forum also systemrelevant? Zumindest in dem Maße, dass die politisch Zuständigen 33 weitere systemrelevante Millionen Euro zur Verfügung stellen? Und für welches System ist es relevant? Eine Antwort lautet: Das Humboldt-Forum fügt sich nahtlos in ein System kolonialer Kontinuitäten und weißer Vorherrschaft ein. Und legitimiert sie im Gegenzug. Dazu gehört die Weigerung Deutschlands, sich mit der eigenen Kolonialgeschichte auseinanderzusetzen (oder aus ihr Konsequenzen zu ziehen). Bei vielen Exponaten, die auf den 1.500 Quadratmetern ausgestellt werden, handelt es sich um koloniale Raubkunst.

Auf der anderen Seite existiert eine Vielfalt an offensichtlich nicht-systemrelevanter Kulturen, die von solch einem Geldregen nur träumen können: Festivals, Kulturstätten, Initiativen und Veranstaltungsreihen, die sich queer, feministisch, inklusiv oder dekolonial verorten und jährlich um Förderzusagen bangen. Diese Kulturen adressieren kein breites bürgerliches, weißes und anders dominanzgesellschaftliches Publikum. Sie hinterfragen rassistische oder sexistische Kontinuitäten. Nicht systemrelevant also: Die freie, alternative, marginalisierte Kulturszene – und marginalisierte Künstler*innen. Die prekäre Situation vieler Solo-Selbstständigen hat sich in den vergangenen Monaten verschärft. Daran haben auch die halbgaren Hilfen durch Bund und Länder kaum etwas geändert. Und mehrfachmarginalisierte Kulturschaffende sind auch in der Corona-Krise mehrfachbelastet. Geflüchtete oder behinderte Künstler*innen fallen ebenso häufig aus dem Raster solcher Zuschüsse heraus wie ihre Arbeit oftmals von der Künstlersozialkasse nicht anerkannt wird. Von der ungerechten Verteilung von Ressourcen in unserer Gesellschaft – von etwa Geld, Sicherheit und Zeit – ist die Kulturbranche nicht ausgenommen.

Relevanz über das System hinaus

Dabei war 2020 nicht nur das Jahr der Corona-Krise. Es war auch das Jahr des anti-feministischen, antisemitischen und rassistischen Terrors, der am 19. Februar in Hanau seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Auch deswegen brauchen wir die Perspektiven marginalisierter und machtkritischer Künstler*innen für den Entwurf eines neuen, solidarischen Miteinanders dringender denn je. Sie sind konstitutiv für die Pluralität in unserer Gesellschaft. Etwa, weil sie Diversität nicht nur als Marketing-Gag und optischen Trend verstehen, sondern als Ausgangspunkt und Ziel ihres Handelns setzen. Sie sind vielleicht nicht-systemrelevant. Doch gerade deshalb umso wichtiger. Sie gefährden vorgezeichnete Grenzen, ritualisierte Handlungen und althergebrachtes Relevanzdenken von Systemen. Und deshalb sind sie umso gefährdeter.

Wie kann also eine machtkritische Kulturpolitik aussehen? Das ist die Leitfrage dieses Essays. Und die Antwort ist so einfach wie komplex: Wir brauchen eine Kulturpolitik, die sich den Schutz und die Förderung marginalisierter Kulturen und Künstler*innen als Maxime setzt.

Eine machtkritische Kulturpolitik

Ich verstehe unter Macht nicht nur die bereits erwähnte Akkumulation ökonomischer und sozialer Ressourcen. Macht wirkt auch im Hintergrund, sie naturalisiert diskriminierende Ausschlüsse und Hierarchien und erhebt sie zu einer scheinbar unumstößlichen Norm. Eine machtkritische Kulturpolitik spürt daher zwangsläufig nach, wie diese Ausschlüsse zustande kommen. Wie wirken Kapitalismus, Sexismus, Ableismus, Rassismus, koloniale Kontinuitäten und andere Diskriminierungsstrukturen in der Kulturbranche zusammen? Welchen Anteil haben sie an der Gestaltung von Inhalten? An der Repräsentanz von Künstler*innen? Welche Themen werden durch diese Machtstrukturen legitimiert? Und welche gelten als irrelevant?

Diversität kommt in der Führungsriege des Humboldt-Forums übrigens nicht einmal als Marketing-Gag vor. Intendanz, Kuration und Leitung verantworten vier weiße Männer. Und damit befinden sie sich in der Kulturbranche in bester Gesellschaft. Ein Blick auf die Theaterhäuser zeigt etwa, dass rund drei Viertel in (meist weißer) Männerhand sind, während laut Zahlen des Deutschen Kulturrats Niedriglohnjobs wie des Soufflierens zu 80% weiblich besetzt sind.

Eine machtkritische Position darf sich jedoch nicht auf der Frage ausruhen, wie mehr nicht-weiße oder nicht-cis-männliche Personen etwa in die Führungsriege des Humboldt-Forums aufsteigen. Sie muss weiterbohren, unbequem werden: Warum strukturieren sich Kulturinstitutionen überhaupt derart hierarchisch? Entsteht so die beste Kunst? Die wichtigsten Diskurse? Die relevanteste Kultur? Überhaupt: Ist es gerechtfertigt, ein Projekt in kolonialer Tradition mit so viel Geld zu subventionieren?

Relevante neue Systeme

»Wie positionieren wir uns [als marginalisierte Künstler*innen] gegenüber von Macht?« Diese Frage stellte die bildende Künstlerin Moshtari Hilal kürzlich in einer Podiumsdiskussion. Das Gespräch drehte sich um Ausschlüsse marginalisierter Künstler*innen aus Institutionen. Um Fremdzuschreibungen und die Instrumentalisierung von rassifizierten Künstler*innen für rassistische Debatten. Um den Umgang mit antisemitischen, kapitalistischen Strukturen innerhalb der Kunstwelt. Auch Galerien, Theaterhäuser und andere Bühnen müssen sich positionieren. Sie brauchen eine konsequente Auseinandersetzung und einen konsequenten Bruch mit rassistischen, antisemitischen, heteronormativen, sexistischen, ableistischen, klassistischen Strukturen und Logiken. Sie müssen sich neuorientieren, vorgezeichnete Grenzen verlassen, ritualisierte Abläufe neu choreografieren und ihr eigenes System überdenken. Diese Arbeit kann nicht wie ein weiterer vertrockneter Kaugummi an marginalisierten Künstler*innen kleben bleiben.

Wenn Künstler*innen wie Hilal sich fragen, wie sie sich gegenüber von Macht positionieren – etwa mit welchen Institutionen sie zusammenarbeiten und wem sie ihre Kunst verkaufen wollen – müssen sie eine Chance haben, sich positionieren zu können. Sie brauchen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsmacht. Das erfordert einerseits ein Mitspracherecht auf allen Ebenen der Kulturpolitik, in den Institutionen, Jurys und Ministerien. Hilals Frage lässt sich jedoch andererseits kaum ohne den Blick auf ökonomische Freiheiten und Zwänge beantworten: Eine machtkritische Kulturpolitik braucht Allianzen, um die materiellen Verhältnisse in unserer Gesellschaft von Grund auf anders zu denken. Die Corona-Krise habe bewiesen, dass es höchste Zeit für ein bedingungsloses Grundeinkommen sei, kommentierte der Theatermacher Milo Rau in einem anderen Podiumsgespräch. Es sind Ideen wie diese, die Teil kulturpolitischer Reflexionen sein müssen, damit nicht nur Künstler*innen selbstbestimmt auf diese Fragen antworten können: Wie positionieren wir uns gegenüber von Macht? Welche Ausstellungen wollen wir? Welche Kunsträume brauchen wir? Wer gehört aktuell zum System? Und was ist für eine pluralistische Gesellschaft wirklich relevant?  

Autorin

Foto: Elif Küçük

Şeyda Kurt schreibt und spricht über Kultur, Politik und intersektionalen Feminismus. Als freie Journalistin arbeitet sie für unterschiedliche Print- und Onlinemedien (ZEIT Verlag, taz.die tageszeitung) sowie fürs Radio. Als Kuratorin war sie unter anderem für das Goethe-Institut und verschiedene Kulturveranstaltungen tätig. Sie gibt regelmäßig Workshops, etwa zum journalistischen Schreiben und zu diskriminierungssensibler Sprache. Im Frühjahr 2021 erscheint ihr Sachbuch Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist (HarperCollins).

Wer wirklichen Wandel will, braucht einen langen Atem!

11. Januar 2021

Die Pandemie macht die Unsicherheit und Dynamik unserer Zeit erfahrbar. Sie zwingt uns zur Auseinandersetzung mit den großen gesellschaftlichen Herausforderungen – sei es Klimawandel, Nachhaltigkeit, Digitalisierung oder gesellschaftlicher Zusammenhalt. Auch für Organisationen im Kulturbereich werden die damit einhergehenden Veränderungen immer stärker spürbar, beispielsweise durch Fragen neuer gesellschaftlicher Legitimation, digitaler Technologien oder dem Wunsch nach anderen Formen der Zusammenarbeit. Um dieser Dynamik nicht nur passiv ausgesetzt zu sein, sondern sie aktiv mitzugestalten, braucht es in den Organisationen tiefgreifende Transformationsprozesse. Die Geschwindigkeit, mit der Wandel grundsätzlich möglich ist, zeigt die teilweise rasante Anpassung der Arbeitsabläufe in der aktuellen Krise. Warum brauchen Veränderungen im Kulturbereich dann dennoch oft so lange? Neben vielen guten Ideen braucht es ein erweitertes Verständnis von Transformationsprozessen in Organisationen, mit dessen Hilfe genauer justiert werden kann, an welchen Stellen Innovation gefördert werden kann.

Wandel als Evolutionsprozess

Niklas Luhmann beschreibt in seinen organisationssoziologischen Arbeiten Wandel als evolutionären Prozess mit drei Stufen: Variation, Selektion und Re-Stabilisierung (Luhmann, Niklas. 2000. Organisation und Entscheidung. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag GmbH.). Mit dieser Dreiteilung lässt sich ein besseres Verständnis dafür gewinnen, warum gute Ideen und einzelne Veränderungen oft nicht zu wirklichen Veränderungen der Struktur und des Arbeitsalltags führen. Denn entscheidend für strukturelle Veränderungen ist erst die Re-Stabilisierung und Integration von Neuerungen in den Arbeitsalltag. Was heißt das konkret?

Variationen sind Abweichungen von bisherigen Routinen. Dabei spielt es keine Rolle, ob neue Ideen von Mitarbeiter*innen oder aus der Führungsebene kommen. Gleichwohl macht es einen entscheidenden Unterschied, ob das Ausprobieren neuer Ideen gefördert wird oder Abweichungen eher Skepsis hervorrufen. In Kultureinrichtungen mit starkem Traditionsbewusstsein und einem hohen Anspruch an Exzellenz werden Abweichungen von bestehenden Routinen oft eher als Störung wahrgenommen und sanktioniert. Mit der Konsequenz, dass sich Mitarbeiter*innen zweimal überlegen werden, eine neue Idee vorzuschlagen oder ein neues Projekt anzustoßen. Produktiver wäre es, Irritation zu fördern, den Austausch mit unterschiedlichen Akteur*innen innerhalb und außerhalb der eigenen Organisation zu suchen oder eine gesunde Fehlerkultur zu etablieren. Verläuft beispielsweise ein neues Digitalprojekt anders als gedacht (Variation), könnte das Projekt nach Abschluss in der internen Kommunikation als gescheitert kommuniziert und damit negativ selektiert werden. Eine innovationsfördernde Maßnahme wäre, differenzierter zu überlegen, welche Lerneffekte das Projekt und sein Verlauf haben können: Vielleicht hat die erstmals ins Leben gerufene Zusammenarbeit zwischen zwei Abteilungen besonders gut funktioniert? Konnten möglicherweise Erfahrungen mit der Nutzung neuer Technologien gesammelt werden? So findet eine positive Selektion einzelner Elemente statt, mit denen im Anschluss weitergearbeitet werden kann.

Doch erst wenn die Neuerungen auch tatsächlich in den Arbeitsalltag integriert werden, findet auch auf struktureller Ebene eine Veränderung statt (Re-Stabilisierung). Wenn beispielsweise die mit viel Aufwand entwickelte neue Nachhaltigkeitsstrategie zwar kommunikativ von der Leitungsebene genutzt wird, um die Organisation in einem guten Licht darzustellen, heißt das eben noch nicht, dass sich in der Breite der Organisation auch tatsächlich etwas verändert.

Innovation als sozialer Prozess

Es braucht also alle drei Stufen, um nicht nur einzelne Experimente zu ermöglichen, sondern einen strukturellen Wandel in Organisationen voranzutreiben. (1) Die Förderung neuer Ideen, die Irritation bestehender Routinen und das Schaffen von Räumen zum Experimentieren, (2) die bewusste Selektion und Weiterentwicklung der Variationen und (3) die Integration, also Re-Stabilisierungen, der Abweichungen in die Organisationsstrukturen. Erst dann werden Innovationen tatsächlich nachhaltig in der Organisation verankert.

Mit Blick auf die aktuelle Krise und die großen Herausforderungen unserer Zeit wird immer deutlicher, dass ein Zurück in eine vermeintliche stabile Vor-Krisen-Normalität unmöglich der richtige Weg sein kann. Kultureinrichtungen dürfen nicht nur passiv auf diese Transformationsprozesse reagieren, sondern müssen sie aktiv mitgestalten, evaluieren und weiterdenken. Dabei wird ihre Transformationskompetenz sowohl während als auch nach der Krise zentral sein, um weiter gesellschaftlich relevant zu bleiben.

Autor

Julian Stahl, Friedrichshafen

promoviert am WÜRTH Chair of Cultural Production bei Prof. Dr. Martin Tröndle an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen an den Schnittstellen von Organisationstheorie und Kulturmanagement und ist Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Darüber hinaus verantwortet er seit 2016 den Digitalbereich von PODIUM Esslingen und ist Host des PODIUM Podcasts.