Eine gerechte und inklusive Stadt durch Kulturpolitik

27. April 2021

In der Serie Pretend It’s a City spricht die Autorin Fran Lebowitz mit Martin Scorsese in sieben Episoden darüber, was es für sie bedeutet, in New York City zu leben. In einer Folge sagt sie: »Wenn die Leute fragen: ›Warum lebst du in New York?‹, kannst du ihnen nicht wirklich antworten, außer dass du weißt, dass du Verachtung für Leute hast, die nicht den Mut dazu haben.«

Es erfordert Mut, in einer Stadt zu leben. Die Stadt ist eine Dauerprovokation. Die Stadt bringt jede*n Einzelne*n dazu, die eigenen Komfortzonen zu verlassen. Mit anderen Bewohner*innen der Stadt kann die einzige (offensichtliche) Gemeinsamkeit der zufällig selbe Wohnort sein. Aber gerade das stellt auch den Reiz dar, in einer Stadt zu leben.

Kultur ermöglicht Begegnungen

Dem Kontakt mit Fremdem wird eine wichtige Funktion in der persönlichen Entwicklung des Menschen zugesprochen. Es gehört zum Leben dazu, sich der Unvorhersehbarkeit auszusetzen und dem, was zunächst als ›anders‹ wahrgenommen wird, so lange zu begegnen, bis es vertraut wird. Kulturpolitik kann solche Begegnungen ermöglichen und vor allem kann sie sie unterstützen. Indem sie Räume schafft, in denen Menschen mutig sein können.

In den kommenden Monaten wird es kulturpolitisch weiterhin oberste Priorität haben, Künstler*innen, Projekten und Initiativen, die Räume der Begegnung und des Experiments schaffen, nicht nur finanziell den Rücken zu stärken. Doch bewahren und retten allein genügt nicht. Es gilt, insbesondere die Orte zu stärken, die durch ihre Niedrigschwelligkeit zur sozialen Inklusion beitragen und damit letztlich die Stadt gerechter machen.

Insbesondere in den Städten außerhalb von Metropolregionen, in Klein- und Mittelstädten, muss Kulturförderung einen höheren Stellenwert einnehmen. Fördermittel sind dabei natürlich hilfreich. Viel entscheidender ist es aber, Künstler*innen und Kultureinrichtungen bei kommunalpolitischen Fragestellungen einzubeziehen: Wie können wir die Stadt für mehr Menschen attraktiver machen? Was muss die Stadt Jugendlichen nach ihrem Schulabschluss bieten? Wie lässt sich der Leerstand in den Innenstädten begegnen? Wie können Partizipation und bürgerliches Engagement gefördert werden?

Auf all diese Fragen können Künstler*innen Antworten geben – durch Mut zum Experiment und durch unkonventionelle, agile Ansätze Es braucht allerdings den Willen der Verantwortlichen in Politik und Verwaltung, einen offenen Austausch mit den Künstler*innen zu suchen. Es braucht eine Haltung der Stadtverwaltung, die vorgibt: Ihr seid willkommen mit euren Ideen. Wir unterstützen euch bei der Umsetzung. Um gehört zu werden, muss aber auch der Kulturbereich über den eigenen Tellerrand hinausblicken und ganz gezielt und vorurteilsfrei Allianzen mit anderen Gesellschaftsbereichen suchen. Nun, da der Einzelhandel in vielen Innenstädten brach liegt und Leerstand grassiert, sind mehr denn je neue Ansätze an der Schnittstelle von Kultur- und Wirtschaftsförderung notwendig.

Stadtentwicklung mit der Kultur

Kultur darf in Kommunen nicht als nice to have gesehen werden, sondern muss sehr selbstverständlich in allen Prozessen der Stadtentwicklung mitgedacht werden. Dazu gehört, dass sich die bestehenden Kulturorte für die Stadtgesellschaft öffnen und gezielt in die Städte, Kieze und Nachbarschaften wirken. Beispielhaft ist das Berliner EFRE-Programm »Bibliotheken im Stadtteil« (BIST), das Projekte in öffentlichen Bibliotheken, die Partnerschaften in der Nachbarschaft schließen und dadurch neue Besucher*innen gewinnen, fördert. Das Neustart-Programm Kultursommer 2021 der Kulturstiftung des Bundes ermöglicht pandemiekonforme Projekte zur kulturellen Wiederbelebung der Städte. Es ist notwendig, solche an die Stadtgesellschaft gerichteten Förderprogramme zu eruieren und zu verstetigen.

Junge Menschen sollten konkret in die Ausgestaltungsprozesse vor Ort durch auf sie zugeschnittene Beteiligungsformate, wie zum Beispiel Jugendparlamente, eingebunden werden, um mit über das Konzept und die Ausgestaltung von neuen oder bestehende Kulturorten zu entscheiden. Dabei müssen vor allem aber nachhaltige, klimaneutrale Ansätze gefunden werden, die generationengerecht die Interessen der heutigen und zukünftigen Stadtmenschen abwägen. Auch hier können Kultur- und Kreativschaffende mit ihren Fähigkeiten in der Lösungsfindung einen wichtigen Beitrag leisten.

Margarete Stokowski plädiert in ihrer Spiegel-Kolumne »Erst die Wohnung renovieren, dann die ganze Stadt« für einen stadtpolitischen Ansatz, der nicht die Steigerung der Konsumangebote, sondern das Schaffen von Begegnungsorten im städtischen Umfeld an erster Stelle positioniert. »Wer Komfort [wie einen Toilettengang, Anm. D. Red.] will, muss meist konsumieren«, schreibt sie. Zugängliche Orte, an denen Menschen ihre Freizeit verbringen können, brauche es. Für diese Orte gibt es vor allem in den Klein- und Mittelstädten viel Raum, der erobert werden will.

Basale Kultureinrichtungen wie Öffentliche Bibliotheken, Musikschulen, Jugendkunstschulen und kommunale Museen, aber auch Volkshochschulen sind solche Orte, die Menschen von Klein bis Groß anregen, sich mit ihrer Umgebung zu befassen. Es sollte kommunalpolitischer Anspruch sein, diese Kulturorte so auszustatten, dass sie ihre Potenziale entfalten können – während der Krise und danach. Dass dies in vielen Bundesländern nicht allein durch kommunale Ressourcen funktionieren kann, liegt auf der Hand. Hier müssen die kommunalpolitisch Verantwortlichen sich ganz gezielt um Fördermittel für ihre Kulturorte bei den Ländern, beim Bund, aber auch bei der EU bemühen.

Insbesondere Bibliotheken wirken in die Stadtgesellschaft hinein. Sie ermöglichen Begegnungen in einem Raum, der von Vertrautheit geprägt ist, und sind Treffpunkt für Nachbarschaft und Kiez. Sie sind dabei viel mehr als Orte des Lesens und des Ausleihens von Büchern, sondern fungieren als Dritte Orte, in denen jede*r in gleichem Maße Zugang zu Bildung und Informationen hat. Durch das Treffen auf das/die Fremde/n in der Bibliothek sind Aushandlungsprozesse notwendig, die im besten Fall zu neuen Formen und Strukturen des Zusammenlebens und letztlich zu mehr sozialer Inklusion und Gerechtigkeit führen. Die Öffentliche Bibliothek steht in diesem Sinne charakteristisch für andere Kultureinrichtungen, die sich an die Stadtgesellschaft richten. Dabei sind die Mitarbeitenden in den Einrichtungen von zentraler Bedeutung. Sie sind die Seismografen für die gesellschaftliche Situation in der Stadt. Sie treffen auf Besucher*innen, die mit ihren Ängsten, Wünschen, Träumen und Hoffnungen in die Bibliothek, die Musikschule oder das städtische Museum kommen. Diese Stimmungen können die Mitarbeitenden in den Kultureinrichtungen wiederum in die Stadtgesellschaft transferieren.

Neue Relevanz für die Kulturpolitik in der Stadt

Wenn die Kulturpolitik sich dieser bestehenden Ressourcen bewusst ist und sie gezielt einbindet, entsteht #neueRelevanz. Sie entsteht, wenn Kulturpolitik sich uneingeschränkt dafür einsetzt, die Stadt inklusiver und gerechter zu gestalten und wenn sie ihre Forderung nach einer mutigen Stadtpolitik, die alle einbindet, auch in Fragen der Stadtentwicklung und Wirtschaftsförderung deutlich macht.



Autor

(c) Sabrina Weniger

Daniel Deppe hat in Lüneburg, Würzburg und Warschau Politikwissenschaft und Soziologie studiert. Seit 2020 koordiniert er in der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa ein Projekt zur Stärkung der Öffentlichen Bibliotheken auf europäischer Ebene im Rahmen der EU-Städteagenda und betreut in der EFRE-Strukturfondsförderung der Kulturverwaltung Berliner Kultureinrichtungen, insbesondere Öffentliche Bibliotheken, bei ihren Projektvorhaben. Davor war er u.a. als Projektmanager und im Projektcontrolling bei der Initiative Musik und dem Kompetenzzentrum für Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes tätig.

(R)Evolution statt Repetition!

22. April 2021

Von der Corona-Pandemie in den Schatten gestellt, ist und bleibt der Klimawandel trotz allem eines, wenn nicht das drängendste Thema unserer Zeit. Wir alle wissen, dass die nächsten neun Jahre entscheidend sind für den Verlauf des Klimawandels und alles darangesetzt werden muss, die Klimaziele 2030 zu erreichen. Im Rahmen unserer Masterarbeit haben wir uns seit Anfang 2020 intensiv mit Nachhaltigkeit in der Kultur auseinandergesetzt. Innerhalb unseres Forschungszeitraumes konnten wir beobachten, wie das Thema in verschiedenen Veranstaltungen, Kongressen, Web-Talk Reihen oder Nachhaltigkeitsforen zunehmend in den Mittelpunkt rückte und einen wachsenden Zuspruch seitens der Kulturschaffenden erfährt. Auffällig ist bis heute, dass der Wille, aktiv zu werden, bei den Teilnehmenden überwiegend sehr groß ist, ebenso aber auch die Ratlosigkeit über das Wie?.

Um diese Frage zu beantworten, braucht es dringend den Aufbau von Handlungswissen. Da in den öffentlich geförderten Institutionen vor allem die Leitungsebene Themen setzt, ist sie es, die einen entscheidenden Einfluss darauf hat, ob Nachhaltigkeit strukturell in das Haus integriert wird. An diesen Stellen müssen also Bewusstsein und Absicht vorhanden sein, nachhaltige Produktionsweisen voranzutreiben und zu implementieren. Die eigenen Überzeugungen und Denkmuster stellen dafür die entsprechenden Weichen.

Die Rolle der Ausbildung – »business as usual«?

Beim Blick zurück in unseren Studienverlaufsplan mussten wir feststellen, dass auch die nachkommenden Generationen von Kulturmanager*innen nicht für diese zukünftigen Herausforderungen ausgebildet werden. Bisher basiert – ähnlich wie in Kulturbetrieben – die Auseinandersetzung mit dem Thema immer noch größtenteils auf Eigeninitiative. Die Lehre verfolgt bisher das Credo »mehr, öfter, größer« – als wäre alles wie immer. Würden wir Grafiken zur Erderwärmung als Maßstab für unser Handeln setzen, wäre jede Form von business as usual unmöglich. Und das, obwohl wir im Diskurs bereits weit über den Punkt hinaus sind, an dem der Klimawandel und seine Konsequenzen Aspekte sind, mit denen man sich beschäftigen kann, sofern sie im eigenen Interessensbereich liegen.

Stattdessen sollte in der Ausbildung zukünftiger Kulturschaffender viel stärker hinterfragt werden, inwiefern bestehende Systeme und Strukturen noch zeitgemäß und mit der bevorstehenden Transformation vereinbar sind. Dabei wäre das Studium genau der richtige Ort, um sich mit der Bedeutung des Klimawandels für den Kulturbereich auseinanderzusetzen. 

Fragen, auf die es Antworten braucht

Hier könnte gefragt und erforscht werden, was der Klimawandel für das eigene Schaffen bedeutet oder welche Modelle es für nachhaltige Kulturproduktion gibt. Wie geraten Internationalität und Interkulturalität unter Einhaltung von CO2-Neutralität in keinen Widerspruch? Wie sehen die Orchester der Zukunft aus, wenn Touren rund um den Globus nicht mehr zum Alltag gehören? Wie sind hochwertige Produktionen ressourcenschonend möglich? Wie kommt man von Materialverschwendung zu Materialkreislauf?

Diese und andere Fragen müssen diskutiert werden! Dafür braucht es Raum für Experimente und Zeit zum Ausprobieren, Offenheit und Mut. Das Studium könnte ein Labor für solche Gedankenspiele und Beispielprojekte werden. Fehlende zeitliche und personelle Ressourcen sind unter anderem Gründe, die es Kulturinstitutionen erheblich erschweren, Nachhaltigkeit zu integrieren. Forschungsprojekte, die sich mit oben genannten Fragen beschäftigen, können hier wichtige Impulse für Kulturinstitutionen liefern.

Neben diesen grundlegenden Betrachtungen müssen auch fachliche Kompetenzen vermittelt werden. Zum Handwerkszeug aller Kulturmanager*innen sollte Wissen über nachhaltiges Wirtschaften im Rahmen des derzeitigen Vergabe- und Zuwendungsrecht gehören. Mittelfristig bedarf es in diesem Verwaltungsbereich selbstverständlich größerer Veränderungen durch eine (Kultur-)Politik, die Nachhaltigkeit aktiv fördert und unterstützt. Leider benötigen diese politischen Prozesse aber Zeit, deswegen ist es umso wichtiger, im bereits heute möglichen Rahmen Handlungsspielräume für Nachhaltigkeit wahrzunehmen.

Ebenso werden Datenerhebung und Reduzierung der eigenen Emissionen immer wichtiger werden. Ohne Status quo des Verbrauchs können keine Strategien zur Reduzierung ausgearbeitet werden. Welche Handlungsfelder und Stellschrauben in einem Kulturbetrieb bestehen, wie eine CO2-Bilanz erstellt und der eigene Verbrauch dokumentiert wird, sollten daher auch zu den Grundlagen des Studiums gehören. Denn es ist eine Frage der Zeit, bis auch Kulturinstitutionen Auflagen hinsichtlich der Einhaltung (ökologisch) nachhaltiger Kriterien gesetzt werden.

Utopien denken lernen

Kulturschaffende sehen sich heute mit der Nachhaltigkeitstransformation konfrontiert, zu der ihnen schlichtweg das Know-how fehlt. Veränderungen in den Curricula brauchen natürlich Zeit, aber für die Zukunft würden wir uns wünschen, dass die Ausbildungsinhalte nicht mehr dazu anleiten, die bestehenden Modelle zu repetieren. Stattdessen könnte die Lehre innovative Denkanstöße für die nachhaltige kulturelle Transformation geben. Es ist zu spät, sich erst im Berufsleben mit den Fragen von nachhaltiger Kunst- und Kulturproduktion auseinanderzusetzen. Nachhaltigkeit sollte keine Option mehr sein, sondern das Fundament, auf das eine zukunftsfähige Kulturbranche aufbaut.

Der Klimawandel gehört sicherlich zu einer der herausforderndsten Aufgabe der Menschheit. Aber genau in der Findung von kreativen Lösungen steckt bekanntlich die Stärke von Kunst und Kultur: Utopien denken, Fragen stellen und Experimente wagen, sind schließlich Kernkompetenzen von Künstler*innen und Kulturschaffenden. Warum also nicht daran anknüpfen und der Frage nach dem Wie? mit zukunftsfähigen und mutigen Ideen begegnen?



Autorinnen

(c) Magdalena Waller

Vera Hefele und Teresa Trunk lernten sich im Masterstudium Kultur- und Musikmanagement an der Hochschule für Musik und Theater München kennen. Neben ihrer Tätigkeit als Kulturmanagerinnen setzen sie sich seit ihrer Masterarbeit mit dem Thema Nachhaltigkeit in der Kultur auseinander. Im Jahr 2020 gründeten sie gemeinsam das Projektbüro WHAT IF für nachhaltige Kultur

Nahhalt und Nachhaltigkeit: Verstehen und Erklären

15. April 2021

Warum wir uns gerade in der Krise mit Nachhaltigkeit beschäftigen müssen

Kein Text zu den wichtigsten gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen könnte heute geschrieben werden, ohne auf den Bruch in unserer Geschichte einzugehen, den die weltweite Pandemie als Naturkatastrophe ausgelöst hat. Die Langzeitfolgen lassen sich heute nur schwer prognostizieren, sicher scheint aber, dass die Auswirkungen in vielen Ländern und Gesellschaften noch jahrzehntelang und in ganz unterschiedlichen Bereichen spürbar sein werden – in Wirtschaft und im Sozialwesen, in der Bildung und auch in der Kultur.

Gleichzeitig erkennen wir, dass die Lockdown-Regelungen in Deutschland an einigen Stellen etwas geöffnet haben, Verkrustungen und Verhärtungen gelöst wurden und Unvorstellbares innerhalb kürzester Zeit möglich schien. Die Digitalisierung hat einen Schub erfahren. Menschen sind – zumindest virtuell – näher zusammengerückt, obwohl sie sich weiter denn je voneinander entfernen mussten. Bürger*innen in vielen Ländern haben gezeigt, dass sie bereit sind, auf jahrhundertelang umkämpfte Freiheitsrechte zu verzichten, um ein höheres Ziel zu verfolgen: die Eindämmung der Pandemie. Ist es also möglich, dass sich in unserer Gegenwart eine Verhaltensänderung Bahn bricht, die große Teile der Wissenschaft schon seit mindestens den 1970er Jahren einfordern? Nämlich: ein tatsächliches Umdenken hin zu einer nachhaltigeren Lebensweise?

Trotz einiger weniger Initiativen und Publikationen, zum Beispiel derer der Kulturpolitischen Gesellschaft, insbesondere der von Hildegard Kurt und Bernd Wagner, verhandeln wir einen Nachhaltigkeitsdiskurs in Kunst und Kultur erst seit wenigen Jahren. Dazugehörige große Narrative werden womöglich später (nach der Krise?) in den Künsten entwickelt. Warum?

In Grenzsituationen öffnen sich unsere Seelen

Nachhaltigkeit ist ein sperriger Begriff und lässt sich kaum in unser emotionales Verständnis übersetzen. Der Philosoph Karl Jaspers hat, Bezug nehmend auf seinen Kollegen Wilhelm Dilthey ( »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir« 1924: 144), die Naturwissenschaft in ihrer Eigenschaft des Erklärens von den Geisteswissenschaften als verstehende Lehre und Forschung unterschieden. Jaspers, der sich in seiner Philosophie insbesondere mit den Grenzen des Seins beschäftigte, stellte weiter fest: Erklären ließe sich alles. Oder: Dem Erklären sind keine Grenzen gesetzt. Das Verstehen allerdings sei begrenzt (z.B. durch die Grenzen der Einfühlbarkeit). Die Grenzen des Verstehens gelte es immer wieder zu erweitern. Unsere Seele werde offen an den Grenzen, hier könnten wir untersuchen, was wir der Möglichkeit nach selber sind (siehe u.a. Karl Jaspers: »Allgemeine Psychopathologie« 1913, »Die Psychologie der Weltanschauungen« 1919, »Einführung in die Philosohie« 1950).

In Bezug auf Nachhaltigkeit heißt das, die Naturwissenschaften haben den Zustand der Umwelt und die Dringlichkeit zum nachhaltigen Denken und Handeln längst erklärt und die entsprechenden Ableitungen zu weiteren Entwicklungen publik gemacht. Wir hingegen haben diese Erkenntnisse noch nicht in der Art verstanden, als dass wir dringend notwendige Veränderungen in unserer Lebensweise vornehmen würden. Der Philosoph David Hume nahm an, die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung würde man nicht durch Vernunft, sondern durch Erfahrung entdecken – folglich würde menschliches Verhalten in erster Linie durch Gefühle und Affekte gesteuert. Humes Ansatz hält als Erklärung für den Umstand her, dass sich eine nachhaltige Lebensweise, wie sie bereits viele Jahre von den Wissenschaftler*innen gefordert wird, noch nicht ausreichend aus der Vernunft heraus durchsetzen konnte.

Kunst und Kultur im Nahbereich

Wie sollten wir uns auch einfühlen können in Ereignisse, die doch – zumindest für uns in Deutschland – oft in so weiter Ferne, also außerhalb unseren unmittelbaren Alltages liegen? Wenn sich Veränderungen direkt in unserem Nahbereich, also in dem, was wir mitunter auch als Heimat verstehen, in einem Ausmaß abzeichnen, dass wir sie nicht mehr unbemerkt lassen können (etwa: Dürreperioden, Abnahme der Artenvielfalt oder Armut), würden wir beginnen unseren Nahhalt, das, was uns im Nahen hält, sichern zu wollen. Aus diesem Bedürfnis würden sich Veränderungen ganz natürlich ergeben entstehen – gerade um das, was war und ist, zu bewahren. 

Unser Nahhalt hat freilich mit Kunst und Kultur zu tun, denn diese wirken direkt hinein. Über künstlerische Erlebnisse finden Verbindungs- und Verständnisprozesse statt und unser Mitgefühl wird angeregt. Der bereits erwähnte David Hume hat darauf hingewiesen, dass Mitgefühl gleichrangig zur Vernunft die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens bestimmt. Wenn sich Kunst und Kultur mit Nachhaltigkeit beschäftigen – und diese Entwicklung lässt sich glücklicherweise derzeit an vielen Initiativen und künstlerischen Projekten erkennen – dann kann es uns gelingen, in den Nahbereich der Menschen hineinzuwirken, Mitgefühl zu wecken und Verstehensprozesse anzuregen und die Dringlichkeit von Nachhaltigkeit dauerhaft anzulegen. Verstärkt wirkt dieser Vorgang durch die Krise, wie wir sie derzeit erleben. In dieser Grenzsituation öffnen wir unsere Seelen, erweitern unser Verstehen und können zukünftig die Grundlage für einen anderen Umgang mit dem ermöglichen, was uns die Naturwissenschaften bereits als Problem erklärt haben: dem Klimawandel.

Wandel im Nötigen – Anknüpfung an Bewährtes

An einigen Stellen kann man (noch) Skepsis hören gegenüber strukturellen Veränderungen im Kulturbereich: Die Unvereinbarkeit von Nachhaltigkeit und Kunstfreiheit wird postuliert. Die Vermutung, dass der eigene Sektor bei Umweltbelastungen im Vergleich zu anderen Sektoren unbedeutend sei. Aspekte wie Kostensteigerung oder rechtliche Hürden und Hindernisse etwa im Vergaberecht.

Erstes Argument ist ein vorgeschobenes, denn niemand stellt in Bezug auf Nachhaltigkeit die Kunstfreiheit in Frage. Diese Frage werfen eher diejenigen auf, die unter Nachhaltigkeit vorschnell Verzicht oder Einschränkung verstehen, anstatt eine kritisch abwägende Haltung zum Einsatz von Ressourcen. Zweites Argument mag zutreffen, kann aber doch nicht weiterführend sein, wenn Nachhaltigkeit eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung ist und jede*n von uns betrifft. Kostensteigerungen sind womöglich kurzfristig tatsächlich zu erwarten, können aber langfristig zu Kostenminderungen führen. Weitere Hindernisse und Hürden werden bereits in Angriff genommen, beispielsweise gibt es schon interne Überlegungen, wie das Vergaberecht im Hinblick auf nachhaltige Aspekte verändert werden muss. 

Wichtig ist, sich in eine ehrliche Selbstbefragung zu begeben, keine vorgeschobenen Gründe gelten zu lassen, und vielmehr zu schauen: Was ist möglich und was nicht? Etwa: Trennen wir Müll im Theater? Wie sieht die Mobilität in meiner Kultureinrichtung aus? Wo könnten kleine Veränderungen vorgenommen werden, und wo große? Und: Wie kann meine Kultureinrichtung zu einem gemeinsamen Ziel, nämlich dem zukünftigen guten Leben für alle, beitragen?

Den gesamtgesellschaftlichen Wandel mitzugestalten und im Nahhalt zu wirken, liegt auch in der Verantwortung von Kunst und Kultur. Dabei sollte immer hinterfragt werden, was gut ist und was erhalten bleiben muss. Wir müssen an dem anknüpfen, was bereits war und das Nötige dafür vornehmen, um besser als bisher zu werden. Erst dann kann Kultur ihre Aufgabe erfüllen und die »Beschaffung einer Vorstellung von den Fernwirkungen« (Hans Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 1979) mit dem unentbehrlichen Handeln im Nahbereich verknüpfen.     



Autorin

(c) Ulrike Cadot-Knorr

Juliane Moschell ist Abteilungsleiterin Kunst und Kultur in der Landeshauptstadt Dresden, studierte Medienwissenschaft und Neuere Deutsche Literatur in Marburg sowie Kulturmanagement in Hamburg und arbeitete an Theatern in Koblenz, Frankfurt/M und Dresden. Seit 2017 ist sie tätig für das Amt für Kultur und Denkmalschutz. Nachhaltigkeit hat sie in die Kulturentwicklungsplanung Dresdens eingebracht und leitet das vom Rat für Nachhaltige Entwicklung geförderte Projekt Culture for Future.  

New Culture Deal

6. April 2021

Anmerkungen für eine neue Kulturpraxis in den Darstellenden Künsten

In der aktuellen, einzigartigen Situation zeigt sich der Wert von Kunst und Kultur für unsere Gesellschaft wie nie zu vor. Die Krise ermöglicht uns gleichzeitig einen Moment des Innehaltens und Reflektierens, des Abstands. Wir können eine ehrliche Bestandsaufnahme wagen. Denn die Corona-Pandemie hat die Lage der Kulturschaffenden im Bereich der Darstellenden Künste, insbesondere der freiberuflichen Künstler:innen, in ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein gerückt. Zahlreiche Fehlstellen, die bereits vor der Pandemie deutlich waren, treten hierbei umso klarer hervor: Die vernachlässigte Modernisierung der Betriebs- und Arbeitsstrukturen in den institutionalisierten Theatern, die nicht auf die Lebensrealität abgestimmte Gesetzgebung für freischaffende Künstler:innen mit ständig wechselnden Beschäftigungsformen, den lückenhaften und schwachen Tarifvertrag für künstlerische Mitarbeiter:innen. Seit Jahren bemühen sich etablierte Interessenverbände der Kulturschaffenden, die Entscheidungsträger:innen in der Politik, die Träger kultureller Einrichtungen und die Gewerkschaft mit Handlungsempfehlungen zu versorgen und das Theaterpublikum für ihre Bedürfnisse und widersprüchlichen Arbeitsrealitäten zu sensibilisieren.

Die Krise als Chance!

In der Krise haben alle Stakeholder wie Mitarbeiter:innen, Communities, Zuschauer:innen und Interessenverbände der Darstellenden Künste die Möglichkeit, ihre Kräfte zu bündeln und gemeinsam eine Absicht zur verfolgen: Die Transformation in eine relevante Kulturpraxis. Dem Wunsch, nach der Pandemie in eine ›Normalität‹ zurückzukehren, alles beim Alten zu belassen, lehnen wir entschieden ab – das Letzte, was wir tun sollten, wäre, alles wieder genauso so zu machen, wie wir es vor der Pandemie getan haben. Doch wie können wir den historischen Moment der Krise nutzen, um die Theaterwelt zu transformieren? Welche Maßnahmen müssen wir entwickeln, damit Arbeitnehmer:innen, Vertreter:innen, Freischaffenden oder Theaterinstitutionen die notwendigen Kapazitäten, Mittel, Einkommen und Instrumente zur Verfügung haben?

Im Folgenden werden wir drei Punkte beleuchten: Die Notwendigkeit, dass darstellende Künstler:innen besser über ihre Rechte fortgebildet werden. Das Erfordernis, dass Kulturorganisationen ihre Betriebs- und Arbeitsstrukturen modernisieren. Und die Pflicht, dass die Gesetzgebung die besonderen Arbeitsvoraussetzungen und Bedingungen der darstellenden Künstler:innen – insbesondere der freischaffenden darstellenden Künstler:innen – besser widerspiegelt.

1) Darstellende Künstler:innen müssen besser über Rechte fortgebildet werden!

Das neue New York ist die hybride Interessenorganisation
Die Gründung von neuen Netzwerken und Interessenvertretungen ist laut der Soziologin Dr. Alexandra Manske »Ausdruck einer neuen, kreativen Mitbestimmungsfantasie«. Hier vernetzen sich Künstler:innen in etablierten Interessenverbänden, hier bilden sie sich fort, um ihre Ziele zu formulieren. Sie lösen die etablierten Gewerkschaften – allen voran die GDBA – zwar nicht ab, aber können als Symptom einer Gewerkschaftsvertretung gesehen werden, die die besonderen Arbeitsbedingungen von künstlerischen Berufen nur mangelhaft erfasst hat. Durch die kontinuierliche Bildungsarbeit der Interessenverbände mit Veranstaltungen wie UTOPIA.JETZT: Der Bundeskongress der freien Darstellenden Künste (BFDK) der Bundesweiten Ensemble-Versammlung (ensemble-netzwerk) oder der digitalen Fortbildungsreihe out and about (dancers connect) ist das Bildungsniveau der darstellenden Künstler:innen deutlich gestiegen. Sie nutzen das Wissen und nehmen die Rolle von Kulturlobbyist:innen ein, die meist mit ihren ästhetischen Mitteln für ihre Bedürfnisse kämpfen. Sie üben Demokratie und Selbstwirksamkeit mit Aktionen wie 40.000 Theatermitarbeiter:innen treffen ihre Abgeordnete, die mit dem FAUST Theaterpreis ausgezeichnet wurde, oder mit der Verleihung des Bühnenheld:innen Preises des Aktionsbündnisses Darstellende Künste.

Politik, Theaterbetriebe und Bildungseinrichtungen müssen erkennen, dass die politische Bildung, das zunehmende sozialpolitische Engagement und Eigenverantwortung für verbesserte Arbeitsbedingungen eine entscheidende Voraussetzung darstellt für die Vitalität und Qualität des kulturellen Lebens in unserem Land – und deshalb im Interesse aller liegt!

Daher sind folgende Schritte notwendig:
– Der Aufbau eines Weiterbildungszentrums für Fragen des Arbeitsrechts, Ethik und Soziales für den Bereich der Darstellenden Künste und die gesamte Kultur- und Veranstaltungsbranche

– Aufbau digitaler Bildungsformate und Bildungskonferenzen der Darstellenden Künste in enger Zusammenarbeit mit relevanten Kulturschaffenden und Vermittler:innen der Darstellenden Künste

– Die Einbeziehung von mehr fachbezogenen Exper:tinnen bei der Besetzung von Leitungspositionen als verpflichtenden Bestandteil von Findungskommissionen und Auswahlgremien

2) Etablierte Kulturorganisationen brauchen Unterstützung durch Know-how und finanzielle Mittel zur Modernisierung ihrer Betriebs- und Arbeitsstrukturen!

Transformationsbedarfe in den Kulturorganisationen
Prof. Dr. Thomas Schmidt bietet in seiner Forschung zu modernem Theatermanagement Ansätze für die Ausrichtung einer modernen künstlerischen Organisation, die die künstlerische Qualität und das kreative Potenzial ihrer Mitarbeiter:innen besser erkennt und fördert. Er beschreibt, dass eine zukunftsweisende Transformation nur gelingen kann, wenn die Kulturminister:innen und Kulturämter der Kommunen ihre Regeln, Verwaltungsvorschriften und Finanzierungsklauseln lockern und Prozesse der Transformation finanziell fördern. Sie müssen den Theaterinstitutionen ermöglichen, ihren Betrieb im Sinne der Wirksamkeit, Nachhaltigkeit, Zukunftsfähigkeit und Stabilität besser zu führen.

Die Handlungsempfehlungen von Schmidt aufzugreifen, hieße:
– Die Transformation des bestehenden Intendantenmodells hin zu dem Modell eines Direktoriums (entsprechend den künstlerischen Sparten)

– Die Transformation der Organisationskultur der Stadttheater hin zu einer kreativen Multi-Funktions-Organisation

– Die Umgestaltung des Theaters in eine lernende Organisation, in der »Lernen gefördert und belohnt, und vor allem dafür eingesetzt wird, strukturelles, konzeptionelles und praktisches Wissen für einen Umbau des Theaters zu sammeln und allen Mitarbeiter:innen dauerhaft zur Verfügung zu stellen« [1]

Entscheidend ist der Gedanke, dass die Qualität von Kunst und seiner Wirkung wesentlich bestimmt wird durch gegenseitigen Respekt und kommunikatives Geschick der am künstlerischen Schaffen Beteiligten. Dieser Aspekt, der zwar nicht allein, aber sicherlich mitentscheidend für das künstlerische Gelingen ist, wurde in der Vergangenheit zu wenig bedacht. Eine Transformation der künstlerischen Praxis hätte den Einfluss, die Kommunikationsstrukturen im Sinne eines stärkeren Miteinanders auch in den komplexen Verhältnissen einer Kulturinstitution besser zu gestalten.

Konkret könnte dies heißen: Es braucht ein Theaterlabor, das in den kommenden fünf Jahren von Bund und Ländern in ausreichender Weise gefördert wird, um zukunftsfähige Modelle in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler:innen zu erproben, zu evaluieren und die Erkenntnisse den bundesweiten Theatern und ihren Trägern zur Verfügung zu stellen. 

3) Die Gesetzgebung muss die Arbeitsrealitäten der darstellenden Künstler:innen widerspiegeln!

Hybride Was?
Freiberufliche Künstler:innen sowie Kunstschaffende mit hybridem Erwerbsstatus, die sowohl in freien als auch in institutionellen Strukturen arbeiten, sind am härtesten von der Pandemie betroffen. Gerade diese Gruppe hat in den letzten Jahrzehnten für einen erheblichen künstlerischen Innovationsschub in der freien Szene und am Stadttheater gesorgt – und das bei einem Durchschnittseinkommen von knapp 14.000 Euro im Jahr. Die Erfahrungen, die diese Gruppe in der Krise macht, legen gleich mehrere systemische Fehlstellen offen: Gastdarsteller:innen an öffentlich geförderten Theatern wurden bei abgesagten Vorstellungen und Projekten nur zu einem geringen Teil oder gar nicht entlohnt. Ihr ungeklärter Status – sozialversicherungsrechtlich angestellt aber arbeitsrechtlich selbständig behandelt – sowie ein reformbedürftiger Gastvertrag an den Theatern erlauben diese Praxis. Die Soforthilfemaßnahmen zeigen, wie wenig Kenntnis die Bundes- und Landespolitik über den Erwerbstatus und die Arbeitsrealität von Solo-Selbstständigen oder hybrid arbeitenden Künstler:innen besitzt, und dass die gesetzlichen Regelwerke an der Arbeitsrealität dieser Gruppe häufig vorbei gehen.

Hier könnte ein Lösungsansatz sein:
– Zusammenarbeit stiften zwischen verschiedenen Stakeholdern wie dem Ministerium für Arbeit und Soziales (Gesetzliche Regelungen) und den etablierten Interessenverbänden (Branchenkenntnis) unter Einbeziehung von Wissenschaftler:innen (Fakten und Daten)

– Aus diesen Synergien einen fundierten Maßnahmenkatalog entwickeln, der die hybride Arbeitsrealität der freischaffend arbeitenden Künstler:innen anerkennt

– Nutzbarmachung dieser Ergebnisse durch den Gesetzgeber, um tatsächliche Verbesserungen in den Bereichen Arbeitsrecht, Sozialrecht und Steuerrecht zu erwirken

Es braucht neue Modelle und einen NEW CULTURE DEAL

Der Soziologe Pascal Gielen macht bereits vor der Corona-Krise ein gedankliches Angebot für einen Bewusstseinswandel im Sinne der Transformation der Künste. Er fragt, auf welcher Basis gesellschaftliches Miteinander möglich sein kann. Seine These: Nicht die Ökonomie ist die Basis, auf der Kultur möglich ist, sondern die Kultur ist die Basis, auf der Ökonomie möglich ist. Kultur schaffe eine Vertrauensbasis unter Individuen und damit eine Basis für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Kulturelle Praxis sei das Fundament und der Kitt der Gesellschaft. Insofern braucht Deutschland, folgen wir Gielens These, einen New Culture Deal, der ein grundlegenderes Selbstverständnis und die Anerkennung des kulturellen Lebens voraussetzt, also Strukturen und Angebote schafft für eine lebendige, partizipative, kulturelle Vielfalt ermöglichende und vermittelnde Kulturpraxis – insbesondere jenseits der etablierten Kunsttempel.

Tatsächlich scheint aktuell aber das Gegenteil der Fall zu sein. In der Pandemie werden Kultur und Kulturelle Bildung plötzlich wieder unter den Sammelbegriff »Freizeitaktivität« subsumiert. Erste Kommunen setzen in Anbetracht drastisch gesunkener Einnahmen bereits den Rotstift bei den freiwilligen Ausgaben für Kunst, Kultur und Bildung an. Um das Theater als Kulturinstitution und potentiell immaterielles kulturelles Erbe zu erhalten, besteht aktuell mehr denn je dringender Handlungsbedarf.

Deshalb schlagen wir vor:
– Wertschätzung und Förderung der Kultur als ein zentraler Bereich unserer Gesellschaft, der für seine Erhaltung und vor allem in seinem dringenden Reformbedarf mit öffentlichen Mitteln unterstützt wird

– Für die Kommunen muss es ein finanzielles Entlastungprogramm aus dem Bundeshaushalt geben – ähnlich dem DigitalPakt Schule, der eine Mitfinanzierung der Bildung durch den Bund ermöglicht, ohne in die Bildungsautonomie der Länder einzugreifen

– Kulturförderung muss zur Pflichtaufgabe aller Ebenen der Politik (Kommune, Land, Bund) werden. Als ein wichtiger Schritt dafür wird eine entsprechende Verankerung im Grundgesetz angesehen

– Ein solches Kooperationsgebot muss als KulturPakt mit der Verpflichtung der Kommunen einhergehen, das Geld zweckgebunden in Kultur und Bildung zu investieren und gleichzeitig ihre Eigenanteile zu leisten

Die notwendige Transformation erfordert von allen Akteur:innen eine enge Zusammenarbeit und Offenheit zur Veränderung bisheriger Verhaltensmuster und Strukturen. Diese wäre eine angemessene Antwort nicht nur auf die Corona-Krise, sondern auf die grundlegenden Änderungen des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens jetzt und in Zukunft.

[1] Schmidt, Thomas (2020): Modernes Management im Theater, Wiesbaden: Springer VS, Seite 30.


Autor*innen

(c) Sandra Then
(c) Andreas Thamme

Anica Happich, Schauspielerin, Künstlerin und kulturpolitische Akteurin, die an öffentlich geförderten Theatern, Institutionen der freien Szene und als Filmschauspielerin tätig ist. Als kulturpolitische Aktivistin arbeitet sie im Spannungsfeld der künstlerischen Praxis und bildungspolitischen Arbeit für die Bedeutung und die Belange der Darstellenden Künste u.a. im jungen ensemble-netzwerk sowie dem ensemble-netzwerk e.V. Als Schauspielerin war sie bis 2020 am Theater Basel engagiert.


Jakob Arnold, Regisseur, Autor und Dozent. Er arbeitet an Landes- und Stadttheatern in ganz Deutschland. An der Folkwang Universität der Künste hat er Lehraufträge für Schauspiel und Regie inne. Gemeinsam mit Anica Happich gründete er 2016 das junge ensemble-netzwerk

Vergesst die Relevanz

1. April 2021

Verfängliche Legitimierungsstrategien in Zeiten der Pandemie

Nicht erst seit Beginn der Pandemie ist »Relevanz« zu einem Zentralbegriff zur Beurteilung von künstlerischer Qualität avanciert. Aber ist er selbst in kategorialer Hinsicht überhaupt relevant für die künstlerische Praxis? Und ist die dieser Tage reflexhaft ins Feld geführte Relevanz, ob alt oder neu, das richtige Antidot für das Odiosum der »Systemrelevanz«?

Eine nicht eben subtil verstandene »Relevanz« wird schon seit Jahren als Grundkriterium bei der Beurteilung künstlerischer Werke jeglicher Art bemüht.

Die Verwendung dieses Kriteriums unterstellt nicht selten, dass genuin künstlerische Qualitäten nicht nur irrelevant sind, sondern mangelnde Relevanz regelrecht indizieren. Gleichermaßen erweist sich immer wieder, dass Relevanz nichts anderes bedeutet als – am liebsten offen zur Schau gestellter – aktualpolitischer Geltungsanspruch. In dieser reflexiven Verkürzung hat Relevanz weniger mit künstlerischer Aussagekraft zu tun als das Nilpferd mit dem Ballett: Kunst soll der Oppositionspartei die ideelle Reklame, soll dem Feuilleton das kontrollierte Skandalon, soll dem Publikum die klare Aussage liefern, damit sie es verstanden haben und im Bewusstsein der eigenen moralischen Überlegenheit von dannen schreiten kann.

Folgt das Urteil außerästhetischen, nämlich kunstfremden Kriterien, gibt es gewissermaßen das Innerste der Kultur preis und lizenziert den Verzicht auf deren eigengesetzliches Existenzrecht. Es erscheint nur auf den ersten Blick paradox, dass die derart auf realpolitischen Widerstand eingeschworene Kulturproduktion – da sie ihre ureigene formale Widerständigkeit verliert – in letzter Konsequenz von politischen Agenden vereinnahmt wird und nicht selten einer konformistischen Kurzlebigkeit anheimfällt.

Nachdem nun die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie verabschiedet und damit Kulturveranstaltungen im öffentlichen Raum untersagt wurden, brachten viele Kulturschaffende Protest und Bestürzung zum Ausdruck – ob in kleinen Video-, Bild- und Textbeiträgen im Internet, in großangelegten Aktionen oder aber in Zeitungskommentaren. Unter den letzteren befanden sich nicht wenige gutgemeinte Legitimierungsversuche des Kulturbetriebs, welche unterstrichen, dass Kunst und Kultur einen Bildungsauftrag erfüllten, Aufklärungsarbeit leisteten, in schweren Zeiten erbaulich wirkten, das Gemeinschaftsgefühl stärkten und den gerade jetzt so vermissten persönlichen Austausch förderten – kurzum, dass sie relevant und systemrelevant seien.

Es zu vermuten, dass solche Rechtfertigungen von Kulturtätigen in erster Linie gegen außen vertreten werden

indem sie die pragmatistische Logik der Führungsriege übernehmen, der die fundamentale Unverzichtbarkeit von Kunst offenbar alles andere als evident ist. So verständlich dieses legitimatorische Ansinnen auch sein mag, verkauft es Kunst, indem es ein erratisches Wertesystem reproduziert, weit unter Wert – und wirft uns so zurück auf die schnöde Intranszendenz jener Alltagslogiken, welche zu übersteigen künstlerische Arbeit gerade berufen ist.

Dass eine solche Selbsterniedrigung der Kulturwelt überhaupt vonnöten zu sein scheint, ist zwar keineswegs neu; aufs Neue demonstriert sie jedoch das desaströse Ausmaß der vorherrschenden kategorialen Verkehrung: Kunst als Mittel zu einem vermeintlich übergeordneten, wichtigeren, bestenfalls ›handfesten‹ Zweck zu begreifen. Doch Kunst ist nicht für etwas Anderes da, für Politik, Demokratie, Umwelt, Bildung oder Gesundheit – auch wenn sie auf allen diesen Terrains Großes leisten kann.

Nein: Kunst gehört zu den wenigen Aspekten unseres Lebens, die sich außerhalb von dessen inhärenten Erfordernissen und Zwängen konstituieren, den Sinn also nicht aus diesen beziehen, sondern wirklichen Sinn überhaupt erst zu stiften vermögen. Wir brauchen Kunst nicht für etwas – sondern für uns. Jede andere Begründung ist nichts als ein Zugeständnis an horizontbeschränkte Zweckrationalitäten.

Die Existenz und Bedeutung von Kunst muss nicht begründet werden. Vielmehr müssten kulturfeindliche Tendenzen in einer Kulturgesellschaft unter Rechtfertigungsdruck stehen: Wenn Kunst aus Sicht eines Systems nicht relevant ist, dann sollte man dringend nach der Relevanz dieses Systems aus Sicht der Kunst fragen.



Autor

(c) privat

Alexander Estis, 1986 in Moskau geboren, lehrte nach dem Studium deutsche Literatur an verschiedenen Universitäten. Seit 2016 lebt er als freier Autor in Aarau. Seine Texte werden in Anthologien, Zeitschriften und Zeitungen publiziert; zuletzt erschien das Handwörterbuch der russischen Seele bei der Parasitenpresse Köln.

Die größte Krise seit Jahrzehnten

31. März 2021

In den Ankündigungen zum »Lockdown Light« im November 2020 wurden Theater, Opern- oder Konzerthäuser in einem Atemzug mit Spielhallen, Wettannahmeeinrichtungen und Bordellen genannt. Auf solche »Unterhaltungsveranstaltungen« musste man im Lockdown also verzichten. Und hier wären wir schon beim Kern des Transformationsprozesses zu einer #neuenRelevanz: Welchen Hirnen fallen solche Aufzählungen und Verbindungen ein? Welche Frauen gehen zu Unterhaltungszwecken ins Bordell? Diejenigen, die dort – teilweise unter Verschleppung und Zwang – Sexarbeit ausüben? Soviel zur Relevanz von Kultur in der größten Krise seit Jahrzehnten. Nachzulesen in einer simplen Aufzählung. Kunst und Kultur haben schlichtweg nicht die Relevanz, die sich die meisten Kulturschaffenden wünschen.

Und auch in der »Kulturnation« Österreich findet der kulturelle Sektor, Anziehungspunkt für Millionen Tourist*innen und somit wichtiger Wirtschaftsfaktor, der Millionen an Wertschöpfung in Hotellerie, Gastgewerbe, Transport und Handel bringt, nicht die gewünschte Wertschätzung. Mit eisernem Willen haben die Salzburger Festspiele in einem nahezu festivallosen Sommer 2020 Flagge bewiesen und ein »Hurra, wir leben noch!« in die Welt gerufen.

Ein ähnliches »Hurra, wir leben noch!« war auch vor 76 Jahren in den zerbombten Städten Wien und Berlin zu vernehmen: Burgtheater und Staatsoper wurden in Windeseile wiederaufgebaut. Im Berliner Schloss fanden kurz nach Kriegsende wieder Kunstausstellungen statt. Am 30. April 1945 nahm das Burgtheater den Spielbetrieb in der Ersatzspielstätte Ronacher wieder auf. Theater, Opern- und Konzerthäuser sind noch nie so lange stillgestanden wie jetzt. Für das Publikum hat Kultur Relevanz. Weil sie Hoffnung ist. Sinn gibt. Und zu Reflexion und persönlicher Entwicklung einlädt.

Money, Money, Money: Digitale Angebote bringen kaum Geld

Der analoge Kulturbetrieb aus Theatern, Opern, Konzertsälen und Museen, aber auch die Clubszene und viele andere kulturelle Veranstaltungen sind in der Pandemie plötzlich digital geworden. Angebote werden gestreamt, neue digitale Formate entwickelt und selbst die Eröffnung des neuen Humboldt Forums ist dank Lockdowns nun plötzlich zu einem digitalen Erlebnis für Menschen aus aller Welt geworden. Die Digitalität ist nicht mehr wegzudenken und sie ist eine Bereicherung. Zumindest für all diejenigen, die über Zugänge verfügen. Fakt ist jedoch auch: Damit ist kein bis kaum Geld zu verdienen.

Nun könnte man eine Verbindung herstellen, indem man Audience Development im Sinne eines Community Buildings mit Digitalisierungsprozessen verbindet. Erweiterter Outreach, neue Zielgruppen erreichen, Teilhabe am Entwicklungsprozess – all dies lässt sich mit digitalen Formen verbinden. Statt den geplanten Abend bloß abzuspielen, muss das Streaming zu eigenständigen digitalen Formaten weiterentwickelt werden. Distance Learning in der Schule gestützt durch Naturkundekurse direkt aus dem Museum, die auch noch Spaß machen?!

Die Teilhabe am künstlerischen Entwicklungsprozess ist digital auch für Menschen möglich, die irgendwo auf diesem Globus sitzen. Mit digitaler Vernetzung lässt sich Perspektivenvielfalt im künstlerischen Entwicklungsprozess viel leichter realisieren, als wenn eine wochenlange Anwesenheit vor Ort nötig ist. Deutungshoheit kann durch digitale Einbindung, Zugriff auf digitalisierte Sammlungsbestände und online-Austausch mit Communitys sehr einfach abgegeben werden. Wow! Und da entsteht dann eine ganz andere Form von Relevanz: Vielstimmigkeit ist möglich, globale Zusammenarbeit, neue Formen der Teilhabe. Diese Vernetzung lässt eine ganz neue Form von Wissen entstehen und bringt Stimmen in einen Prozess ein, der eben nicht nur aus Restitution von Sammlungsbeständen besteht.

Für die meisten deutschen Kulturbetriebe mit niedrigen Eigendeckungsgraden könnte dies eine #neueRelevanz darstellen. Egal, ob bei geöffnetem oder geschlossenem Kulturbetrieb: »The challenge is not whether to build communities or audiences but how to build communities and audiences together« [1] Diese Verbindung mit dem Digitalen wäre eine Möglichkeit ein »how« zu entwickeln – um mit der Disruption durch Corona produktiv umzugehen. Abgabe von Deutungshoheit und Macht durch digitale Teilhabeprozesse in diverse Communities, Herkunftsgesellschaften und Zielgruppen hinein. Weg vom permanenten »Wir zeigen Dir was und wissen wie es geht!«-Denken hin zu einem den*die Besucher*in und Communitys aktivierenden »Trag bei, egal wo du dich befindest! Mit deinem Wissen, deiner Expertise, deinen Erfahrungen und gestalte mit uns etwas Neues!«. Dadurch entsteht Wachstum, dadurch entsteht Entwicklung. Dadurch entsteht Sinn.

Statt Herumlavieren gleich ins direkte Miteinander gehen

Unsere Seelen wollen durch Kunst berührt werden. Und sie wollen durch den Austausch mit anderen Menschen berührt werden. Das hat sich in tausenden Jahren Kunstproduktion und Menschsein nicht geändert. Wenn Künstler*innen über den Globus jetten können, dann können digitale partizipative Angebote und Verbindung von Mensch zu Mensch das auch. Dann diskutieren wir zukünftig nicht mehr die Relevanz von Kunst und Kultur – sondern wir stehen in direktem Austausch mit Communities in Nigeria, China oder Neukölln. Fürs Diskutieren bleibt keine Zeit, weil wir in Verbindung sind mit den Menschen, für die Kultur ohnehin relevant ist, egal ob die Häuser offen oder geschlossen sind. Jenseits von Grenzen: Hauptsache Verbindung.

[1] Borwick, Doug (2012): Building Communities, Not Audiences: The Future of the Arts in the United States. Winston-Salem, S.8

Autorin

Irene Knava ist Expertin für Publikum, Kulturerlebnis und kulturelles Wirkungsmanagement. Sie ist systemische Organisationsberaterin, zertifizierte Qualitätsmanagerin, Trainerin und Lehrbeauftragte an Hochschulen in Österreich und Deutschland. 2019 erschien ihr viertes Buch AUDIENCING Diversity 4.0 – Transformation im digitalen Wandel gestalten und Wirkkraft durch Vielfalt verstärken bei Facultas, Wien. www.audiencing.net

Aufbruch : Vertrauen

30. März 2021

#neue Relevanz trägt zum Aufbruch bei. Quo vadis-Fragen à la »Wie geht es weiter?« oder »Wie möchten wir leben und arbeiten?« sind mir nicht nur in Kunst, Kultur und Politik zu stetigen Begleiterinnen geworden. Eng verbinde ich sie mit dem Leben in Wuppertal, jener Stadt, in der ich seit 2006 lebe. Der Aufbruch wurde ihr schon in die Wiege gelegt, vor und selbst mit Corona: Hier pulsiert er als Stimmung und hatte schon immer viel mit Engagement zu tun. Dazu passen die viel zitierten Worte: »Am schwärzesten Fluss der Welt, der Wupper, lernt man erkennen, welche Menschen leuchten«, die häufig der Wuppertaler Lyrikerin Else Lasker-Schüler zugeordnet werden, nach jüngsten Recherchen vom Theologen Rudolf Bohrer stammen. Diese Zeilen verweisen auf jene Resilienz, wie wir sie als Kunst- und Kulturschaffende gut kennen und wie sie aktuell für alle Menschen immer relevanter werden. Resilienz und Aufbruch: Beide brauchen Vertrauen.

Seit etwa einem Jahr stellt uns die Pandemie vor vielseitige, unerwartete und alles andere als übersichtliche Herausforderungen. Nach dem Erschrecken über die Krise und ihren unüberschaubaren Umfang kam bald die Frage auf, ob sie auch Chance sein könnte. Spätestens diese einschneidende Zäsur lädt uns ein, zum Innehalten, zur Selbstreflexion und zum Umdenken. Mit dem Fokus auf Kulturpolitik und Transformation trägt das Kaleidoskop der Blogreihe #neueRelevanz inspirierend dazu bei, der Stimmenvielfalt und ganz pragmatisch den Hürden und weiterbringenden Perspektiven einen Raum zu öffnen.

Genau dieser vielfältige Wissenstransfer und die weitere Vernetzung unterstützen uns dabei, konstruktiv und sportlich selbstbewusst, wie Katrin Lechler es gefordert hat, um mit der aktuellen Situation umgehen zu können. Klug vorausschauend beschreibt sie, wie existenzbedroht die kulturelle Infrastruktur unter dem Corona-Brennglas dasteht und wie es damit in den Haushalten (ganz besonders in den kommunalen) umzugehen heißt. Ja, mit »Klauen und Zähnen« gilt es, sie zu verteidigen, die dringend wertzuschätzenden und zu würdigenden Potenziale, die in Kunst, Kultur und meiner Ansicht nach auch in der Natur stecken. »Vorausschauendes Handeln« und »lokale Erkenntnisprozesse« sind gefragt. Und so verankere ich mich in meinem ›Quo vadis‹ für #neueRelevanz im Lokalen, in meiner Heimat Wuppertal, einer Stadt im Aufbruch.

Austausch und Aufbruch

Austausch prägt meine Arbeit als freie Dramaturgin. Austausch hat mich in vielfältigen Formationen – überwiegend digital – in und über Wuppertal hinaus durch das letzte Jahr begleitet: So ist gemeinschaftlich der EinTopf – Solidarfonds für Kunstschaffende entstanden oder ist die Sommerakademie für klimagerechte Kulturpolitik der KuPoGe durch verschiedene Orte der Stadt gewandert. Unter der Frageperspektive »Von der Zukunft her?« lud bei letzterer die Kulturwissenschaftlerin und Pionierin im Feld von Ästhetik und Nachhaltigkeit Hildegard Kurt mit einem Zwischenruf dazu ein, sich dem »Vernehmen« zuzuwenden, als eine Abkehr vom Modus des »Verfügens« (nach dem Soziologen Hartmut Rosa). Wie kann eine solche Empfänglichkeit, ein solches Zuhören im Alltag aussehen?

Einen erfrischenden Ausgleich zum Homeoffice und zu stundenlangen digitalen Konferenzen finde ich aktuell in einem In-Bewegung-Sein, einem Lauftreffen zu zweit, jeweils mit Kolleg*innen aus Kunst und Kultur: Dann geht es entweder über einen Waldhügel mitten im Stadtgebiet oder über die Wuppertaler Nordbahntrasse. Letztere ist Zeugnis für ein faszinierendes bürgerliches Engagement, aus dem heraus seit 2010 mit viel Elan und zehn Millionen Euro eine alte Bahntrasse zu einer vielgenutzten Bewegungsstrecke quer durch fast alle Stadtteile ausgebaut wurde. Wie auf einer Perlenschnur reihen sich heute soziokulturelle Projekte und Institutionen an der Trasse auf. Ganz wesentlich ist sie zum Symbol für eine spürbare Aufbruchsstimmung des städtischen Miteinanders geworden.

Resilienz

Über das gegenseitige Zuhören kristallisierte sich »Resilienz« beim Laufen als Thema heraus, mit dem ich mich aus eigener Erfahrung auskenne und das mich bewegt. Der als solcher gut nachvollziehbare Konjunkturbegriff lässt sich auf das lateinische ›resilire‹ (zurückspringen, abprallen) zurückführen. Zieht man das empfohlene aktuelle Philosophie Magazin der Philosophin Svenja Flaßpöhler zu Rate, zeigt sich, dass Resilienz in der Physik die Eigenschaft von Körpern bezeichnet, die nach Verformung durch Außenstörung wieder in den Ausgangszustand zurückzukehren. Widerstandsfähig auf Krisen und auf nachhaltige Belastungen reagieren zu können, sind Eigenschaften, die zentral für eine gesellschaftliche Stabilität sind.

Als freie Kulturschaffende wissen wir gut, dass mit Verlusterfahrungen zugleich ein Wandel einhergeht. Ganz passend zur eigenen Situation als freie Kunstschaffende ist auch das im Magazin von Andreas Reckwitz skizzierte Bild vom Zusammenwirken von Stand- und Spielbein. Es hilft, bei aller Verlustprävention nicht das Spektrum der Möglichkeiten zu vergessen, welches der Kunst mit ihrem kreativen Reflexions- und Entfaltungsraum ganz besonders innewohnt. Seit der Antike unterstützen uns Figuren wie der aus der Asche auferstandene Phoenix oder die Hydra mit ihren nachwachsenden Köpfen darin, Erschütterungen als möglichst innovativ, kreativ und eben transformativ wahrzunehmen. Wie kann nach dem leidvollen letzten Jahr ein Aufbruch (kulturpolitisch) aussehen?

Sicherheit, Freiheit und Vertrauen

Als eine Kollegin und ich gerade durch einen der vielen Tunnel der Nordbahntrasse liefen, kamen wir auf eine im Januar gesendete Folge des Philosophischen Radios (WDR) zu sprechen. Der Moderator Jürgen Wiebicke hatte zum Thema »Vereinbar? Freiheit versus Sicherheit« den Philosophen Christoph Quarch geladen. Dessen These: Mitten in der Corona-Pandemie wird das Verlangen nach Sicherheit und Freiheit ebenso intensiv wie unerfüllbar; beide Zustände sind unerreichbar. Beide flankieren ein extrem geladenes Spannungsfeld. Beide sind zugleich Jahrhunderte alte Bedürfnisse unserer modernen Gesellschaft, wie Quarch prägnant historisch aufrollte. Zuhörer*innenbeiträge kamen auf Vertrauen als wesentliche Kategorie jenseits des Spannungsfeldes von Sicherheit und Freiheit zu sprechen, auf Zugehörigkeit und Verbundenheit. Beim erneuten Zuhören prägte sich mir eine weitere Schlussfolgerung des Gesprächs ein: dass sich wohl das Wesentliche zukunftsweisend in Zwischenräumen abspielt, über Begegnungen, Interaktionen und Kooperationen, wie sie Kunst und Kultur auszeichnen.

In unserer sicher unsicheren Zeit brauchen wir eine (Kultur-)Politik, die erkennt und mehr denn je fördert, dass sich gesellschaftlich so zentrale Werte wie Vertrauen und Zugehörigkeit entwickeln können. Begegnungen und Interaktionen entstehen wesentlich über Kunst und Kultur (und Natur). Genau solche Möglichkeitsräume müssen bewahrt, ausgebaut und entwickelt werden. Lokal hat dies letztes Jahr die Stadtlandkarte »Zukunftslabor Kunst & Stadt. Versuchsanordnung I« mit ihren 13 Beispielorten aus Kunst und Kultur prägnant greifbar gemacht. Genau an solchen Orten setzt die notwendige gesellschaftliche Transformation an. Hier wird Vertrauen aufgebaut.

Transformation

In Wuppertal ist der aktuell häufig benannte Begriff Transformation vielseitig und eigenartig verankert, schon in der Geschichte, über Friedrich Engels oder die Frühindustrialisierung. Das Stadtbild prägt die Schwebebahn, eine verwirklichte Utopie und Wahrzeichen des Fortschritts. Über künstlerische Impulse, über Künstler*innen wie Pina Bausch mit dem Tanztheater Wuppertal, Peter Kowald und andere eigenwillige Pionier*innen wurden Veränderungen eingeleitet, Impulse gesetzt, die Kunst und Kultur weltweit prägen und bis heute den Charme der etwas seltsamen langgestreckten Stadt ausmachen. Aktuell ist neben vielen anderen Utopiastadt als »andauernder Gesellschaftskongress mit Ambition und Wirkung« im alten Mirker Bahnhof ein Beispiel par excellence für transformative Stadtgestaltung.

Vor über zwei Jahren erschien »Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels« von Prof. Dr. Uwe Schneidewind, dem langjährigen Leiter des 1990 eröffneten, weltweit einflussreichen Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Seit November 2020 ist er neuer Oberbürgermeister der Stadt. In seinem Buch erklärt er Wuppertal zur Modellstadt für gesellschaftliche Transformation und betont mit seinem Begriff der »Zukunftskunst« das Potential des Gestaltens in Prozessen gesellschaftlichen Wandels. Seit über 100 Tagen ist er nun Oberbürgermeister, angekommen mitten in der Kommunalpolitik und im – teils wenig Vertrauen spendenden – kommunalpolitischen Gerangel. Sein Zukunftsprogramm#Fokus_Wuppertal hat er kürzlich lanciert und appelliert dabei an das Vertrauen.

Für die anfangs erwähnten »lokalen Erkenntnisprozesse« bleibt spannend, wie sich Transformation ganz konkret weiter ausgestalten wird. Mit »100 Tage Stillstand« zeigt sich die Opposition ungeduldig. Spannend bleibt, was sich mit den begonnenen Transformationen in der Stadtverwaltung entwickelt. Nach »100 Tagen Einsamkeit« für Kunst und Kultur, wie es kürzlich bei Deutschlandfunk Kultur hieß, sei es allerorts oder eben in Wuppertal, ist nun aus kulturpolitischer Perspektive spannend, wie ein ›Quo vadis‹ hier aussehen und gestaltet werden kann. Für alle gilt: Wie sieht es mit Stand- und Spielbein aus, mit Sicherheit und Freiheit, mit dem Zuhören, Vertrauen und jenen so zukunftsweisenden Begegnungs- und Zwischenräumen? Was braucht es ganz konkret? Wie kann zukunftsweisendes Handeln aussehen, konkret in zukünftigen kommunalen Haushalten?

Quo vadis Kunst und Kultur?

Lokal als Start: Vor fast vier Jahren gründete sich in Wuppertal »)) freies netz werk )) KULTUR«. Einen Monat nach den Landtagswahlen in NRW fand der erste Jour fixe einer damals beginnenden Veranstaltungs- und Austauschreihe in der Utopiastadt an der Nordbahntrasse statt. Der aufschlussreiche Input vom kulturpolitischen Reporter Peter Grabowski klingt mit dem Zitat und Appell »Demokratie ist keine Zuschauerveranstaltung« noch aktiv nach. Einiges hat sich seither getan. Im letzten Spätsommer wurden mitten im NRW-Kommunalwahlkampf im multikulturellen Café ADA / INSEL e.V. die Oberbürgermeister-Kandidat*innen der Stadt zu Themen von Kunst und Kultur befragt, eingeladen von Zusammenschlüssen städtischer Kunst- und Kulturakteur*innen, von fnwK und EinTopf – Solidarfonds für Kunstschaffende.

So wie es die Pandemie im spätsommerlichen Lockdown-Fenster zuließ, fanden sich Vertreter*innen aus Kunst & Kultur, Verwaltung, Politik und Presse zusammen oder nahmen über das Streamingportal Stew.one teil. Als eine Art Sprungbrett für die lokale »Kunst befragt Politik«-Runde gab es eine NRW-weite Aktion vom Landesbüro Freie Darstellende Künste, die OB-Kandidat*innen aus verschiedenen Städten NRW bat, sich über kurze Statements deutlich zur Kunst- und Kulturszene, zu ihren Themen und ihrer Relevanz zu positionieren. Noch heute sind die Clips über Kunstvorort.nrw online und wie das ›Quo vadis‹-Graphic Recording (das demnächst in die neue OB-Amtsstube wandern wird) Zeugnisse von dynamischen und lebendigen Austauschprozessen. Genau diese sind im Spannungsfeld von Kunst, Kultur, Verwaltung und Politik notwendig, um Fragen und Themen auszuhandeln und Impulse für aussagekräftige und zukunftsweisende Prozesse setzen zu können. So kann Vertrauen wachsen.

Bundesweit ist die Aktion 40.000 seit einigen Jahren mit Gesprächen zwischen Kunstschaffenden und Politiker*innen unterwegs. Um nicht in der eigenen Bubble zu verharren, macht es Sinn, die Dialoge nicht nur mit Kulturpolitiker*innen zu führen, die sich meist gut auskennen, sondern mit Politiker*innen aller Ressorts. Auch hier entstehen Verständnis und Vertrauen, um möglichst konstruktiv die Relevanz von Kunst & Kultur und Arbeitsrealitäten in die Haushalte zu tragen, sei es auf kommunaler, auf Landes- oder Bundesebene. Beispiele entpuppen sich als Ergebnisse.

Aufbruch kann gesellschaftlich erst durch ein Miteinander geschehen, gegenseitiges Zuhören, ein sich Vernehmen und Verständigen. Das kennen wir alle und doch ist es aktueller denn je. Ganz konstruktiv hängen Resilienz und Vertrauen eng zusammen: Kunst & Kultur brauchen Stand- und Spielbein zugleich, Sicherheit und Freiheit. Wie wollen wir leben? Für einen gesamtgesellschaftlichen Aufbruch mit der dringend notwendigen großen Transformation ist ein Vertrauen gefragt, das alle mitgestalten können. Aufbruch: Vertrauen: Was braucht es?

Autorin

(c) Ralf Silberkuhl

Dr. Uta Atzpodien (*1968) ist Dramaturgin, Kuratorin und Autorin und engagiert sich mit transdisziplinären (künstlerischen) Impulsen für einen gesellschaftlich nachhaltigen Wandel und eine kreative Stadtentwicklung. Promoviert hat sie mit »Szenisches Verhandeln. Brasilianisches Theater der Gegenwart« (transcript 2005). Seit 2006 lebt sie in Wuppertal, hathier)) freies netz werk )) KULTUR mit gegründet und ist u.a. Mitglied vom und.Institut für Kunst, Kultur und Zukunftsfähigkeit.

Kunst kann Barrieren versetzen

25. März 2021

Die Kunst brauche ich wie ein Fisch das Wasser. Einige Jahre hat es mich gekostet herauszufinden, weshalb das so ist. Weshalb es für mich keine andere Möglichkeit gab, als Künstlerin zu werden. Lange glaubte ich, ich könnte nur durch eine soziale Tätigkeit die Inklusion von Menschen wie mir verbessern, für meine Rechte als Frau mit Behinderung einstehen. Vor meiner Zeit an der Akademie der Bildenden Künste München war ich blind für die Rolle der Kunst im Zusammenhang mit Behinderung und Inklusion. Ich war den offensichtlichen Weg gegangen und hatte mich verirrt. Das Studium der sozialen Arbeit wurde zur Sackgasse. Ich erlebte die meiste Diskriminierung und Ausgrenzung genau dort, wo ich es am wenigsten erwartete: Unter Sozialarbeiter*innen und solchen, die es werden wollen. Unter diesem Druck brach ich mein Studium ab, kehrte zur Kunst zurück.

Die Kunst, der Mensch als kulturelles Wesen und das Thema Behinderung stehen im Inklusionsdiskurs in einem engen Bezug zueinander.

Weshalb schafft Kunst eine Brücke in eine inklusive Welt, die dennoch so utopisch und fern erscheint? Welche Rolle nehmen Künstler*innen mit Behinderung hierbei selbst ein und welche Aufgaben müssen der Kulturpolitik zugeschrieben werden?

Ich erinnere mich noch sehr genau an meine Anfänge an der Akademie der Bildenden Künste. Voller Ungläubigkeit, aber auch mit einer großen Portion Verbitterung war ich damals aufgenommen worden. Mit all meinen diskriminierenden Erfahrungen aus dem Sozialarbeitsstudium im Gepäck kam ich an und zweifelte an meiner Entscheidung, mich der Kunst hinzugeben: »Wie komm ich bloß dazu, Kunst zu studieren? Wieso habe ich alles hinter mir gelassen, um Künstlerin zu werden?«.

Schon zu meinen Förderschulzeiten hatte man mir mit der Kunst keine rosige Zukunft vorausgesagt. Meine übermäßige Ehrfurcht und Respekt vor diesem Ort spiegelten sich auch in dem wider, was ich damals von der Kunst und mir selbst hielt. Eine Mischung aus »Wahnwitzig, sein Hobby zum Beruf machen zu wollen« und »Was habe ich als behinderter Mensch schon zu verlieren?«.

Zunächst musste ich mich also einleben und meinen Platz an der Akademie, in einem kleinen Universum voller Freigeister, Provokateur*innen und voller Andersartigkeit finden. Meine Behinderung trat in dieser Welt schnell in den Hintergrund, denn ich war nichts Besonderes mehr, lediglich eine von vielen Verschiedenen. Und obwohl ich mich in meinen Arbeiten mit meiner Behinderung beschäftigte, erhielt ich überwiegend Aufmerksamkeit für meine Fertigkeiten. Von Kindesbein an hatte ich mich über meine Behinderung definiert und wollte ein Augenmerk auf meinen politischen Kampfgeist legen.

Doch niemand interessierte sich für meine defizitäre Selbstwahrnehmung oder meine politischen Absichten.

Was mir zunächst unheimlich widerstrebte, wurde später zum Schlüssel dafür, was ich heute über mich, meinen Körper, aber vor allem über mein Leben als Künstlerin mit Behinderung denke.

Mein Kunststudium befreite mich gewissermaßen davon, mich selbst um das immerwährende Thema meiner Behinderung zu drehen. Meine Behinderung, zentrales Merkmal meiner selbst, abzuschaffen, ist mir durch meine künstlerische Tätigkeit gelungen. Was in den Fokus geriet, war mein Können, weil meine Behinderung zur Selbstverständlichkeit wurde. Mein Alleinstellungsmerkmal war plötzlich nicht mehr mein Körper mit seinen Defiziten, sondern meine künstlerische Tätigkeit.

Und genau das ist es, was die Kunst zu so einem starken Mittel gegen all die toxischen Vorurteile über Menschen mit Behinderungen macht. Vor dem Hintergrund der Ressource, die Kulturschaffende mit Behinderungen mitbringen, tritt die Behinderung in den Hintergrund. Der Mensch hinter der Behinderung wird sichtbar.

Sichtbarkeit öffnet Türen in das Verständnis jener Menschen, die keine Berührung mit dem Thema Behinderung haben.

Ein gutes Beispiel hierfür ist, dass mein Nummer-eins-Eisbrecher meine Homepage ist. Lerne ich jemanden kennen, der*die mir gegenüber Berührungsängste zeigt, ist meine Homepage ein wahres Heilmittel. Ein kurzer Blick auf meine Leidenschaft und mein Gegenüber begreift, dass es keinen Grund gibt, mich zu bemitleiden: Es gibt hinter meinem Erscheinungsbild plötzlich mehr als das eindimensionale und flache Bild einer Behinderung.

Die Sängerin mit Glasknochen und der Schauspieler mit Downsyndrom wären also ein wahrer Katalysator für ein neues Menschenbild. Es ginge dann beispielsweise um deren Musikalität oder darum, dass der Schauspieler die Rolle eines erwachsenen Familienvaters spielen könnte, ohne dass sein Downsyndrom zwingendermaßen Inhalt seiner Rolle sein muss. Die Kunst ist also durchaus in der Lage, Einblicke in den tatsächlichen und wahren Alltag dieser Menschen zu geben. Frei vom »Behindertenfilter«, der sich auf alles legt und vom ersten Augenblick an die Wahrnehmung verzerrt!

Während im sozialen Bereich immer noch allzu oft ein medizinischer Blick von oben auf Menschen mit Behinderung geworfen wird, könnte man unter Kulturschaffenden gerade jetzt Morgenluft schnuppern.

Die Vernetzung von Künstler*innen mit Behinderung und Institutionen nimmt zu. Das Selbstbewusstsein von Menschen mit Behinderungen wächst und die sozialen Medien richten ihre Aufmerksamkeit immer stärker auf sie. Es wirkt geradezu, als würde die Stunde der Behindertenbewegung schlagen, weil die Solidarität untereinander ebenfalls steigt. Es täte sich also was!

Wäre da nicht dieser täuschende Konjunktiv. Haben Sie ihn bemerkt? Er hat sich über die letzten Abschnitte hinweg eingeschlichen. Denn in den ausschlaggebenden Punkten hinken wir noch immer hinterher. Das Attribut ›inklusiv‹ geht zu leicht über die Lippen und bedeutet eben nicht ›all inclusive‹. Die Trägheit der Barrieren scheint schier endlos, sie selbst: stählern und betonschwer. Der Hype um Inklusion hat keinen langen Atem, denn die Mühe muss ernst gemeint sein! Die Kluft zwischen dem Selbstverständnis von Menschen mit Behinderungen und der Anpassung ihrer Umwelt wird immer größer.

Nirgends bin ich auf mehr Offenheit, Bereitschaft an Veränderung mitzuwirken und auf Verständnis getroffen als im Kunstkontext.

Leider reine Glückssache, denn oft hängt der gute Wille an Einzelpersonen. Die Benachteiligungen, behindert und Künstlerin zu sein, wiegen doppelt schwer. Viele Menschen, die eine Behinderung haben, sind gewohnt, sich im Alleinkampf ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben aufzubauen. Eine unterstützende Familie, Bildung und finanzieller Rückhalt sind dabei absolute und entscheidende Privilegien, über die nur wenige verfügen. Genau hier muss sich politischer Einsatz noch deutlicher zeigen. Denn der Wille seitens der Institutionen zeigt sich durchaus! Aber eben viel zu selten.

Künstlerin mit Behinderung zu sein, birgt also ein großes Gefühl der Unsicherheit, fordert viel Mut und kommt mir manchmal geradezu dekadent vor. Seinen Traum durchzusetzen, benötigt Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, das mehr Zuspruch und weniger Bürokratie verlangt. Denn die Untiefen der Kunst bergen unfassbares Potential und viel Raum für noch viel mehr Inklusion!

Autorin

Katrin Bittl ist Studentin an der Akademie der bildenden Künste in München. Neben ihrer künstlerischen Tätigkeit schreibt sie Kolumnen für Raúl Krauthausen, hält Vorträge zum Thema Kunst und Inklusion und verwirklicht eigene Projekte und Malworkshops in Zusammenarbeit mit den Netzwerkfrauen-Bayern.

»There is a crack in everything – that’s how the light gets in« (Leonard Cohen)
Neue Kollaborationen für den Kulturbetrieb

23. März 2021

Zum Ende des Corona-Jahres 2020 erreichte uns die Frage: »Welche Kollaborationen wünscht ihr euch für die Zukunft?« Wir, das ist die Initiative And She Was Like: BÄM!, die sich für einen intersektionalen Feminismus, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Solidarität einsetzt. Was also sind »Kollaborationen« für uns und wie sollen diese künftig aussehen? Und zunächst vielleicht: Was bedeutet überhaupt der gerade in jüngster Zeit oft gelesene und gehörte Begriff für den Kulturbetrieb?

Tatsächlich handelt es sich ursprünglich um eine Bezeichnung aus der Kriegsrhetorik, der die strategische Zusammenarbeit mit einer feindlichen Partei beschreibt, sodass wir uns nun eigentlich zuallererst fragen müssen: Wer sind diese vermeintlichen Feind*innen? Wer soll sich verbünden? Oder besser: Wie können wir Kollaborationen als Mittel gegen Feindschaft und Konkurrenz einsetzen? Denn als feministische Initiative und als Akteur*innen im Kunst- und Kulturbetrieb wünschen wir uns, dass dieser offener, durchlässiger und transparenter wird. Wir wünschen uns, dass die Institutionen, die Kunst- und Kultur präsentieren, ihre Aufgabe als öffentlich getragene Häuser ernst nehmen – und damit in Programm, Publikum und eigenem Personal die Gesellschaft repräsentieren, die sie trägt.

Doch auch wir sehen durch das Brennglas, das die Pandemie auf herrschende Missstände im Kulturbetrieb gelegt hat. Bereits existierende Konkurrenzverhältnisse wurden verstärkt, prekäre Bedingungen verschärft – und eine Verbesserung der Lage ist vorerst nicht in Sicht. Wie wollen wir also zukünftig im und als Kulturbetrieb zusammenarbeiten, um mehr Verständnis und Akzeptanz zu erzeugen, um uns gegenseitig und somit den Kulturbetrieb insgesamt zu stärken?

Seit dem Bestehen von And She Was Like: BÄM! (2015) haben wir mit vielen vermeintlich gegensätzlichen Akteur*innen gearbeitet, auf Podien diskutiert, Weiterbildung betrieben, Texte und Magazine publiziert, Stammtische, Workshops und Abendschulen veranstaltet, also kurz »kollaboriert«. Unser Ziel dabei ist es stets, Orte zu erproben und Räume zu eröffnen, in denen ein offener Austausch stattfindet, der uns inspirieren, uns verändern und uns vom Denken zum gemeinsamen Handeln bringen kann. Aus unseren eigenen Erfahrungen der letzten Jahre können wir nur Eins fordern: Lasst uns mutig sein und unterschiedlichen Stimmen zuhören!

Die institutionell geförderten Häuser, den Menschen in ihrer Stadt, die Akteur*innen in diesen Häusern, jenen in der sogenannten freien Szene, die Kulturpolitik, den Vereinen und Initiativen, lokale Künstler*innen, jenen, die neu hinzukommen, Feminist*innen der ersten Stunde, jenen, die heute aktiv sind – es gibt so viel Wissen zu teilen und so viele Möglichkeiten, daran zu wachsen!

Kultur der Konkurrenz

Noch vor wenigen Jahrzehnten befand sich der Kunst- und Kulturbetrieb fest in der Hand weißer, heteronormativ geprägter cis-Männer. Vieles hat sich seither verändert und ist in Bewegung geraten. Eine Kulturlandschaft ganz ohne Frauen in entscheidenden Positionen kann sich heute glücklicherweise kaum noch jemand vorstellen.

Wenngleich Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, Gender-Pay-Gap und Sexismus immer noch traurige Aktualität haben und wir zukünftig an vielen kleinen und größeren Rädern werden drehen müssen, bedeutet tatsächliche Gleichstellung jedoch noch viel mehr als eine Männer-Frauen-Balance. Unsere Gesellschaft besteht aus Personen mit wesentlich komplexeren Identitäten als der Binarität männlich-weiblich, sie ist geprägt von unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven. Um diese Gesellschaft zusammen zu halten und gerechter zu machen, müssen wir Wege finden, diese Diversität anzuerkennen und zu vermitteln. Eine lebendige, aktive, visionäre Kunst- und Kulturlandschaft kann nur entstehen, wenn nicht eine relativ kleine und homogene Gruppe von Menschen »Kultur für« eine sehr viel größere und sehr viel heterogenere Gruppe macht. In der Zukunft hat daher Intersektionalität #neueRelevanz.

Kernproblem: Das eigene Haus

Genauso wie ein erfolgreicher Feminismus kein Kampf von Frauen gegen Männer sein kann, kann die Forderung nach Teilhabe und Diversität nicht auf Konkurrenzkämpfen beruhen. Genau dies scheint jedoch ein Kernproblem zu sein. Eine Studie zur Relevanz und Umsetzung von Diversität in 262 vom Land geförderten Kulturinstitutionen NRW zeigte 2019, dass Diversität zwar als wichtig erachtet wird, Anspruch und Realität in vielen Fällen jedoch weit auseinanderklaffen. Ausgerechnet bei den eigenen Strukturen bleibt man zögerlich und so wird Kultur an den entscheidenden Positionen weiterhin größtenteils von Menschen gemacht, die zur Mehrheitsgesellschaft gehören. 

Warum ist das so? Die Erklärung scheint gerade in der aktuellen Situation auf der Hand zu liegen: Neben den prekären Arbeitsbedingungen im Kulturbetrieb und dem daraus entstehenden kapitalistisch geformten Konkurrenzdruck, der Solidarität verhindert und Akteur*innen vereinzelt, liegt es möglicherweise auch in einem Ausschluss nicht-eigener Perspektiven. In einem Kulturbetrieb, der von Akteur*innen getragen wird, deren Fokus schon allein bedingt durch die universitäre und akademische Ausbildung ein eurozentrischer ist, bedeutet Diversität auch eine Verschiebung dessen und möglicherweise eine Marginalisierung der eigenen Perspektive und Expertise. Die im Verborgenen wirkenden Ablehnungsmechanismen gründen auf der Angst, dass sowieso schon begrenzte Ressourcen, wie zum Beispiel Fördermittel, mediale Aufmerksamkeit oder Publikum geteilt werden müssen, auf der Angst, dass das eigene Wissen an Bedeutung verliert. Der fehlende Mut, eigene Privilegien und die Deutungshoheit abzugeben, verstellt auch hier, wie in so vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen, den Blick auf das Potential von Veränderung.

Kollaborationen der Zukunft

Unsere Forderung nach mehr Offenheit geht deshalb dringend einher mit der Forderung, unseren Blick auf die Chancen zu richten. Was wäre, wenn nicht nur die Programmabteilung des Konzerthauses Stücke aussuchen würde, sondern auch Mitarbeiter*innen und Musiker*innen? Oder wenn ethnologische Museen in Deutschland sich bei den zahlreichen migrantischen Selbstorganisationen darüber erkundigen würden, wie die nächste Dauerausstellung zu gestalten sei?

Stellen wir uns vor, in den Theatern würden divers besetzte Teams, ganze Ensembles, ihre Intendant*innen, Regisseur*innen und Autor*innen gemeinsam Stücke auf die Bühne bringen, die nicht ausschließlich zu einer weißen, europäischen Identitätskonstruktion gehören, sondern auch solche, die für andere Teile der Bevölkerung maßgeblich Kulturgeschichte geprägt haben. Wie sähen die Theater, Museen, Konzerthäuser, die Archive und Bibliotheken der Zukunft aus und wer würde sie besuchen? Welche Institutionen, Netzwerke und Räume gäbe es, die wir heute noch gar nicht denken können?

Unser Wunsch ist es, dass wir diese Potenziale erkennen und nutzen. Wir plädieren also für Risse und Öffnungen, für ungewöhnliche Gespräche, ungeahnte Begegnungen, formellen und informellen Austausch, für das Hereinlassen vieler unterschiedliche Perspektiven – voller Vertrauen darin, dass nur gemeinsam etwas Neues entstehen kann.


Autorinnen

Foto: Nelly Gawallek
Foto: Mehdi ben Salem

Nelly Gawellek ist Kunsthistorikerin und seit 2019 im Vorstand von And She Was Like: BÄM!.

Katharina Klapdor-Ben Salem ist Kulturanthropologin und gehört seit 2018 zum Team von And She Was Like: BÄM!.

And She Was Like: BÄM! ist eine queer-feministische Initiative, die im Bereich Kunst und Design agiert und sich mit Formaten und Veranstaltungen zu (Selbst-)Bildung und Austausch für Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Solidarität einsetzt. Dieses Engagement ist untrennbar verbunden mit einer antirassistischen, dekolonialen Haltung. 

And She Was Like: BÄM! richtet sich an Frauen*, an Menschen, die sich als Frauen*, queer, non-binary und transsexuell definieren, mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und Erfahrungen. BÄM! steht für einen intersektionalen, diversen Feminismus, der Geschlechter verbindet. Grundlage, um von Gender-Grenzen unabhängige Entscheidungen zu treffen, ist der freie Zugang zu Bildung, finanzielle Unabhängigkeit und ein solidarisches Umfeld. Mit Abendschulen, Stammtischen, Talks schafft BÄM! Formate, die nachhaltig Netzwerke aufbauen, um Frauen* sichtbar zu machen und gemeinsam ins Handeln zu kommen.

Wie Kulturpolitik antirassistisch(er) handeln kann!

18. März 2021

Die Initiative für Solidarität am Theater (ISaT) gründete sich 2017 aus dem Bedürfnis heraus, bestehende Ungleichverhältnisse und hierarchische Machtstrukturen im Theaterkontext anzusprechen und gemeinsam zu bekämpfen. Die ISaT versteht sich als ein intersektionales[1] Bündnis, das zum Ziel hat, strukturelle Ausschlussmechanismen zu identifizieren, Räume für Austausch, auch über Disziplingrenzen hinaus, zu schaffen und dadurch der vielfach gemachten Erfahrung von Vereinzelung entgegenzutreten.

Dabei ist das zentrale Anliegen die Thematisierung von Mehrfachdiskriminierungen im Theaterbereich, sowohl in der Freien Szene wie im Stadt- und Staatstheater. So möchten wir die zumeist getrennt voneinander geführten Debatten der letzten Jahre, u.a. #metoo oder #BlackLivesMatter, als zusammenhängende Symptome einer strukturell ungleichen Gesellschaft betrachten. Als besonders hilfreich erscheint uns die Betrachtung gegenwärtiger Diskriminierungsformen im Kulturbereich vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte. Wir sehen hier keine lineare Entwicklung, sondern vielmehr ein komplexes Knäuel an Verstrickungen.

Wie hat sich die Kunst- und Kulturpraxis in Deutschland entwickelt?

Entlang welcher Linien, mit welchen Verästelungen und basierend auf welchen Werten und Erzählungen?

Im musealen Kontext finden vermehrt Restitutionsdebatten statt und in den Bildenden Künsten werden zunehmend Fragen von Aneignung und Zuschreibungen gestellt. In unserer Arbeit in den Darstellenden Künsten beschäftigen wir uns mit kolonialen Kontinuitäten[2], die sich im ästhetischen Verständnis, Erzähltraditionen, Körperbildern und anderem zeigen.

Für uns stellen die meist separat geführten Debatten um Rassismus, Sexismus, Ableismus und Audismus, Transfeindlichkeit et cetera die rein fragmentarische Auseinandersetzung mit einem eigentlich zusammenhängenden Problem[3] dar, nämlich dem kolonialen Erbe, das sich im Kulturbereich in der Ausbildungs-, Arbeits- und Kurationspraxis zeigt. Hier werden koloniale Praktiken auch im Ästhetischen fortgeschrieben: Menschen in privilegierten Positionen entscheiden, wer am Kunstproduktionsprozess beteiligt ist und in welcher Funktion. Sie entscheiden, welche Themen behandelt werden und auf welche Weise das geschieht, mit welchen Mitteln, und an wen sich die Ergebnisse richten.

Wenn wir uns also mit antirassistischem Handeln befassen wollen, müssen wir überlegen, wo rassistisches Denken seinen Anfang nahm: Im nationalistischen Denken, das Menschen aufgrund einer vermeintlichen Herkunft bestimmte Wertigkeiten und Fähigkeiten zuschreibt und ausgrenzt. Antirassistisch handeln heißt daher, nationalistischen Denkweisen, Zuschreibungen und Ausgrenzungen kritisch zu begegnen.

Koloniale Bestrebungen funktionierten über nationalistisches und rassistisches Denken: Ziel war die Beherrschung anderer Menschen, die aufgrund konstruierter Merkmale[4] und vorurteilsbehafteter Behauptungen als weniger wert angesehen wurden und denen die Möglichkeit, eigene Entscheidungen für ihre Lebensgestaltung vorzunehmen, genommen wurde.

Koloniale Herrschaft funktionierte auch über die Separierung marginalisierter Gruppen

Eine Solidarisierung von unterdrückten Gruppen wurde verhindert, damit sie nicht gemeinsam gegen die Herrschenden rebellieren. Diese Teile- und Herrsche-Praxis wird im kulturellen Bereich oft reproduziert. Wir meinen damit: Anstatt sich der strukturellen Ungleichheitsbedingungen anzunehmen und diskriminierende Ausgangssituationen zu verändern, fördern kulturpolitische Akteur*innen und Kulturinstitutionen einzelne Positivbeispiele, die sie als Tokens[5] in den Kulturbetrieb integrieren.

Oder es werden Positionen ohne direkten Bezug zu Deutschland eingeladen, die das Andere darstellen sollen. Dadurch wird die eigene koloniale Geschichte nicht aufgearbeitet und gleichzeitig werden die diversen lokalen und regionalen Stimmen vor Ort mit pluralen deutschen Hintergründen außer Acht gelassen.

Um diese Dynamiken zu überwinden, muss die Sichtbarkeit von marginalisierten Personen, von Menschen, die Mehrfachdiskriminierungen erfahren, in den kulturpolitischen Strukturen verankert werden. Eine fortlaufende Präsenz von Menschen mit Marginalisierungserfahrungen muss gewährleistet werden – auch über kulturpolitische Trends hinaus. Wenn sich marginalisierte Personen durch die Erzählung von einem Ressourcenmangel (z.B. bei der Kulturförderung) gegeneinander ausgespielt werden beziehungsweise sich gegeneinander ausspielen lassen, erfüllen sie die ihnen zugedachte Objektposition.

Es gibt nicht DIE Kulturpolitik

Aus unserer Perspektive können wir durch unsere Handlungen alle kulturpolitische Akteur*innen sein oder werden. Kulturpolitik entsteht, wenn sich Menschen mit spezifischem Wissens- und Erfahrungshintergründen kulturpolitisch engagieren beziehungsweise kulturpolitische Verantwortungspositionen übernehmen. Von denjenigen, die (temporär) Entscheidungsgewalt über Strukturen und Finanzen haben respektive eine diskursiv machtvolle Position bekleiden, wünschen wir uns folgende Maßnahmen beziehungsweise Berücksichtigung folgender Aspekte, um Transformationsprozesse im Kulturbereich machtkritisch, diskriminierungssensibel und diversitätsorientiert gestalten zu können:

Echte Teilhabe ermöglichen

Das bedeutet: Zugänge schaffen und Handlungsmöglichkeiten geben. Können Menschen, die Marginalisierung(en) erfahren, Verantwortung übernehmen? Wird ihnen der Raum gegeben, zu scheitern und es erneut zu versuchen? Gegebenenfalls erneut zu scheitern?

Unterschiedliche Formen von Wissens- und Kunstproduktion anerkennen

Das umfasst auch das Zulassen unterschiedlicher Auffassungen von Ästhetik sowie einen kritischen Blick auf vermeintlich allgemeingültige Gütestandards und einen hegemonialen Qualitätsbegriff. In diesem Kontext bedeutet das auch: Singuläre Erzählungen vermeiden. Marginalisierte Menschen nicht auf einfache Identitätsmarker wie »migrantisch«, »Schwarz«, »mit Fluchterfahrung« reduzieren, sondern ihre komplexen Biografien wertschätzen.

Differenziert auf Arbeitsbedingungen schauen

Zentral ist hier die Frage nach Zugängen zum Kulturbereich: Welche Voraussetzungen müssen Akteur*innen erfüllen, um teilhaben und mitgestalten zu können? Wer kann es sich leisten und wünscht sich überhaupt, unter prekären Bedingungen zu arbeiten? Warum werden Ergebnisse und nicht Prozesse hervorgehoben? Welche Instrumente stehen für Konfliktlösung und die Thematisierung von Ausgrenzung und Diskriminierung zur Verfügung?

Den eigenen Handlungsspielraum nutzen

Das bedeutet: Ausschreibungstexte inklusiv gestalten, Anforderungen reflektieren, Jurybesetzungen diverser gestalten und alle Mitarbeitenden, auch in der Verwaltung, regelmäßig schulen. Altbewährtes infrage stellen. Formate überdenken und die Diversifizierung des eigenen Personals über einen längeren Zeitraum planen, begleiten und auswerten.

Eigene Privilegien reflektieren

Dazu gehört auch, die eigenen Ressourcen ehrlich und kritisch zu benennen. Zugänge schaffen für andere, Privilegien teilen beziehungsweise auf diese verzichten und dadurch die kulturelle Teilhabe für einen größeren Anteil der Bevölkerung ermöglichen.

Dekoloniale Praktiken entwickeln

Darunter verstehen wir auch eine Entschleunigung von Arbeitsprozessen, gegenseitige Wertschätzung und den Abbau von Konkurrenzdruck. Zudem müssen Künstler*innen die kapitalistische Verwertungslogik und die Praxis der Hyperindividualisierung, die auch den Kulturbereich auszeichnet, in einem selbstkritischen Prozess reflektieren: Wo werden Positionen und Arbeitsschritte unsichtbar gemacht und tragen somit zu Ungleichheit und Ausbeutung bei?

Also: Wie kann Kulturpolitik antirassistischer handeln?

Durch die Unterstützung und Förderung unterschiedlicher und bislang weniger vertretener Perspektiven. Durch Öffnungsprozesse und Schaffung von Zugängen, damit kulturpolitische Entscheidungsträger*innen und einflussreiche Positionen im Kulturbereich diverser besetzt werden und differenzierte Haltungen einnehmen können. Durch Infragestellung bisheriger Praktiken und die Entwicklung von neuen, die historische Verantwortung übernehmen. Durch diese Veränderungen wird Kulturpolitik nicht nur gleichberechtigter, sondern kann auch die Pluralität unserer Gesellschaft(en) auch in Theater und Kulturlandschaft zum Ausdruck kommen.


[1] In diesem Text finden sich einige Begriffe, die wir in unserer Arbeit und Kommunikation regelmäßig gebrauchen. Als einen Orientierungsrahmen schlagen wir das Glossar Was tun? Sprachhandeln – aber wie? der AG Feministisch Sprachhandeln vor.

[2] Für eine tiefer gehende Beschäftigung mit dem Themenbereich empfehlen wir wärmstens: Ha ,Kien Nghi / al-Samarai, Nicola Lauré / Mysorekar,Sheila (Hrsg.) (2016): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster: UNRAST6.

[3] Zur vertiefenden Auseinandersetzung verweisen wir auf ein Interview mit Asha Rajashekhar, das 2020 in der Deutschen Gehörlosenzeitung erschienen ist.

[4] Zu Rassismus und seiner Funktionsweise in der Gesellschaft vgl. Auma (Eggers), Maureen Maisha (2017): »Rassismus«, Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier Migration, online.

[5] Es gibt keine direkte Übersetzung ins Deutsche, daher hier die Verlinkung zu einem Artikel, in dem sich die Journalistin Azadê Peşmen damit befasst, erschienen im Missy Magazine.

Autorinnen

Die INITIATIVE für SOLIDARITÄT am THEATER (ISaT) gründete sich 2017 aus der Notwendigkeit heraus, fortwährenden Ungleichbehandlungen und Diskriminierungen im Theaterbereich entgegenzutreten. Die Kolleg*innen, Verbündete und Freund*innen wollten sich eindeutig gegen die Ansicht positionieren, bei diskriminierenden Vorfällen handele es sich immer um Einzelfälle und persönliche Betroffenheit. Sie engagieren sich dafür, die zugrundeliegenden ungleichen Strukturen sichtbar zu machen und machtkritische, diskriminierungssensible und diversitätsorientierte Transformationsprozesse anzustoßen. Dabei ist es ein zentrales Anliegen, Arbeitszusammenhänge und vor allem Arbeitsbeziehungen in den Darstellenden Künsten neu zu denken und neue Räume für Aushandlungen sowie neue Strategien für einen kollaborativeren Umgang zu generieren. Ziel der ISaT ist auch eine höhere Präsenz von unter- respektive fehlrepräsentierten Menschen in den Darstellenden Künsten und letztendlich ein angstfreier Theater-Raum.

Foto: privat

Melmun Bajarchuu

bewegt sich in den Grenzbereichen von Kunst, Theorie und Politik als Denkerin, Diskurspartnerin, Dramaturgin und künstlerische Produktionsleiterin mit besonderem Interesse an poststrukturalistischen, postkolonialen und queerfeministischen Themen und Positionen. Daneben forscht sie zu mikropolitischen Widerstandspraktiken in den Darstellenden Künsten, Erinnerungspolitiken und Wissensproduktion aus marginalisierten Perspektiven und engagiert sich in der Initiative für Solidarität am Theater (ISaT). (Künstlerische) Zusammenarbeit mit Forscher*innen, Theatermacher*innen, Künstler*innen im Bereich Performance, Zeitgenössischer Tanz und Neuer Zirkus. Sie studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft in Hamburg und arbeitet als Produktionsleiterin und Beauftragte für diskriminierungssensible Transformationsprozesse an den Sophiensælen in Berlin und ist Peer-to-Peer Beraterin im Bereich Antidiskriminierung beim Performing Arts Programm Berlin (PAP).

Foto: me

Mona Louisa-Melinka Hempel

(Deutschland/Chile) ist freischaffende Choreografin, Tänzerin und Performerin für bewegungsbasierte Stücke, basierend auf Identifikation, Identität, südamerikanischem Feminismus, Dekolonisation und der Umstürzung des klassischen Kanons. Sie arbeitet ebenfalls im Bereich Dramaturgie, Installation und als Teil der Initiative für Solidarität am Theater.


Die INITIATIVE für SOLIDARITÄT am THEATER (ISaT) gründete sich 2017 aus der Notwendigkeit heraus, fortwährenden Ungleichbehandlungen und Diskriminierungen im Theaterbereich entgegenzutreten. Die Kolleg*innen, Verbündete und Freund*innen wollten sich eindeutig gegen die Ansicht positionieren, bei diskriminierenden Vorfällen handele es sich immer um Einzelfälle und persönliche Betroffenheit. Sie engagieren sich dafür, die zugrundeliegenden ungleichen Strukturen sichtbar zu machen und machtkritische, diskriminierungssensible und diversitätsorientierte Transformationsprozesse anzustoßen. Dabei ist es ein zentrales Anliegen, Arbeitszusammenhänge und vor allem Arbeitsbeziehungen in den Darstellenden Künsten neu zu denken und neue Räume für Aushandlungen sowie neue Strategien für einen kollaborativeren Umgang zu generieren. Ziel der ISaT ist auch eine höhere Präsenz von unter- respektive fehlrepräsentierten Menschen in den Darstellenden Künsten und letztendlich ein angstfreier Theater-Raum.