Neu.
Relevant.
UND divers.
Das sind Adjektive, derer sich die Kulturpraxis gerne bedient. Ob derartige Beschreibungen zutreffen und wenn ja, aus wessen Perspektive, das sind Fragen, die ich mir beim Blick auf die deutschsprachige und größtenteils weiße Kunst- und Kulturszene regelmäßig stelle.
Neu? Vielleicht. Relevant – für wen? Divers – weshalb/inwiefern?
Dass ein Transformationsbedarf besteht, um Kunst und Kultur für verschiedene Gruppen relevant und zugänglich zu gestalten, steht für mich außer Frage. Die Frage danach, wie sich eine kulturpolitische Neuausrichtung gestalten ließe, bedarf allerdings einer eingehenden Auseinandersetzung. Meine Einschätzung dazu, was konkret getan werden muss, damit marginalisierte Gruppen in der Kulturpraxis sichtbarer und hörbarer werden, ist keine, die nicht schon viele betroffene Menschen vor mir vorgenommen hätten. Ich werde mich im Verlauf dieses Textes daran versuchen, über eine Handlungsanleitung hinaus meine Utopie für diese Freiräume zu formulieren.
Auf den ersten Blick mag es scheinen, als seien Utopien leicht zu formulieren, jedoch wenig zielführend. Aus meiner Perspektive ist es so, dass wir auch in der Kunst nichts anderes tun: Wir schaffen Möglichkeitsräume, um damit Perspektiven auf eine Welt zu öffnen, die zu gestalten immer wieder neu möglich ist. Wenn ich hier also meine Utopie formuliere, dann, weil ich davon überzeugt bin, dass sich innerhalb der schriftlichen Auseinandersetzung schon Strukturen und Arbeitsansätze etablieren lassen, die in der Praxis wünschenswert wären.
Kurz: Die Zukunft lässt sich beeinflussen, indem mensch die Utopie jetzt zu denken und zu formulieren vermag. Damit verlangt die Zukunft der Gegenwart stets viel ab.
Möglichkeitsräume zu imaginieren hat für mich also immer etwas mit Mut zu tun, nie mit Naivität. Mut in der Gegenwart, an den »äußersten Rand« (May Ayim, 1990, S. 92) des Möglichen zu gehen, um damit die bestmögliche Zukunft greifbar werden zu lassen. Diesen Mut sollten vor allem jene, die das Privileg haben, diese Räume und Arbeitswelten neu zu definieren, finden.
Mein Blick auf diesen Themenkomplex ist erneut ein privilegierter. Beinahe bin ich geneigt, mich als zu deutsch, zu reich, zu heteronormativ einzuordnen, um mich an diese Fragestellung zu wagen. Beinahe. Denn natürlich liegen auch für mich als junge Schwarze Frau, die sich in entsprechenden Kontexten bewegt, Betroffenheiten und Erfahrungswerte vor.
Einen meiner Erfahrungswerte hat Nayyirah Waheed bereits wie folgt auf den Punkt gebracht:
»in your arrogance
you presume that i want your
skinny language.
that my mouth is building
a room for
it
in the back of my throat. it is not.« (Nayyirah Waheed, salt., 2013)
In eurer Arroganz nehmt ihr an, dass ich eure dünne Sprache möchte. Dass mein Mund einen Raum dafür in seinem Rachen bildet. Er tut es nicht.
Dieses Zitat der afro-amerikanischen Poetin fasst meine persönlichen Erfahrungen im Kulturbetrieb perfekt zusammen. Es geht in diesem Zitat zwar ganz konkret um alltägliche Sprache – doch lässt es sich auch gut auf die Sprache, den Diskurs übertragen, auf den sich der deutschsprachige Kulturbetrieb geeinigt zu haben scheint.
Der normative Kulturbegriff ist innerhalb dieses Diskurses scheinbar immer noch Teil des Selbstverständnisses.
Das geltende Verständnis davon, was Kunst ist, wer sie wie in welchem Rahmen schafft und wer eben auch nicht, fußt auf der Annahme, es gäbe nur einen Diskurs, eine Sprache in der zu erschaffen ›richtige Kunst‹ möglich sei. Zu erwarten, Menschen mit verschiedensten Hintergründen, Realitäten und Betroffenheiten seien daran interessiert, sich in einem von einer homogenen Masse geformten Raum zu bewegen, den dort geltenden Regeln zu folgen und sich nach ihnen bewerten zu lassen, ist tatsächlich arrogant.
Davon auszugehen, dass sich nicht-weiße Künstler*innen an ein westliches Kunstverständnis anpassen und ihre Perspektiven dankbar in ein Narrativ zwängen, das sie in eindimensionaler Weise zeigt, ist absurd.
Zu glauben, dass die Aneignung von Worten, Praktiken und Ästhetik mit Freude aufgenommen und als Annäherung und respektvolle Begegnung wahrgenommen wird, ist sprechend. Es ist sprechend für das neokoloniale Gedankengut, dass viele weiße Menschen auch im Kulturbetrieb verinnerlicht haben.
Doch wie ist dem beizukommen?
Ich könnte jetzt vorschlagen, andere Gruppen in die Räume einzuladen, die staatlich gefördert werden, innerhalb derer mensch Kunst schaffen kann. Das sei wichtig, da Kunst sich immer denjenigen öffnen sollte, die eines Schutzraumes bedürfen.
Ich könnte an dieser Stelle außerdem formulieren, dass es unabdingbar ist, neue Stoffe auf die Spielpläne zu setzen, damit sich endlich auch die Geschichte(n) migrantischer Menschen auf den Bühnen wiederfinden.
Ich könnte fordern, die Leitungsebenen divers zu besetzen und die Regie- und Dramaturgie-Teams sowieso, damit die Machtgefälle endlich schrumpfen.
Ich könnte verlangen, dass es Workshops geben muss.
Und Expert*innen an jeder Kultureinrichtung, die dafür bezahlt werden, dass sie die Strukturen, auf denen die Diskriminierung(en) fußen, sichtbar machen und an ihrer Auflösung arbeiten. Sodass dadurch eine ganz direkte Umverteilung der (finanziellen) Ressourcen stattfinden könnte.
Dass für solche Umverteilungsprozesse zusätzliche Stellen geschaffen und besetzt! werden müssen, ergibt sich daraus ebenfalls.
Ich könnte auch formulieren, dass ich von Ausbildungsstätten erwarte, dass sie es sich zur Aufgabe machen, marginalisierende Strukturen zu erkennen und ihnen in Form von Quoten entgegenzuwirken.
Dass es IMMER mehrsprachige Angebote geben muss, dass sich auch künstlerische Studiengänge darum bemühen müssen, zugänglich für Menschen mit Fluchtgeschichte zu sein, dass Klassismus und intersektionale Betroffenheit immer eine Rolle dabei spielen, wie zugänglich (Ausbildungs-)Orte sind und deshalb stets beides mitgedacht werden muss; dass kulturelle Einrichtungen auch finanziell zugänglich sein müssen (und dass das nicht den Wert der Kunst mindert!); dass ein ermäßigtes Studierendenticket keine Lösung ist, sondern erneut Klassismus reproduziert; dass, dass, dass…
Das alles wurde aber schon oft formuliert.
Für mich ergibt sich: Eine Gesellschaft, die sich so zögerlich mit der eigenen Kolonialgeschichte und dem daraus resultierenden Rassismus auseinandersetzt, hat kein übergroßes Interesse an derartigen Veränderungen. Kulturpolitische Akteur*innen und Institutionen, die sich bezüglich der Rückgabe von Raubkunst so zurückhaltend oder gar unwillig zeigen, sind keine Instanz, der ich eine tatsächliche Auseinandersetzung zutraue.
Dennoch hoffe ich genau darauf.
Ich hoffe – oder bestehe auf meine Utopie, denn:
Ich werde keinen Raum mehr für euren dünnen Kunstbegriff in meinem Rachen oder in meinem Geist bilden.
Ich fordere ein Neudenken dessen, was Kunst ist. Eine neue Definition, die von all denen mitgestaltet wird, die sich vorher außerhalb des Rahmens bewegen mussten. Die sogenannten »Problemkinder«, die »Migrant*innen«, die »Armen«, die Nicht-binären und die Transpersonen, die, die be_hindert werden, die Rom*nja und Sinti*zze.
Weiße, bürgerliche, intellektuelle Kulturschaffende: Hört auf, den Raum zu vereinnahmen. Und dann gütig eine Nische zur Verfügung zu stellen, als gelte es, ›Entwicklungshilfe‹ zu leisten. UND als wüsstet ihr nicht, dass sich Kunst eben nicht in zugewiesenen Nischen schaffen lässt. Künstler*innen wissen doch am besten, dass sich Kunst Bahn brechen muss, Raum braucht, sich nie endgültig definieren lässt, sondern mäandert und immer wieder neu sein wird.
Mehr diverse Menschen in die bestehenden Räume einzuladen, kann helfen. Ihnen Raum zu geben, sie dort mit einzubeziehen, wo Entscheidungen getroffen werden und ihnen die Möglichkeit zu geben, Einfluss zu nehmen, ist sicher ein Teil der Lösung.
Wichtiger als all das ist jedoch das Eingeständnis, dass die Deutungshoheit darüber, was Kunst ist, sich nicht weiterhin auf eine privilegierte Klasse beschränken darf.
Da wo entschieden wird, welches Narrativ dominiert, da wo entschieden wird, wer diese Deutungshoheit innehat und da, wo die Entscheidung fällt, eine höchst subjektive, historisch gewachsene Wahrnehmung zum Maßstäbe dessen werden zu lassen, was zu bewerten niemals objektiv möglich ist, da stoßen wir auf die Wurzel des Problems.
Da stoßen wir auf White Supremacy.
Meine ganz banale Utopie ist also die Überwindung dieses Überlegenheitsgefühls. Die Dekolonialisierung des Geistes mit allem, was dazugehört.
Relevante Kunst entsteht da, wo Menschen Dinge verarbeiten, den Schmerz, die Wut, die Liebe mit Inbrunst zu etwas formen. An den Gefühlen und Erfahrungen herummeißeln.
Dieser Vorgang begegnet mir so viel mehr da, wo Menschen tatsächlich betroffen sind.
Der einzig schlüssige Weg, um der Kulturpraxis nicht ihre Relevanz abhandenkommen zu lassen, ist dorthin zu gehen, wo die Kunst passiert, die so oft übersehen wird. Und dort ein Theater zu bauen, dass den Schauspieler*innen und dem Schauspiel entspricht. Eine Konzerthalle für die Musik, der so oft die Musikalität aberkannt wird, die angeeignet, vereinnahmt und ausgebeutet wurde. Eine Fläche für die Performance, die für viele weiße Menschen nicht lesbar erscheint, bedient sie sich doch anderer Codes, einer anderen Sprache.
Also: Lernt eine neue Sprache.
Jede neue Sprache eröffnete ja bekanntlich eine neue Welt. Lernt eine neue Sprache. Lauscht aufmerksam auf die neuen Laute, habt Geduld, lasst euch Zeit zu erkennen, dass die neue Sprache nur neu für euch und mindestens genauso komplex ist, wie die, derer ihr euch sonst bedient.
Und verlernt die Arroganz, zu glauben, marginalisierte Menschen würden weiterhin Raum für euer Kunstverständnis und eure Begrifflichkeiten bilden.
Das tun wir nicht.
Unsere Sprache. Unsere Welt. Unsere Kunst.
Deutungsräume für alle.
Deutungshoheit für niemanden.
Autorin
Sarah Elisabeth Braun, (geb. 1997)
ist eine afro-deutsche Künstlerin und Aktivistin.
Sarah ist Mitbegründerin des BIPoC-Netzwerks und seit 2018 Regieassistentin am Theater Bonn.
Sie ist in verschiedenen politischen und /oder kulturellen Strukturen aktiv und arbeitet dort zu Rassismus, Klassismus, Feminismus und Intersektionalität. Der Fokus ihrer Arbeit in künstlerischen und in politischen Kontexten liegt darauf, migrantische und Schwarze Perspektiven sichtbar zu machen und zu stärken.